1. Die Göttin und der Gott. Vom Matriarchat, seinem Ende und der Göttin in Israel
1.1. Die matriarchale Religion und ihre Folgen
Das neue Gottesbild, das ich in der Einleitung erwähnte, ähnelt auf den ersten Blick dem des ältesten Matriarchats – einer Gesellschaftsform, welche aufgrund mangelnder Gleichberechtigung, in diesem Fall gegenüber dem Mann, kein Vorbild sein kann. Wenn ich hier vom „Matriarchat“ spreche, dann in dem Bewusstsein, dass es ein einziges, großes Matriarchat natürlich nie gegeben hat, sondern nur zahllose matriarchal geprägte Stämme. Als sprachliche Vereinfachung benütze ich das Wort „Matriarchat“ daher in diesem Sinne verstanden.
Das Fundament des Matriarchats war zweifelsohne die Religion der Göttin und ihrem Gott, wobei letzterer diese Bezeichnung allerdings kaum verdient hatte: Der archaische Mensch sah, dass die Kinder aus dem Bauch der Frau geboren wurden, und so galt sie als die Spenderin des Lebens. Entsprechend dazu existierte das Gottesbild der typischen Göttin, die als Fruchtbarkeitssymbol mit dickem Bauch und überbetonten Geschlechtsmerkmalen dargestellt wurde, und einem nahezu im wahrsten Sinne des Wortes ein Schattendasein fristenden Gott, dem das Reich des Todes und die Jahreszeit des Winters zugeordnet waren. Glaubt man der Matriarchatsforschung, so war die Überbetonung des Weiblichen so frappierend, dass die Große Göttin drei Aspekte – junge Lebensspenderin, reife Liebesgöttin und alte Todesgöttin – besaß, welcher ein Gott mit nur einem Aspekt gegenüberstand. Möglicherweise hat der Mythos vom sterbenden Gott tatsächlich Opferungen von Männern, die den Übergang in die Dunkelheit symbolisierten, Vorschub geleistet – ein manchen MatriarchatsforscherInnen übrigens sehr unangenehmes Thema – was schon schlimm genug wäre, aber wohl eher zu den Ausnahmen zählen dürfte. Viel wichtiger jedoch als das Opferthema ist der Stellenwert der Vaterschaft. Es ist die soziale Einrichtung des so genannten Avunkulats, das heißt die Übernahme der Vaterrolle durch einen Bruder der Mutter, die eine Schlüsselrolle spielt. Lediglich Zeugender durfte (weil musste) der Mann freilich sein, miterziehender und gleichberechtigter Vater jedoch nicht. Das Avunkulat ist eine Art Beweis für die bewusst durch die Frau verdrängte oder dem Mann verschwiegene Vaterschaft. Der Fruchtbarkeitswahn der damaligen Gesellschaft förderte bisweilen zudem Promiskuität und Polyandrie,1 und so konnten die Männer nicht mit Gewissheit sagen, ob sie tatsächlich der Vater eines jeweiligen Neugeborenen waren. Die Väter hatten also keine Gelegenheit, wirklich Vater zu sein, konnten ihre Vaterschaft nicht leben, jedenfalls nicht mit den biologisch von ihnen gezeugten Kindern. Es wäre naiv zu glauben, dass ein über Jahrtausende unvollständiges oder nahezu fehlendes Vaterschaftsbewusstsein keine tiefen psychologischen Wunden geschlagen hätte. Der Grund für die Überbetonung der Vaterschaft im Patriarchat kann seine Ursache nur in jahrtausendelanger Unterbetonung im Matriarchat haben.
