1 Einführung: Die Krise der Elite
Dieses Buch ist eine Streitschrift über Medienköpfe: über die prominente Meinungselite, die seit Jahren im Fernsehen über die Krisen dieser Welt quatscht. Sie tut das fast jeden Tag und zwar in Talkshows; dort, wo die Fernsehdebatte für uns Otto Normalverbraucher zu einer der bestimmenden Meinungsbildungsinstitutionen geworden ist. Egal ob Günther Jauch, Hart aber fair, Maybrit Illner, Presseclub, Studio Friedman, Phoenix Runde, nachtstudio oder Unter den Linden, die Formate sind zahlreich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder in privaten Spartenkanälen.
In diesem Ersatzparlament der deutschen Mediendemokratie diskutiert stets eine kleine Auswahl von bekannten Denkern die diversen Krisenereignisse: Sei es der Wahnsinn der Finanzkrise, die unzähligen Spar- und Rettungspakete für Griechenland, die Politikerverdrossenheit in Deutschland, der Verfall der repräsentativen Demokratie, die Verteilungsungerechtigkeit oder sei es die Abstiegsangst des Mittelstandes. Kein Problem ist davon bisher gelöst, und in der Summe ergibt sich daraus die aktuelle Kapitalismuskrise. Meistens sind es immer die gleichen Nutzer des gepflegten oder weniger gepflegten Wortes, die für uns Zuschauer das jeweilige Problem sortieren, erklären und bewerten sollen. Zum Teil wie bei einer geschlossenen Gesellschaft mit Leuten wie Richard David Precht, Hans-Ulrich Jörges, Gertrud Höhler, Hans-Olaf Henkel, Marie-Christine Ostermann oder Michel Friedman.
Allerdings haben diese Fernsehredner ihre Meinungsmacht mehrheitlich nur ihrem Prominentenstatus zu verdanken. Und nicht so sehr ihrer intellektuellen Brillanz. Viel zu oft nämlich bieten Deutschlands mediale Wortführer nur wertloses Gelaber. Im Fernsehen geht es nun einmal überwiegend um Entertainment und nur selten um Bildung oder um die Vermittlung von Erkenntnissen. Die Unterhaltungszwänge des Fernsehens machen da vor keinem noch so bedeutenden Thema Halt. »Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an«, analysierte einst der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman in seinem Buch »Wir amüsieren uns zu Tode«.1
Doch das ist nicht der einzige Grund, warum man sich den Durchblick mehrheitlich woanders suchen muss. Hauptsächlich tragen die meisten Fernsehredner eine geistige Zwangsjacke. Denn fast alle des Krisendeutungspersonals treten als Vertreter eines Machtzentrums auf; Zentren wie Parteien, Think Tanks, Lobbyorganisationen, Unternehmerverbände oder Medienkonzerne. Folglich können sie bei ihren öffentlichen Stellungnahmen die Interessen ihrer jeweiligen Institution gar nicht ignorieren. Unabhängige Geister findet man dagegen nur selten auch unter den Schreiberlingen bei den großen Zeitungen. Und noch weniger findet man Denker mit einem ganzheitlichen Blick. Deswegen muss man heute nicht nur von einer Krise des Kapitalismus sprechen, sondern auch von einer Krise der Elite.
Diese Elitenkrise wird augenscheinlich, wenn zum Beispiel professionelle Lobbyisten wie Hans-Olaf Henkel aus ideologischer Verblendung die europäische Staatsverschuldungskrise von der Bankenkrise abkoppeln oder Griechenland mit verkürzten Parolen zum alleinigen Sündenbock der Euro-Krise erklären.
