Vom Konflikt zum Kreis
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Vom Konflikt zum Kreis

Von der strafenden zur wiederherstellenden Gerechtigkeit

  1. 132 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Vom Konflikt zum Kreis

Von der strafenden zur wiederherstellenden Gerechtigkeit

Über dieses Buch

In diesem Buch sollen konkrete Wege im Umgang mit Schuld, Scham, Strafe und Vergebung aufgezeigt werden. Wege - weg von einer strafenden, vergeltenden - hin zu einer wiederherstellenden, wiedergutmachenden, versöhnenden Gerechtigkeit.

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Information

Jahr
2019
ISBN drucken
9783746062587
eBook-ISBN:
9783746042602

1.0 Ich schäme mich!

Walter Wink beschreibt eine interessante Rechtspraxis eines Naturvolk, den Negrito: Wenn jemand dort einem anderen Schaden zufügt, seine Hühner stiehlt oder das Haus des Nachbarn anzündet oder was auch immer, dann wird die Person, die das getan hat, in der Mitte eines Kreises gestellt, umringt von den Menschen, die diese Person kennen. Und sie verbringen einen ganzen Tag damit, dass jeder Einzelne aus der Gruppe dieser Person erzählt, durch welche wundervollen Dinge, die sie getan hat, sein Leben bereichert wurde. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Es geht hier um einen Verbrecher, und die erzählen ihm, was er an Schönheit in das Leben eines Mitmenschen gebracht hat. Diese Rechtspraxis hat ein Menschenbild vor Augen, das aus der Vorstellung entstanden ist, dass es unserer menschlichen Natur entspricht, dass wir, wenn wir mit uns verbunden sind, nichts lieber tun als zum Wohlergehen anderer beizutragen.Zitiert nach Marshall B. Rosenberg, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Kann ein Mensch das aushalten? Ich kann mir nur vorstellen, dass dem Deliquenten die Schamesröte ins Gesicht steigt.
„Ich schäme mich!“ – Ich habe etwas Unrechtes getan und es war irgendwie nicht (ganz) richtig. Ich habe eine Grenze überschritten – die Grenze des Normalen, der Werte. Ich habe anderen geschadet – andere weisen mir Schuld zu: Ich schäme mich! Jeder Mensch wird sich ein Gefühl vergegenwärtigen können, bei dem er am liebsten im Boden versunken wäre – Sorge und Angst, den Blicken anderer ausgesetzt zu sein. Er sieht sich in eine Situation versetzt, aus der er sich befreien möchte – untermalt durch körperliche Reaktionen (Erröten, Herzklopfen usw.).
Ich habe das Beispiel der Negrito in ein Rollenspiel für den Religions-unterricht an einer Gemeinschaftsschule im Rahmen eines Projekttages zum Thema „Antigewalt“ umgewandelt. Hier bildeten wir kleine Gruppen. Ein Gruppenmitglied setzte sich in die Mitte; die anderen sagen 10 Minuten nur Gutes über diese Person. In der Auswertung wurde deutlich, wie schwer es dem/der in der Mitte war, diese 10 Minuten auszuhalten. Es geht um Scham, die so geweckt wurde. Erstaunlich: Wir schämen uns, Gutes zu hören! Lieber Kritik - lieber das, was wir gefehlt haben! Erstaunlich: Aber im Grunde glaube ich, dass wir das Gute über uns deswegen nicht hören wollen und können, weil wir uns letztlich unserer Fehler, unseres Herkommens, unseres sozialen Status oder unserer Erfahrungen schämen - Scham der Opfer! Aber auch: Scham der Täter! Soziale Scham: Soziale Scham ist das Gefühl, das an Konfliktpunkten zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht, also zwischen den eigenen Wünschen und den Erwartungen der Gesellschaft.
