1.0 Ein Volk kehrt zurück
Was ist los im Januar 1990? Es geschieht etwas ganz Ungewöhnliches! Niemand kann sich den Grund für eine »Völkerwanderung« mitten in Europa erklären.
Zunächst sind es nur wenige – dann werden es immer mehr.
Bürger, die die Deutsche Demokratische Republik (DDR) im Oktober 1989 verlassen haben in Richtung »GOLDENER WESTEN«, kehren zurück. Männer, Frauen und Kinder, letztere mit ihren Stofftieren auf dem Arm, kommen aus Westdeutschland, wo sie vor kurzem enthusiastisch in Scharen einfielen – voller Glück den Schrei auf den Lippen:
"Wir sind das Volk!"
Hunderttausende der 17 Millionen DDR-Bürger strömten Richtung Westen. Sie rissen die Mauer ein, die ihr Land von Freunden und Bekannten trennte. Sie alle empfanden in diesem Augenblick ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als sie das »Gefängnis DDR« verließen. Sie schrien ihr Glück förmlich aus sich heraus – unfassbar, was passiert war:
Eine friedliche Revolution, ohne jede Gewalt und ohne jedes Blutvergießen.
Nach über vier Jahrzehnten Kommunistenpeitsche unter russischem Oberkommando ergriff die Menschen ein weiteres, für sie völlig fremdes, »abstrakt unwirkliches Gefühl« – sie empfanden ein Gefühl von Freiheit – und das alles nur, weil der russische Präsident Gorbatschow still hielt – er ließ das geknechtete Volk ziehen!
Doch was ist geschehen in den drei Monaten im Westen – seit jenem Tag des Mauerfalls am 09. November 1989?
Sie kommen zurück – nicht mehr den Schrei auf den Lippen: "Wir sind das Volk!" Nein, Männer, Frauen und Kinder verlassen die Bundesrepublik Deutschland (BRD) – zunächst einzeln, dann in kleinen Gruppen – dann zu Tausenden.
Merkwürdig, alles geschieht fast schweigend, kaum einer sagt ein Wort. Gesprochen wird nur das Allernotwendigste. Sie, die Rückkehrer, machen einen sehr bekümmerten Eindruck!
Sie haben sich nicht einmal versorgt mit den tollen Sachen des Westens, von denen sie jahrzehntelang träumten.
Die Menschen kommen auf Fahrrädern, mit ihren Trabbies, in Bussen und mit der Bahn – eine schweigende, still in sich gekehrte Ansammlung von Mitbürgern der DDR.
Wie eine Herde von alleingelassenen Lämmern überschreiten sie, ohne jede Führung, die Grenze zwischen zwei Staaten.
Die Fernsehsender im Westen überschlagen sich mit immer wieder neuen, zum Teil sich widersprechenden Meldungen. Niemand hat eine Erklärung für die jetzige »Völkerwanderung« von West nach Ost – von der BRD zurück in die DDR.
Dann erschüttert eine Nachricht die gesamte Republik, dass bekannte Politiker verschiedener Parteien aus der BRD sich unter das zurückkehrende Volk gemischt haben. Für alle völlig unerklärlich fahren sie in PKWs nach Ostberlin und melden sich gemeinsam im Grandhotel an. Dazu passt ihre Pressemitteilung, die in allen Nachrichtensendern verlesen wird:
"Wir treten von allen unseren Ämtern zurück!"
Das Umwälzende, ja Erschütternde dieser sich schnell verbreitenden Nachricht ist die Tatsache, dass hier Menschen unterschiedlicher Couleur sich im Schulterschluss vereinen und der alten Westrepublik den Rücken kehren – geht es doch um Spitzenpolitiker, ganz unterschiedlicher Parteien und Gruppen!
Die Frage:
Handelt es sich hier um einen noch unstrukturierten und ungeklärten Zusammenschluss mit möglichen Weiterungen für die Parteienlandschaft?
Gibt es hier zwischen den genannten Akteuren bereits Absprachen mit gemeinsamen politischen, ja parteiübergreifenden Zielen?
Jetzt äußern sich auch die Fernsehanstalten auf der ganzen »Welt« erstmals:
"Gibt es unter den 17 Millionen DDR-Bürgern, also den Rückkehrern und den in der DDR Verbliebenen, eine alles verbindende Kraft?
