Stellungswechsel im Kreißsaal
Die Sache mit dem CTG
Ein spannender neuer Einsatz hatte begonnen. Nicht nur, weil ich einen neuen Kreißsaal kennenlernte, der sich mitten in einem sozialen Brennpunkt befand, sondern weil ich diesen Einsatz zu einem bedauerlicherweise nicht gerade kleinen Teil mit Veronika verbringen musste.
Gott sei Dank hatte sie schon Feierabend, als sich der folgende Vorfall ereignete. Die Schmach wäre für mich unüberlebbar gewesen. Ich hätte direkt eine neue Identität annehmen können. MÜSSEN!
Es war nämlich so, dass eine Schwangere mit Verdacht auf Schwangerschaftsvergiftung zur CTG-Kontrolle kam. Die CTGs liefen hier etwa eine halbe Stunde. Wenn sie„nicht so schön“ waren, auch länger. Ich war ja neu, daher arbeitete ich lieber noch nicht so selbstständig wie in meinem Lieblingskreißsaal, denn hier gab’s andere Aufgabenverteilungen und andere Vorgehensweisen, die musste ich erst noch genau kennenlernen.
Siegrid, die Kreißsaalleitung, sagte mir, dass ich ihr bei passendem CTG Bescheid geben und die Frau dann zu einer weiteren Untersuchung mitnehmen könne.
Nach etwa einer dreiviertel Stunde – und einem wirklich schönen CTG – ging ich zu Siegrid und verkündete ihr, genau das jetzt auch zu tun. Recht gestresst sagte sie mir, sie müsse jetzt erstmal mit ihrer Kollegin Lore ganz ausführlich dies und jenes dokumentieren und anschließend könne sie mit mir darüber sprechen, die Frau vom CTG abzumachen und eine Urinprobe von ihr zu erbitten. Sie sei ja jetzt auch erst gerade am CTG dran.
Ich nahm also an, dass die Aufnahme-CTGs hier deutlich länger laufen würden als in meinem Lieblingskreißsaal. Ahnungslos und naiv fragte ich:
„Wie lange soll sie denn am CTG bleiben?“
Wenn ich von Eva Wind von vorn bekommen hatte, dann hatte ich keine Ahnung, wie der Wind hier wehen konnte.
„JETZT PASS MAL AUF!“, donnerte es mir entgegen. Und zwar so unverhofft, dass ich Siegrid einen Moment lang tatsächlich doppelt sah. „ICH BIN HIER DIE HEBAMME UND DU HAST MIR GAR NICHTS ZU SAGEN! SOWAS KANN ICH ÜBERHAUPT NICHT LEIDEN! ÜBERHAUPT NICHT!“
„Ich wollte nur wissen, wie lange die Frauen in diesem Kreißsaal am Aufnahme-CTG liegen“, brachte ich dem Tod ins Auge blickend hervor.
„DAS KANN ICH ÜBERHAUPT NICHT LEIDEN! DASS DAS MAL KLAR
IST! ICH GEHE JETZT MIT LORE DA HINTEN IN DEN RAUM WAS DOKUMENTIEREN, DANN MUSS ICH MICH ERSTMAL SAMMELN UND DANACH HABE ICH ZEIT, MICH UM DEIN ANLIEGEN ZU KÜMMERN,
HABEN WIR UNS VERSTANDEN?“
Man konnte den Respekt von anderen auch wirklich mit aller Gewalt niederknüppeln. So schnell wie Siegrid würde ich das sicherlich nicht hinkriegen. Alle Achtung zumindest für diese Leistung.
„Sehr gern, so machen wir das“, antwortete ich und machte kehrt. ‚Ich muss mich erstmal sammeln ...´ war das ihr Ernst? Beim Tatort musste sich der Kommissar doch auch nicht erst sammeln, bevor er jemanden festnahm ...
Ich dachte an Eva. Die hatte ich wirklich lieben gelernt. So gern sie mich auch „im Namen der Kolleginnen“ anharschte. So gern sie mich mit einem einzigen Blick zum Schweigen brachte. Aber man konnte immer mit ihr über alles sprechen.
Eines Tages hatte ich ihr mal gesagt, was für eine Angst ich vor ihr hatte und dass ich meine Arbeit ja dafür eigentlich ganz gut machen würde. Wie sie das denn so sähe. Da guckte sie mich an, puffte mir in den Oberarm – ich befürchtete kurz eine Fraktur – und sagte lächelnd:
„Ach komm.“
Von da an hatten wir wirklich viel Spaß im Dienst. Ich kriegte dennoch immer wieder Wind von vorn und durfte auch mal zum Anschiss unter vier Augen an der Spüle antreten, aber das war irgendwie dann doch anders zu bewerten.
Das Examen würde ich zum Glück in meinem Lieblingskreißsaal machen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das sagen würde, aber ich freute mich tatsächlich nicht zuletzt auf Eva. Die Hebamme mit Wind von vorn. Die Hebamme mit dem Talent zur Selbstreflexion.