„Wenn wir uns schämen, fühlen wir uns ‚wie überfallen’ oder überrascht. Wir empfinden uns als unfähig, unzulänglich, minderwertig, hilflos, schwach, machtlos, wertlos, lächerlich, gedemütigt oder gekränkt. Die Beziehung zu Mitmenschen wird schlagartig abgebrochen; unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung richtet sich stark auf uns selbst.“ S. Marks, Scham - die tabuisierte Emotion, Düsseldorf 2009, S. 37 Ich schäme mich vor Verriß, Geringschätzigkeit, Kritik, Gesten der Überlegenheit, Spott, Schuldzuweisungen, soziale Stigmatisierung. Ich habe Angst, lächerlich gemacht und bloßgestellt zu werden oder einen Korb zu erhalten – erniedrigt, gedemütigt oder verachtet zu werden. Der strafende Blick, das verächtliche Stirnrunzeln, das demütigende Wort, der spöttische Ton, das hämische Kichern - ich habe Angst vor Demütigung - “an den Pranger gestellt“ zu werden und viele Menschen ergötzen. Früher war der Pranger eine integrative Strafform: am Pranger stand man ein paar Tage, dem Spott anderer preisgegeben, aber um dann doch wieder in das Gemeinwesen eingegliedert zu werden. Das zeugt von einer hohen Integrationskraft damaliger Dörfer und Städte - heute ist da anders: der Pranger ist das Internet bzw. die Medien, die den Deliquenten vernichten wollen - alles andere als Integration! Vor allem in totalitären Machtkonstellationen, in denen die Opfer den Tätern ausgeliefert sind, kommt es zu solchen Situationen. Die Peiniger bestimmen über die Art und Dauer der Demütigungen.
Fast jeder kennt die Bilder aus Abu Ghraib. Erlebnisse, die sich bei den Opfern ins Gedächtnis einbrennen und ein Trauma auslösen.Traumatische Ereignisse sind zum einen geprägt von körperlicher Gewalt und Lebensgefahr, zum anderen sind es Ereignisse, in denen jemand existentiell seiner Daseinsberechtigung und seiner Würde beraubt wird. Insofern kann man eindeutig sagen, dass Beschämungssituationen als Folter eingesetzt werden.. Das kommt einer psychischen Vernichtung gleich und hat Trauma-Qualitäten. So etwas kann sich für den Rest des Lebens einbrennen. Das ist die Scham der Opfer, aber auch die Scham der Täter – er wird es heimzahlen durch seine Rache – durch sein Delikt. „Scham“ ist ein starkes, aber auch ein destruktives Gefühl. Ein starkes Gefühl in der Funktion als Schutz, als Zugehörigkeit oder als Integrität. In dieser Funktion sensibilisiert Scham „das soziale Individuum für die Meinungen und Empfindungen anderer und wirkt somit als eine Kraft für soziale Kohäsion.“ aus Dr. Jens Léon Tiedemann, Die intersubjektive Natur der Scham, Dissertation : Freie Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, 2007, S. 48 Scham hilft zu einer Haltung des Respekts anderen und sich selbst gegenüber. In der deutschen Sprache gibt e zwei Bezeichnungen für Scham (‚Schande’ und ‚Scham’). Das eine bezeichnet das „Beschämt-Sein“, das andere bezeichnet eine Sensibilität für Scham, eine Art ‚Diskretion’, ‚Ehrfurcht’ oder ‚Takt’. Als starkes Gefühl ist Scham auch Schutz der Intimgrenze und hat eine identitätsfördernde Funktion. Scham schützt bestimmte Ideale und Werte und bewahrt unser Identitätskonzept, Indem sie die Diskrepanz zwischen Ist- und Sollzustand anzeigt. Aus JLTiedemann, aaO, S. 50f: „Antworten auf die Fragen ‚Wer bin ich?’ und ‚Wo gehöre ich hin?’ werden im Schmelztiegel der Scham geschmiedet.“