Das Dumme ist nur: Mit solchen verkürzten Formeln wie die von Henkel wird zum großen Teil der Mainstream geformt: Der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf das Krisengeschehen, ihre Werte und ihr Themenarsenal und die dazu gehörigen Sprachregeln. Das, was man öffentliche Meinung nennt oder auch Diskurs. Ganz im Sinne der Medienlogik des Soziologen Niklas Luhmann: »Was wir von der Gesellschaft wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«2
Die Einflussnahme auf den Mainstream ist möglich, weil die Zuschauer das Entertainment so leicht mit dem realen Leben verwechseln können. Zu ähnlich sind die Gespräche der Talkshow mit den Gesprächen, die die Zuschauer aus ihrer Lebens- und Arbeitswelt kennen, erklärt der Erziehungssoziologe Klaus Plake.3
Gegen all diese elitäre Verdummungsrhetorik muss es jedoch rhetorisches Gegenfeuer geben. Aus guten Grund: Je geschlossener die Elite der Meinungsmacher ist, desto ausgeschlossener bleibt das Publikum. Und je oberflächlicher die Fernsehrederei inszeniert wird, desto weniger üben die verantwortlichen Medien die Funktion aus, die zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört: die Kontroll-, Kritik- und Orientierungsfunktion. Als Gegenfeuer dient hierfür ein rhetorischer Leistungscheck, eine Vermessung der Elite. Es gilt vorzuführen, wie weit diese Meinungselite mit ihren Sprach- und Argumentationsblüten an den diversen Krisen vorbeiredet und dadurch den an sich so vielfältigen Krisenmeinungsmarkt mit intellektueller Billigware überflutet.
Diese Verflachung des politischen Diskurses ist umso bedenklicher, weil die deutsche Gesellschaft in diesen Krisenzeiten vor großen Konflikten steht. Das sind soziale, politische und ökonomische Konflikte. Als erstes sind da die sozialen Konflikte: weil die Leistungsgesellschaft zum großen Teil nur noch eine Illusion ist. Aus diesem Grund ermöglicht Leistung für immer weniger Menschen die Chance auf sozialen Aufstieg. Immer deutlicher entscheidet die Herkunft über den gesellschaftlichen Status. Und immer seltener wird harte Arbeit angemessen entlohnt, die auch noch für die Gesellschaft einen sozialen Nutzen hat. Das führt dazu, dass immer weniger Menschen, egal ob arm oder reich, das Risiko einer langfristigen Investition auf sich nehmen, die Fleiß und Ausdauer erfordert. Die einen haben resigniert, und die anderen haben es nicht mehr nötig.
Als zweites bestehen politische Konflikte: weil die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik ausgehöhlt ist durch eine Verfilzungskultur zwischen Politikern und Lobbyisten. Dieser Missstand passt jedoch nicht mehr zu den zahlreichen Teilhabemöglichkeiten, die das Internet den Menschen bietet.
Dadurch ergibt sich eine Politikerverdrossenheit, die sich vervielfacht, weil das politische Personal wiederholt den Eindruck erweckt, es würde die komplexe Weltlage nicht mehr verstehen. Denn es setzt sich immer mehr aus Technokraten der eigenen Berufsinteressen zusammen, die kaum noch Gestaltungskompetenz besitzen, geschweige denn Gestaltungsmacht. Das zeigt sich bei den diversen Bankenrettungen. Die Steuerzahler in Deutschland wollen dafür nicht länger in Kollektivhaftung genommen werden. Werden sie aber, weil ihre Volksvertreter nur Statisten sind. Es ist die Bankenlobby wie das Institute of International Finance, die entscheidet, welche Ressourcen die europäischen Steuerzahler für die Bankenrettungen aufzubringen haben.4 Das alles passiert, weil irgendjemand mal erfolgreich den Mythos verbreitet hat: Der Markt wird schon alles richten.
Damit verknüpft ist der ökonomische Konflikt: weil die Alleinherrschaft des Marktes eine Finanzkrise zu verantworten hat, die das traditionelle Schuldgeldsystem in eine Existenzkrise gerückt hat. So kommen zum Beispiel die größten europäischen Krisenstaaten auf 3500 Milliarden Euro Schulden und deren Banken auf 9400 Milliarden Euro Schulden (Stand März 2013).5 Das ist Geld, das nie zurückgezahlt werden kann. Deshalb kann die Exportfixierung der deutschen Wirtschaft kaum nachhaltig für Wachstum sein, solange sie sich auf die Verschuldungsbereitschaft ihrer Abnehmer stützt. Obgleich die Ökonomen erbittert darüber streiten, wo die Verschuldungsgrenzen liegen könnten. Doch selbst wenn es der deutschen Exportwirtschaft gelingt, die Absatzausfälle in Europa und auch in Nordamerika durch Markteroberungen zum Beispiel in Asien auszugleichen, haben viel zu wenig Leute an dem Wohlstand in Deutschland Anteil. Der Grund dafür: Die Wettbewerbsvorteile der deutschen Produkte wurden und werden vorzugsweise auch durch die Lohndämpfungspolitik möglich. Allerdings bestehen Konjunktur und Wohlstandsgewinne einer Volkswirtschaft nicht nur aus dem Export.