Tja, so an Eva denkend, ging ich durch den schicken Kreißsaal, der aus allen Ecken „Wellness!“, „Schmerzfreiheit!“, „Wärme!“, „Luxus!“ zu schreien schien, und setzte mich hinter den Tresen, der „Geheim!“ zu rufen schien. Von dort hatte ich über den Monitor immer noch die Gelegenheit, das CTG der armen Schwangeren beobachten zu können. Es sah noch immer superschön aus.
Dann kam Lore. Siegrid hatte ja noch keine Zeit für mich, die war noch nicht fertig mit Sammeln.
Lore flüsterte mir zu, ich solle mir das bloß nicht zu Herzen nehmen. Einerseits nahm ich mir das nicht zu Herzen, weil ich so ein Rumgebrülle nicht ernstnehmen konnte, sondern eher lächerlich fand, andererseits hatte es mich aber doch ziemlich schockiert, weil ich einfach nicht verstehen konnte, wie man so mit der eigenen Überforderung umgehen konnte.
Der Mann der Schwangeren kam nach vorne zu uns, um uns zu sagen, dass seine Frau jetzt aber mal dringend auf die Toilette müsse. Da Siegrid aber immer noch in der Personalküche damit beschäftigt war, sich zu sammeln und wir sie dabei lieber nicht stören wollten, sagte ich leise:
„Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, aber ich WAGE es nicht, Ihre Frau vom CTG abzumachen, und ich kann Ihnen leider auch nicht sagen, wann es so weit ist. Gott allein könnte Ihnen diese Frage beantworten ...“
Er sah vermutlich meine Furcht und ging wie ein Fragezeichen zurück.
Dann plagte mich aber noch ein ganz anderes Bedenken, nämlich: Was machten wir, wenn das CTG zu lang war? CTG-Papier war teuer und Siegrid ein Sparfuchs. Und: Was, wenn die Frau nun aus Versehen auf die CTG-Liege machte? So eine Sauerei wegzuwischen war zeitintensiv, und Siegrid war ja gerade noch dabei sich zu sammeln. Das würde sie danach sicherlich ausgedehnt wiederholen müssen.
Also ging ich zu der armen Schwangeren, befreite sie von dem CTG, begleitete sie auf die Toilette und bat sie um eine Urinprobe. Wohlwissend, diesen wahnwitzigen Alleingang eventuell mit dem Leben bezahlen zu müssen.
Siegrid war dann irgendwann fertig mit dem Sichsammeln. Und Lore und ich mit dem Dienst. Ich hätte erwartet, etwas zu hören wie:
„Sorry, das war vorhin nicht so gemeint. Hab ich falsch verstanden.“
Aber Siegrid fragte mich liebstimmig säuselnd:
„Und, Schatzi, hast du morgen auch wieder Spätdienst? Wie war denn dein erster Tag heute? Hast du einen ersten Eindruck gewinnen können?“
Ich hätte am liebsten geantwortet:
„Total beschissen war dieser erste Tag heute, du dumme Nuss. Gott sei Dank habe ich morgen keinen Spätdienst, denn den hätte ich ja entsetzlicherweise mit dir.“
Aber das tat ich nicht, denn mein Beurteilungsbogen am Ende dieses Kreißsaaleinsatzes sollte gern nett aussehen.
Ohne Rauch geht’s auch. Oder?
Eines Tages gab es – und das war ja eigentlich der Grund, warum ich in diesem Kreißsaal war – eine Geburt für mich.
Eine 18-jährige Türkin, Frau D., schenkte ihrer Tochter Melissa das Leben. In der Nacht war sie bereits mit Blasensprung und Wehen in den Kreißsaal gekommen. Der Nachtdienst übergab sie uns und zog fröhlich von dannen.
Die Nacht mit ihr sei ziemlich interessant gewesen, wie es hieß.
„Ich hab voll die Krämpfe, weiß jetzt auch nicht, wieso“, hatte sie wohl gesagt. Und„Mir ist sehr schlecht!“
Man hatte ihr eine Nierenschale gegeben. In dem Entbindungsraum, in dem sie es sich gemütlich gemacht hatte, gab es angrenzend ein Bad. Mit Nierenschale in der einen Hand und direkt neben der Toilette stehend, hatte sie sich dann auf den Boden erbrochen. Das musste wirklich ein Spaß gewesen sein.
Nun aber hatte Frau D. einen Muttermundsbefund von zehn Zentimetern und war dem Pressen nahe. Unser neuer PJ’ler Kai wollte dieser Geburt gern beiwohnen, und ich riet ihm, sich am besten jetzt der Frau vorzustellen, bevor sie in den Presswehen läge. Die PJ’ler waren Medizinstudenten im Praktischen Jahr und wohlgemerkt noch KEINE Ärzte. Dennoch trugen sie einen Arztkittel, um sich optisch beispielsweise von Krankenpflegeschülern oder gar Hebammenschülerinnen zu unterscheiden. Das war einfach so. Schon von Anfang an musste eine Gleichgesinnung offenbar im Keim erstickt werden.