Machen sie alle gefühlsmäßig das Gleiche, ohne miteinander zu kommunizieren?"
Millionen kehren wie unter Zwang zurück in ihr Geburtsland – und es entsteht die Frage:
Gibt es doch ein verbindendes Band unter den 17 Millionen?
Möglicherweise ist die Antwort die Bindung an ihre gehasste und doch auch geliebte Heimat DDR!
Nur wenige Tage später eine erneute, unerwartete, die politische Landschaft der BRD und der DDR erschütternde Meldung:
Zwei weitere Spitzenpolitiker haben alle ihre Ämter in der BRD zurückgegeben. Auch diese beiden Politiker treffen ganz plötzlich in Ostberlin ein.
Was ist den Millionen DDR-Bürgern in den drei Monaten, die sie im »Goldenen Westen« der BRD verbrachten, widerfahren?
Was hat die Menschen veranlasst, so plötzlich in ihre marode DDR zurückzukehren, die in Gedanken überaus hoffnungsvolle Zukunft in der BRD kurzerhand über Bord zu werfen?
Viele Fernsehteams sind mittlerweile in der DDR und Ostberlin eingetroffen, um die Bürger nach ihren Gründen für die Rückkehr zu befragen. Zunächst äußern sich nur wenige, aber gemeinsam ist ihre Antwort:
- wir haben in Westdeutschland nicht das vorgefunden, was wir erwartet haben
- wir haben Angst vor den Westbürgern, wir haben aber auch Angst vor uns selbst
"Wir sind in der DDR jahrelang drangsaliert und von der Stasi (Staatssicherheitsdienst) bespitzelt worden. Man hat uns bis ins hohe Alter gesagt, was wir zu tun und was wir zu lassen haben.
Bei uns war aber alles frei: Kindergärten, Schulen, Gesundheitsund Krankenhausbetreuung – jeder hatte zu essen, niemand hungerte, die Renten waren sicher – und wenn wir 15 Jahre warteten, dann konnten wir sogar voller Stolz einen Trabi unser eigen nennen.
Arbeitslose gab es nicht. Alle hatten ihr Auskommen – dabei waren Staat und Familie im Zentrum allen Denkens.
Unsere Staatslenker Pieck, Grotewohl, Ulbricht, Honnecker priesen immer wieder unser sozialistisch-kommunistisches Regierungs- und Wirtschaftssystem.
Wir waren nicht reich, kannten aber auf der anderen Seite keine Not und wenig Kriminalität. Jeder war irgendwie mit dem, was er und die Seinen hatten, zufrieden. Obwohl wir nicht frei waren, herrschte unter uns Bürgern doch eine verbindende Solidarität und damit auch Zufriedenheit.
Natürlich hatten wir den Wunsch, zu reisen – ferne Länder und fremde Menschen kennenzulernen – das gab es bei uns aber nicht.
Seit 44 Jahren wurden wir klein gehalten – Opposition und Kritik an Staat und Gesellschaft sowie besonderes Interesse an westlichen Lebensformen waren uns untersagt. Das hatte zur Folge, dass wir 17 Millionen der DDR uns zu ganz anderen Menschen entwickelten, verglichen mit den 61 Millionen der BRD. Wir wurden erzogen zu regelrechten Duckmäusern – ängstlich, unselbständig und bar jeder Kritik.
Man stelle sich einmal vor, ein Mann sei mit 21 Jahren ins Gefängnis gekommen. Nach 44 Jahren wird er im Alter von 65 Jahren entlassen und trifft auf Bürger einer »neuen Gesellschaft«, die er nicht kennt. Verbraucht, angepasst an die Insassen und Regularien im Gefängnis, verlässt nach 44 Jahren auch hier ein gänzlich »neuer Mensch« das Gefängnis und betritt eine für ihn völlig unbekannte Welt. Ein über alle Maßen unsicherer, unselbständiger, ängstlicher ehemaliger
Gefängnisinsasse beginnt einen für ihn ganz neuen Lebensabschnitt – mit Folgen auch für ihn selbst:
›Ich habe Angst vor den Anderen, und ich habe auch Angst vor mir selbst!‹
Genau so erging es uns, als wir am sogenannten »Tag des Mauerfalls« unsere beschützende DDR verließen und ohne jede Vorbereitung in unser Traumland BRD fuhren. Und wir wurden zunächst auch von Verwandten und Bekannten sehr herzlich aufgenommen – die Küsse und Glückwünsche zur neu gewonnenen Freiheit wollten gar kein Ende nehmen.