Trotz alledem sehen immer noch viel zu viele Krisendeuter in der ordnenden Kraft des Marktes die einzige Lösung für die Euro-, Schulden- und Finanzkrise.
Inmitten dieser Konflikte und einer ständig steigenden Informationsflut fehlen jedoch die großen Leitlinien des Handelns und Denkens. Es fehlen die großen Meistererzählungen. Und dann ist kaum einer da, der einem verlässlich die Welt erklärt. Schon gar nicht unter der Meinungselite.
All das macht die Meinungsbildung nur noch komplizierter. Deshalb muss man fragen: Welche Krisenanalytiker haben am meisten zur Krisenverwirrung beigetragen? Wer müsste die meisten Euros als Geschwätzigkeitsbuße ins Phrasenschwein stecken? Oder gibt es trotz aller Unterhaltungszwänge und trotz aller geistigen Zwangsjacken Redner, von denen man sich intellektuelle Orientierung erhoffen kann?
2 Der Maßstab: Ciceros ars dicendi
Für eine rhetorische Vermessung der Elite wie in diesem Buch ist selbstverständlich ein Maßstab notwendig. Doch was soll das für einer sein? Ohne ein verbindliches Prinzip des Denkens. In diesen postmodernen Zeiten wird Kritik immer beliebiger. Folglich gibt es auch keine übergeordnete Idee des Schönen mehr – erst recht keine übergeordnete Idee der schönen Rede. Sofern es sie je gegeben hat; außer vielleicht in Friedrich Hegels Theorie der Ästhetik und seiner Idee von dem Urbild des Schönen.6 In den 1920er Jahren bestimmten zumindest die Kultur- und Literaturkritiker Karl Kraus oder Alfred Kerr mit Absolutheit, was guter Geschmack und was Geschmacklosigkeit sei. Doch die beiden Herren waren sich nicht einmal untereinander über ihr Geschmacksideal einig. Immerhin besaßen Kraus und Kerr eine Autorität, die heutige Kritiker nicht aufweisen weder Literatur- noch Sprach- noch Medienkritiker. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik in Tübingen zum Beispiel, das seit 1998 den Preis Rede des Jahres vergibt, hat kaum Einfluss auf den Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit.7
Für eine Redekritik muss deshalb schon einer der prägendsten Redner der Weltgeschichte als Maßstab herhalten: nämlich Marcus Tullius Cicero, seinerzeit Philosoph, Schriftsteller, Politiker, Rechtsgelehrter und Sprachlehrer im alten Rom. Warum ist aber ausgerechnet der Rückgriff auf diesen Redner des Altertums als Vorschlag für ein Rednerideal geeignet? Die Antwort darauf erfordert einen kurzen Blick zurück auf das alte Rom:
Sein Leben (106 bis 43 v. Chr.) fällt in die Zeit, als Rom eine Republik war und die öffentlichen Räume im alten Rom, der Senat, das Gericht oder die Volksversammlung, den einzelnen Römern die Möglichkeit boten, durch rhetorisches Talent öffentliche Geltung zu erwerben. Vor allem für den Politiker Cicero selbst. Zu seinem politischen Nachteil entstammte er nicht einer der bedeutenden Adelsfamilien, die wie die Scipionen viele Generationen hindurch die Politik in Rom bestimmten. Er verfügte auch nicht über ein Vermögen wie Crassus, um sich politischen Einfluss zu kaufen. Genauso wenig konnte Cicero als Feldherr wie Caesar mit einer Armee in seinem Rücken die Politik an sich reißen. Sein einziges Kapital war seine rednerische Gabe.
Aus diesem Grund hat Cicero gerade für das öffentliche Wort im politischen Diskurs das Ideal eines Redners entworfen: den orator perfectus, den vollendeten Redner.
In seinen Lehrschriften »De oratore« (Über den Redner) und »Orator« (Der Redner) hat Cicero sein Idealbild vom orator perfectus festgehalten: Die Aufgabe eines Redners ist es zunächst, die Überzeugungen seiner Zuhörer zu formen. Dabei konzentriert er sich auf drei Faktoren: den Beweis seiner Standpunkte, den Gewinn der Publikumssympathie und die Einflussnahme auf die Gefühle seiner Zuhörer.8 Allerdings muss für Cicero ein Redner gleichzeitig imstande sein, verantwortungsvoll mit den Gefühlen seiner Zuhörer umzugehen. So muss jeder Redner, der es versteht, die Herzen seiner Zuhörer zu entflammen, die Brände in den Herzen auch wieder löschen können.9
An dieser Stelle ist ein Redner auch dazu verpflichtet, ein Philosoph zu sein. Es ist nur derjenige zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Gefühlen seiner Zuhörer imstande, »der mit seinem Blick das Wesen aller Dinge, die Sitten und Prinzipien der Menschen tief durchdrungen habe«.10 Durch derartige Kenntnisse erwirbt ein Redner Deutungskompetenz, die Kompetenz, Menschen zu entschlüsseln.