Kai wackelte bei jedem Gang so galant mit dem Po, gepaart mit einer stromlinienförmigen Handbewegung, dass der Verdacht nahe lag, dass Kai vom anderen Ufer war. Zumal er auch überzeugt äußerte, niemals Vater zu werden. Als wir uns auf den Weg in die Kreißkabine machten, fragte er mich:
„Wie soll ich mich denn am besten vorstellen? Mit Dr. W.?“
„Nein, Du hast gar keinen Doktor“.
„Mit Student Kai? Mit PJ’ler? Mit Arzt? Oh Gott ...!“
„Du stellst Dich als Kai W. vor, der Medizinstudent im Praktischen Jahr ist. So, wie es einfach ist“, schlug ich ihm freundlich vor.
Galant schwebte Kai durch den Raum. Diese Szene hätte es auch bei „Scrubs“ geben können. Todsicher! Er .gab Frau D. nämlich die Hand und flötete: „W. ist mein Name. Ich bin hier einer der Ärzte. Frau D., wie geht es uns heute?“
„AAAAAAAAAAAAAAAARRRRRRRRRGH!“ war die Antwort. Kai
schaute fachmännisch auf das CTG, das schon deutliche und wiederkehrende, aber für diese Geburtsphase durchaus typische Herztonabfälle des Kindes zeigte, und sagte:
„Sehr schön!“
Die Oberärztin musste ihn gut leiden können, sonst hätte sie ihn vermutlich mit einer Geburtszange erschlagen. Und ich musste mich sehr bemühen, nicht zu lachen. Es wäre auch wenig Zeit zu gewesen, denn nun standen Hebamme Annabell und ich mit sterilen Handschuhen am Ort des Geschehens.
Baby Melissa kam zur Welt und anschließend warteten wir auf die Nachgeburt.
Frau D. hatte aber ganz andere Probleme.
„Kann ich jetzt mal eben raus, eine rauchen gehen?“
„Ähm. Nein. Wir warten auf die Nachgeburt!“, sagten Annabell und ich wie aus einem Munde.
„Hm, ach so, die kommt auch noch? Danach aber, oder?“
Wir wussten keine Antwort. Dann kam der Mutterkuchen und die Frau musste noch nahttechnisch versorgt werden.
„Wann kann ich denn endlich eine rauchen gehen?“
Das schien echt ein großes Problem zu sein. Als die Frau dann wieder zugenäht war und Melissa auf der Brust hatte, fragte sie wieder, ob sie jetzt eine rauchen gehen könne.
„Sie sind gerade das erste Mal aufgestanden, Ihr Kreislauf wird das nicht ohne Weiteres mitmachen, den Weg nach unten. Sie werden sich darauf einstellen müssen, heute gar nicht rauchen zu gehen. Sie könnten unten ohnmächtig werden und sich den Kopf aufschlagen“, sagte ich ihr.
„Und wenn ich einfach doch runtergehe und rauche?“
„Hab ich doch gerade gesagt.“
„Ach so. Hm. Scheiße. Naja. Oh Mann, wie soll ich das nur aushalten?“ Ja, wie bloß. Meine Güte noch eins.
„Gucken Sie sich doch mal Ihre Tochter an, der Anblick müsste Sie doch vom Rauchen ablenken, zumindest für heute, oder?“, fragte ich sie, und legte ihr nochmal die kleine Melissa in den Arm.
„Hm. Ja. Geht so. Also heute kann ich nicht rauchen, ja?“
Dann kam Besuch. Eine Schwägerin suchte Annabell und mich auf.
„Äh, ich hab mal eine Frage. Meine Schwägerin möchte gern mal eine rauchen, meinen Sie, das geht?“
„NEIN!“, riefen Annabell und ich.
„Und wenn sie hier oben im Kreißsaal ein Fenster aufmacht und da raucht?“
An unserem Gesicht sah sie schon, dass da nichts zu machen war. Eine andere Schwägerin kam.
„Äh, ich hab mal eine Frage. Meine Schwägerin würde gern mal nach unten zum Kiosk gehen und sich was kaufen. Runter kann sie doch, oder?“
Klar, und wenn sie schnell ist, schafft sie dabei auch eine ganze Schachtel Zigaretten, dann hat das Thema zumindest für die nächste Stunde ein Ende, dachte ich bei mir. Aber ich beließ es bei einem freundlichen, aber bestimmten:
„Nein, das geht nicht. Sie muss nach der Geburt tatsächlich noch zwei Stunden hier im Kreißsaal zur Beobachtung bleiben. Aber Sie könnten runtergehen und ihr was mitbringen. Wie wär das?“
„Nein, schon gut, vergessen Sie es“.
Mein Sohn fragte mich meistens, wenn ich erzählte, dass ein Baby geboren worden war:
„Und wie heißt es? Will die Mutter stillen?“
Bei diesem hier musste ich ihn leider enttäuschen.
„Melissa. Nein, die Mutter möchte nicht stillen“, sagte ich ihm.
„Wieso DAS denn nicht?!“, fragte mein Sohn entsetzt.
„Die geht lieber rauchen“, antwortete ich. Und genau das gab Frau D. auch als Grund an.
Ganz ehrlich mal, dieses Gequalme ... Damit hatte ich echt meine Probleme....