Scham schützt die Selbstintegrität. Scham soll verdecken und verhüllen oder aber verhüllt werden. In der Scham geht es um Grenzen. Scham schützt den Bereich, der verletzlich ist. Niemand soll diesen Bereich antasten.
Scham verletzt – Scham verhüllt die Schuld. Schamgefühle sind Schutzmechanismen für tiefer liegende Empfindungen. Die unkontrollierbaren Affekte reichen von der Peinlichkeit über den Selbstwertzweifel bis hin zum Trauma („Scham und Schuld sind die Schwestern von Trauma“ von Dami Charf).
Wer gegen das Schamgefühl angeht und die Scham verletzt, ist taktlos. Er unterdrückt und erniedrigt den anderen, indem er ihm mit Macht und Gewalt eine andere Form, eine andere Ordnung, eine andere Seinsweise aufzwängt. Scham ist eine Gefaht, aber auch eine Chance! Scham reguliert unser Verhalten zu dem anderen und unser eigenes Verhalten und hilft dem anderen, sich zu mir in eine Beziehung zu setzen. Scham motiviert, neue Konzepte auszuprobieren (kreativ).
Scham hat etwas Ernüchterndes (reißt aus unserer Traumwandelei). Scham reguliert Abstand zum Anderen und schützt uns vor entwürdigendem Verhalten und Situationen (Angst vor Scham). Scham gibt Selbsterkenntnis. Im sozialen Umfeld wirkt die Scham zweifach: exklusiv (als stigmatisierendes Beschämen) und inklusiv (als reintegrierendes Beschämen). Die folgenden Gedanken sind inspiriert von: Prof. Dr. Dieter Rössner (Institut für Kriminalwissenschaften Philipps - Universität Marburg), Täter-Opfer-Ausgleich im allgemeinen Strafrecht - Rechtsgrundlagen, Praxis und faktische Wirkung (Internet-Recherchen).
Als Stigmatisierter bleibt der Täter verurteilt; wird ihm die Rückkehr in die Gesellschaft verwehrt (Exklusion) – der Zugang zu Arbeit, Ausbildung und gesellschaftlicher Anerkennung wird wegen seiner Verurteilung eher blockiert. Dadurch wird die Attraktivität delinquenter Subkulturen sowie eine Rückfallgefährdung erhöht. Stigmata sind u.a. Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Sucht, Homosexualität, Arbeitslosigkeit oder Suizidversuche. Aus Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/Main 1970, S.10ff.
Inklusiv oder integrativ regelt Scham als Hüterin der Werte und als Hüterin sozialer Prozesse Nähe und Distanz, Grenzziehungen, Verantwortung, Schuldempfinden und Versöhnung. „Antworten auf die Fragen ‚ Wer bin ich?’ und ‚Wo gehöre ich hin?’ werden im Schmelztiegel der Scham geschmiedet.“ (J.L. Tiedemann) „Scham ist die Hüterin der menschlichen Würde“ (Leon Wurmser). Wie kann ich mir und meinem Gegenübder helfend zur Seite stehen, mit der Frage: Wie lernen wir, uns selbst als wertvollen Menschen zu sehen, wir, die wir für das Zusammenleben in der Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag leisten können? Wie äußert sich Scham? Und worin liegt der Unterschied zwischen ganz normalen, konstruktiven und übertriebenen, destruktiven Schamgefühlen? Warum bekommen tief beschämte Menschen ihr Leben nicht in den Griff, solange sie nicht verstanden haben, was Scham eigentlich ist und wie sie sich auswirkt.