Es kommt sicher der Wahrheit am nächsten, wenn man von einer Verdrängung spricht, gerade wenn man bedenkt, wie lange – einige tausend Jahre wohl – das Zeitalter des Mutterrechts währte. Da die ganze Religiosität, der Kult der Göttin, auf dem Fruchtbarkeitsaspekt in Verbindung mit der Mutterrolle aufbaute, war, gesellschaftspolitisch betrachtet, das Verschweigen der Vaterschaft nichts Geringeres als die Garantie für die weibliche Machterhaltung. Viele Frauen erlaubten sich Polyandrie, hatten oft mehrere Männer. Jungfräulich zu sein, galt als eine Schande,2 und die Religion der Göttin wurde im Namen der Lust oftmals derart missbraucht, dass sich jede Frau dem „Dienst an der Göttin“, der sakralen Prostitution hinzugeben hatte, besonders in der Übergangszeit vom Matriarchat zum Patriarchat. Für letzteren Umstand waren allerdings häufig die Männer verantwortlich, welche die politische Macht an sich gerissen hatten, während religiöse Instanzen nahezu vollständig und gesellschaftliche Ordnung noch überwiegend weiblich geprägt waren. Die sakrale Prostitution ist eine mittelbare oder unmittelbare Folge der matriarchalen Gesellschaftsform; ob sie ursprünglich bereits von Frauen oder erst in der Zeit des Niedergangs von Männern eingeführt wurde, spielt eine untergeordnete Rolle. Jedenfalls zeigt sie, wie tief diese Gesellschaftsformen bereits in ihrer Grundhaltung moralisch anzusiedeln sind, beziehungsweise welche Folgen aus der weiblichen Dominanz hervorgingen. Das Erkennen der Vaterschaft wurde dadurch natürlich auch nicht gerade erleichtert, und es würde mich gar nicht wundern, wenn auch der Vielmännerei oftmals sogar diese entsprechende Absicht zu Grunde gelegen hätte. Wie sonst hätte das Matriarchat so lange andauern können? Selbst wenn der Mann es geahnt haben mochte, dass auch er an der Entstehung der Kinder beteiligt war, offensichtlich war es für ihn nicht, nur bei der Frau war es für Alle klar erkennbar, und auf diese Tatsache konnte sie aufbauen, ihre Religiosität und Suggestion dem Mann gegenüber darauf gründen. Gewiss war dies nicht in allen matriarchalen Gesellschaften so, sondern es gab mit Sicherheit auch feine Abstufungen von Clan zu Clan, wobei in manchen sogar die reine Unwissenheit, also kein Betrug, vorgekommen sein mochte.
Es kam natürlich, wie es kommen musste. Zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten wurde das wohl gehütete Geheimnis um die Vaterschaft nach und nach offenbar, und in Clans, wo es sich tatsächlich um Betrug seitens der Frau handelte, mussten die Reaktionen umso heftiger ausfallen. Die Religion der Mütter begann unglaubwürdig zu werden, und die Konsequenz war eine Verstärkung der ohnehin schon vorhandenen Degeneration, nun aber vor allem unter dem Vorzeichen, dass die Religiosität an sich darunter litt: Nach und nach verkam sie zur bloßen Maske, zum Deckmantel für Machtpolitik und Lust. Immer mehr ergriff der Mann die Macht, an einem Ort früher, andernorts später, und im Zuge der zunehmenden Bevölkerung kam es zu Grenzverletzungen, Überfällen, Kriegen. Rasch entwickelte sich daher auch der matriarchale Widerstand, die Amazonen. Das Bild der Göttin veränderte sich: Mythologisch gesehen, mutierte sie von der Lebensspenderin nun mehr zur Erretterin: Demeter rettet ihre Tochter Kore aus der Unterwelt, Isis ihren Bruder-Geliebten Osiris, der jedoch dort verbleibt und von ihr als Horus wiedergeboren wird. Später entstanden dann die typischen männlichen Heldengestalten, die ohne weibliche Hilfe die Unterwelt überwanden, später besonders ausgeformt in den Odysseus- und Orpheusepen – nichts weiter als eine logische Fortentwicklung, ein Befreiungsakt des Mannes, der nun die Göttin nicht mehr nötig hatte, um aus der Unterwelt errettet zu werden, sondern selbst zum Lebensspender mutierte, was schließlich in der christlichen Erlösergestalt gipfelte.
Soweit einige grundlegende Gedanken zum Matriarchat und dem, was daraus hervorging. Ich werde mich ab jetzt in diesem Abschnitt vor allem auf die Göttinnen beschränken, mit denen das Volk Israel in Berührung kam, sowie deren Vorläuferinnen, denn für das Hauptthema dieser Arbeit kommt es in erster Linie darauf an, ihre Bedeutung in Bezug auf die spätere Verehrung und Verdrängung Maria Magdalenas im Christentum und in der Gnosis zu verstehen. –
1.2. Inanna
Inanna ist die sumerische Vorläuferin der später in Israel bekämpften und verehrten Göttinnen Ištar, Aschirat, Astarte und Anath. Von daher ist sie für diese Arbeit von Relevanz.