Na, ja – kein Ende nehmen, stimmt natürlich nicht ganz:
Die überschwengliche Willkommensduselei dauerte manchmal einen, aber auch manchmal gar drei Tage. Nach dem vierten Tag spätestens hörten wir zunächst hinter vorgehaltener Hand vereinzelt, dann immer häufiger, das Wort »Ossi«.
So stellten die Westler nach spätestens einer Woche fest:
- die Ossis nehmen uns die Arbeitsplätze weg
- die Ossis »fressen« unsere Renten
- die Ossis belasten uns als Arbeitslose
- die marode verfallene DDR führt bei uns zu Steuererhöhungen
- die Ossis verhindern unser sicheres Aus- und Weiterkommen
- mit den Ossis kann man sowieso nicht vernünftig reden und auch in keiner Weise diskutieren
Ihre Quintessenz lautete:
Die Ossis sind anders!
Wir »Gäste« in der BRD mussten uns insgeheim, wenn auch zähneknirschend, eingestehen, dass wir im Diskutieren unterschiedlicher Meinungen, bei fast allen Dingen des täglichen Lebens als Verlierer auf der Strecke blieben. So konnten wir auch nicht, im Gegensatz zu den Westlern, kritisch über Bundeskanzler Dr. Kohl sprechen – für uns völlig undenkbar!
Wir merkten sehr früh, dass wir eigentlich gar nicht willkommen waren.
Wie sollten wir in dieser Ellbogengesellschaft, die man Kapitalismus nennt, klar kommen? Uns wurde schnell deutlich, dass wir hier niemals unseren gleichberechtigten Platz finden würden!
Unsere Unsicherheit wuchs von Tag zu Tag, obwohl wir dazu bereit waren, uns in allen Lebenslagen anzupassen – das ging sogar so weit, dass viele von uns kurzerhand Sprachkurse gebucht hatten, um unseren einheimischen Dialekt abzulegen – ›sich nur nicht sofort als Ossi zu erkennen geben‹, das war unsere Devise.
Dagegen steigerte sich die Selbstgefälligkeit der Westler bis ins Unermessliche. Man ließ uns bei jedem Satz spüren, dass wir Menschen zweiter Klasse waren, die man wegen ihrer Unterwürfigkeit und Unselbständigkeit niemals integrieren könnte.
Bereits nach zwei Wochen hörte man in Westberlin in vielen Gesprächen das Argument:
›Das Beste wäre, die Mauer wieder aufzubauen und die Ossis nach Hause zu schicken!‹
Besonders traurig waren wir, wenn unsere Ostkinder nach ihrem Spiel mit den Westkindern weinend zu uns kamen.
So klagten sie zum Beispiel:
›Die anderen Kinder meinten, Bundeskanzler Kohl sei ein richtiger Penner, viel zu fett und müsste schon lange abgelöst werden.
Wenn wir uns darüber mokierten, haben die Anderen gelästert, wir wüssten ja nicht was Kritik ist. Sie lernten so etwas schon in den unteren Klassen. Ihr Politiklehrer würde jedesmal sagen, sie müssten schon als Kinder lernen, alles kritisch zu sehen, aber auch fähig sein, Kritik zu ertragen. Dies sei der einzige und richtige Weg, sich als Staatsbürger engagiert gegenüber unberechtigten Forderungen und Anordnungen zu wehren.
Bildung einer eigenen Meinung durch Kritikfähigkeit werde immer wichtiger – ein Hauptlernziel jeder Schulform,
so die Westkinder.‹
Eines war nach ein paar Wochen bereits sonnenklar:
Unsere Ostkinder verstanden die Westkinder nicht. Im Wortschatz unserer Kinder waren so viele Begriffe, die die Westkinder benutzten, nicht vorhanden. Sie waren nicht geübt, Kritik zu üben, sich oppositionell zu verhalten. Persönliche Angriffe gegen z.B. einen Bundeskanzler waren ihnen fremd, ja tabuisiert – und doch war vieles Lernziel in der Schule.
Wir Erwachsenen vermochten unsere...