Anhand von vier kleinen Beispielen will ich unterschiedliche Dimensionen der Scham aus Alltagssituationen vorstellen, mit möglichen Reaktionen. Die ganze Persönlichkeit ist betroffen Ein zweijähriges Kind erkundet die Welt. Im Garten ent deckt es ein schönes Plätzchen, wo es glücklich im weichen Sand spielt. Es ist stolz auf seine Leistung. »Schau her«, scheint es sagen zu wollen, „seht mal, was ich schon alles kann! Ich bin gut.“ Da schreit die Mutter: „Schau dich bloß mal an! Wie siehst du nur aus! Alles dreckig und deine Kleider sind hin! Du hast mich sehr enttäuscht, du solltest dich schämen!“ Sofort fühlt sich das Kind klein und häßlich. Es läßt den Kopf sinken und starrt zu Boden. Es sieht die schmutzigen Hände und Kleider und beginnt sich auch innerlich unrein zu fühlen. „Irgend etwas an mir muss sehr schlecht sein“, denkt es, „so schlecht, daß ich nie wirklich sauber sein werde.“ Das Kind bekommt die Verachtung der Mutter zu spüren und fühlt sich unzulänglich.
Ein sechzehnjähriges Mädchen hat seit kurzem einen Freund. Er scheint sehr rücksichtsvoll zu sein;niemalsversucht er, sie zu etwas zunötigen, das sie nicht mag. So wächst von Tag zu Tag ihr Vertrauen zu ihm. In der Schule schicken sie sich kleine romantische Botschaften zu. Dar in nennt er sie liebevoll „Sexy Girl“. Eines Tages, als sie in der Schule an einem Kameraden ihres Freundes vorübergeht, ruft dieser ihr zu: „Hey, Sexy Girl, wie geht’s denn?“ Schlagartig geht ihr auf, daß ihr Freund die Briefchen offenbar auch anderen gezeigt hat, und sofort fühlt sie sich gedemütigt. Ihr Gesicht glüht vor Verlegenheit, und sie würde am liebsten fortrennen. Sie hat das Gefühl, jeder könne in sie hinein - und durch sie hindurchsehen. Als ihr Freund später anruft, um sich zu entschuldigen, ist sie bereits wütend. »Verschwinde!« schreit sie ihn an. „Das kann ich dir nie verzeihen. Ich werde nie mehr mit dir sprechen!“
Ein Mann in mittlerem Alter hat in einer kleinen Firma einen sicheren Arbeitsplatz. Die Aussichten für sein berufliches Fortkommen scheinen sehr gut zu sein, und seine Vorgesetzten schreiben ständig hervorragende Beurteilungen. Er weiß, daß er auch unter seinen Kollegen einen guten Ruf hat. Eines Tages hat dieser Mann einen kleinen Fehler gemacht, worauf sein Chef ihn kritisiert. Vielleicht ist er zu einer Sitzung zu spät erschienen, vielleicht hat er vergessen, einer Sendung die Rechnung beizulegen. Jedenfalls ist kein nennenswerter Schaden entstanden. Der Vorgesetzte weist den Mann lediglich auf das Problem hin, ohne aggressiv zu werden. Trotzdem fühlt sich der Mann völlig am Boden zerstört. Er „weiß“, daß etwas Grundlegendes bei ihm nicht in Ordnung ist. Er glaubt, nunmehr sei er als Betrüger bloßgestellt, und ist sich sicher, die anderen würden denken, er sollte hier nicht länger arbeiten. Er ist nicht perfekt - also muß er wertlos sein. Er verbringt Stunden damit, sich an jeden einzelnen Fehler zu erinnern, den er je an seinen verschiedenen Arbeitsplätzen gemacht hat, und fühlt sich dabei nur noch schlechter. Er zieht sich in sein Büro zurück, schließt die Tür und versteckt sich dort für den Rest des Tages. Er weiß, daß er nie gut genug sein wird.
Ein älterer Mann verbringt die meiste Zeit damit, alle anderen zu kritisieren: Seine Frau ist dumm, sein Sohn faul, seine Tochter albern; seine Freunde sind ungehobelt, die Welt ist schlecht. Er zögert nicht, die anderen wissen zulassen, daß er selbst tüchtiger, vernünftiger und überhaupt besser sei als sie. Deutlich gibt er seine Überlegenheit kund und erwartet, daß man ihn respektiert. Vielleicht nehmen ihm einige Menschen dieses Image ab; andere hingegen merken, daß dieser Mann nur eine Maske trägt. Sie können seine großtuerische und arrogante Haltung durchschauen und erkennen, daß er innerlich unsicher und alles andere als vollkommen ist. Ihnen entgeht nicht, daß der Mann zwar versucht, die Welt davon zu überzeugen, daß er besser sei als die anderen, daß er sich in Wirklichkeit aber unterlegen fühlt. Mit einem solchen Menschen zusammenzuleben ist allerdings recht schwierig, empfindet er doch für seine Mitmenschen nichts als Verachtung. Und diese ziehen sich deshalb, anstatt den Mann zu achten oder gar zu verehren, von ihm zurück, gehen ihm aus dem Weg und hüten sich, ihm irgendetwas über sich selbst mitzuteilen.