Die ersten Überlieferungen und Daten, die uns bekannt sind, stammen aus der Zeit um etwa 3000 v. Z. Sie offenbaren uns die Welt eines Volkes, in dem der Mann längst die politische Macht sprich das Königtum ergriffen hatte, die Frau allerdings im mächtigen Bereich der Religion immer noch eine wichtige Rolle spielte. Anhand des Rituals der Königsvergöttlichung, einer kultischen „Heiligen Hochzeit“ des Königs, meist mit der Hohepriesterin oder einer Hierodule als Stellvertreterin der Göttin, lässt sich erkennen, dass
a) die Göttin, hier Inanna, noch immer als höchste Gottheit angesehen wurde und noch alle drei Aspekte der Großen Mutter (Lebensspenderin, Liebesgöttin, Todesgöttin) vorhanden sind,
b) sich die Vorstellung von einer dreigestaltigen Göttin mit einem Gott sich zu einem Glauben an ein ganzes Pantheon von Göttinnen und Göttern entwickelt hatte,
c) die höhere Liebe sehr degeneriert war: Nicht aus Zuneigung vereinigte man sich im Kult miteinander, sondern nur aus bloßer Lust – und weil die gesellschaftliche Rolle es so verlangte.
Die Nachfolgerin der Inanna, die babylonisch-assyrische Himmelskönigin Ištar, hat etwa tausend Jahre später schon einiges an Glanz verloren, ist auf nur noch zwei Aspekte reduziert: Liebes- und Todesgöttin. Ištar ist, wie schon ihre Vorgängerin Inanna und ihren zahlreichen Varianten unter den Namen Astarte, Aschirat und so weiter, eine höhere Liebe völlig fremd. Ihre Liebe besteht, ganz wie bei ihrem griechischen Pendant Aphrodite, lediglich in der erotischen Liebe, wie ein 3700 Jahre altes Gedicht beweist, in dem Inanna spricht:
„Mein honigüßer Mann, mein honigsüßer Mann beglückt mich immer.
Mein Herr, der honigsüßeste der Götter,
Er ist der Bestgeliebte meines Schoßes.
Seine Hand ist Honig, sein Fuß ist Honig,
Er beglückt mich immer.
Mein lechzender, atemberaubender Nabel-Liebkoser,
Der sanften Schenkel Liebkoser.
Er ist der Bestgeliebte meines Schoßes.
Er ist im Wasser gebetteter Lattich.
Er umfing meine Lenden mit seinen milden Händen,
Der Schäfer Dumuzi füllte meinen Schoß mit Milch und Sahne,
Er streichelte mein Schamhaar,
Er bewässerte meinen Mutterleib,
Er legte seine Hände auf meine heilige Vulva,
Er besänftigte mein schwarzes Boot mit Sahne,
Er erquickte mein enges Boot mit Milch,
Er liebkoste mich auf dem Lager.“3
Wenn Heydecker diese Dichtung als „Zeugnisse erotischer Literatur höchsten Ranges“ bezeichnet, so mag dies aufgrund der Schönheit der Sprache zwar berechtigt sein, entlarvt aber Inanna alias die mit ihr im Lauf der Zeit verschmolzene Ištar zugleich auch als polyandrische Göttin. Dies kommt vor allem in der gleich zwei Mal vorkommenden Zeile „Er ist der Bestgeliebte meines Schoßes“ zum Ausdruck. Hier wird vor allem die Befriedigung der Triebe verherrlicht – eine Form von Liebe, die zwar auch ihre Berechtigung hat, aber, wie zu betonen ist, doch eindeutig unter der höheren Göttlichen Liebe, also der Nächstenliebe, wie sie uns Jesus und Maria Magdalena vorlebten, anzusiedeln ist. Die Heilige Hochzeit der archaischen Zeit hatte natürlich auch den Hintergrund, Fruchtbarkeit für die Ernten von der Göttin zu erbitten und die Fortpflanzung des Menschengeschlechts zu sichern. Trotzdem ist sie nicht vergleichbar mit dem höheren Ideal der Göttlichen Liebe, wie wir sie später bei Jesus und Maria Magdalena antreffen. Denn mit dem Erscheinen Jesu und der Entstehung der christlichen Religion wurde der alte Fruchtbarkeitsglaube überwunden, auch wenn sich natürlich in der christlichen Lehre, Liturgie und im Volksglauben noch viele Elemente der älteren Religion finden.
Als Todesgöttin fungierte Ištar meist als Kriegsgöttin, zu der sie in einer sehr kriegerischen Zeit herabsank. Trotzdem galt sie laut Heydecker immer noch als „Göttin der Göttinnen“,4 wobei er allerdings übersieht, dass die...