Dieses philosophische Wissen ist jedoch nur der Anfang: Ein vollendeter Redner muss auf allen für das Leben des Menschen wichtigen Gebieten bewandert sein. Warum? Weil ein Redner verhindern muss, zu einem Schwätzer zu werden. Dafür braucht er Stoff zum Reden. Und je mehr Stoff er besitzt, desto gehaltvoller wird das Gesagte. Sofern er den Stoff beherrscht:
»Nach meiner Meinung könnte jedenfalls kein Redner den Gipfel allen Ruhmes erreichen, ohne sämtliche bedeutende Gebiete und Disziplinen zu beherrschen; denn aus dem Wissen um die Sache muss die Rede in Glanz und Fülle des Ausdrucks erwachsen. Hat sich der Redner die Sache nicht ganz angeeignet, so bietet seine Rede nur leeres und beinahe kindisches Geschwätz.«11
Dadurch wird Rhetorik zur Kunst, etwas zu sagen zu haben. Allerdings erklärte für Cicero die Pflicht zum umfassenden Bildungserwerb auch den Mangel an guten Rednern zu seiner Zeit. Zu viele scheiterten daran, die Mühen der Rednerarbeit auf sich zu nehmen. Doch nicht nur der Erwerb von Wissen überforderte viele. Sie scheiterten auch daran, den treffenden Ausdruck zu finden, die eigenen Gedanken klar anzuordnen und Stil und Ton der jeweiligen Redesituation anzupassen.12
Wahrscheinlich gibt es deswegen auch heute noch viel zu wenig gute Redner. Die Meinungsbildung ist meistens viel zu aufwendig. Und viele Redner beschränken sich darauf, im Scheinwerferlicht gute Performer zu sein. Dadurch vergrößert sich der Abstand zwischen dem Präsentationsvolumen und dem Gehalt der Rede. Aus diesem Grund wurde auch der einstige Medienstar unter den Politikern in seinen rhetorischen Fähigkeiten während des Hypes um seine Person völlig überschätzt: Gemeint ist Karl Theodor zu Guttenberg. Die meisten seiner Auftritte waren bestimmt von der Absicht, eine Pose vorzuführen. Jeder Satz aus dem Mund dieses Performance-Politikers diente dem Kalkül, das Image des aus der Art geschlagenen, weil glamourösen Politikers zu transportieren. Ein durchdachtes und eigens erarbeitetes Weltbild war hinter seinen geleckten Worten nicht zu entdeckten. Deswegen war zu Guttenberg auch nicht als Überzeugungstäter erkennbar wie zum Beispiel ein Norbert Blüm. Auch sein Auftritt in der Schmuddel-Talkshow von Johannes B. Kerner anlässlich des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr hatte nur einen Zweck: sein Image zu pflegen. Das Image des heldenhaften Verteidigungsministers, der es ganz dick mit seinen Soldaten hat. Politisch hingegen lieferte zu Guttenberg in der Kerner-Show nichts Erklärendes.13 Das machte zu Guttenberg zu einem Verführer, der seine Betroffenheitsrhetorik gegenüber den Soldaten nur missbrauchte.
Dementsprechend war es Cicero bewusst, dass die Rhetorik als Verführungsmittel missbraucht werden kann. Vor allem von Rednern, die die ethische Verantwortung für die Gefühle ihres Publikums nicht übernehmen wollen. Deshalb warnt er in »De oratore«: »Je größer diese Kraft ist, umso mehr gilt es, sie mit Rechtschaffenheit und höchster Klugheit zu verbinden. Wenn wir die Macht der Rede Leuten zur Verfügung stellen, die diese Eigenschaften nicht besitzen, so machen wir sie nicht zu Rednern, sondern geben Rasenden gewissermaßen Waffen in die Hand.«14
Ciceros Forderung nach der ethischen V...