Alle vier Menschen in diesen Beispielen haben etwas gemeinsam: ihr Schamgefühl. Scham ist ein schmerzliches, im ganzen Körper spürbares Gefühl. Es kommt in vielen Varianten vor und äußert sich jeweils immer ganz unterschiedlich. Die Schamgefühle des kleinen Mädchens etwa sind stärker körperlich und weniger vom Verstand her geprägt als die des älteren Mannes. Das unmittelbare Gefühl des Teenagers, bloßgestellt und gedemütigt worden zu sein, unterscheidet sich von den weitreichenden Zukunftsängsten des Firmenangestellten.
Der ältere Mann verbirgt seine Scham mehr vor sich selbst als vor den anderen, wohingegen der Angestellte sie wie ein großes Ge heimnis für sich behält. Nur der Teenager hat in diesen Beispielfällen die Scham in Wut umgesetzt. Gleichwohl weisen alle Schamerfahrungen folgende gemeinsame Züge auf: eindeutige und starke Körperreaktionen, unbequeme Gedanken, gestörtes Verhalten und geistige Agonie.
Die körperliche Komponente des Schamgefühls Plötzlich starken Schamgefühlen ausgesetzt zu sein ist eine niederschmetternde Erfahrung. Noch im Augenblick zuvor erschien es so, als fühlten wir uns wohl und voller Energie, Selbstvertrauen und Freude. Dann geschieht plötzlich etwas Schlimmes, vielleicht etwas so Belangloses wie die Wahrnehmung eines Fleckes auf unserer Bluse oder unserem Hemd, vielleicht etwas so Eindeutiges wie die lautstarke Zurechtweisung durch unseren Chef wegen eines Fehlers. Das sind Augenblicke, in denen wir am liebsten gelassen und gefasst bleiben würden. Auf solche Situationen würden wir am liebsten mit Würde, Anstand und Ausgeglichenheit reagieren. Wenn nur unser Körper dabei mitspielen würde! Stattdessen fühlen wir, wie uns heiß wird im Gesicht. Aus irgendeinem Grund können wir uns nicht dazu zwingen, geradeaus zu blicken, weil unsere Augen darauf bestehen, mit dem Kopf vornüber zu sinken und nach unten zu starren. Vielleicht legt sich auch eine Zentnerlast auf unsere Brust. Oder unser Herz pocht bei dem Gedanken, daß wir gerade jetzt unseren Körper nicht unter Kontrolle haben. Manche von uns spüren auch ein flaues Gefühl im Magen. Die Zeit scheint dahin zu schleichen, während wir vor lauter Unsicherheit am liebsten im Boden versinken möchten. Wir können kaum sprechen, so beschämt sind wir. Sind diese unmittelbaren Schamsignale schon schlimm genug, so geht es uns anschließend vielleicht sogar noch schlechter. Wir schämen uns nämlich wegen unserer Scham. Vielleicht versuchen wir verzweifelt uns einzureden, daß wir ruhiger werden müssen, aber unser Körper weigert sich weiterhin zuzuhören. Die Wärme steigert sich zur Hitze, und wir erröten vor Verlegenheit. Jetzt senken wir abrupt den Blick und müssen gegen die übermächtige Versuchung ankämpfen, uns zu verkriechen und der ganzen peinlichen Situation den Rücken zuzukehren. Vielleicht empfinden wir jetzt sogar einen Brechreiz. Unsere Scham macht uns krank. Nicht alle Anfälle von Scham sind so schmerzlich. Aber fast immer macht sich die Scham körperlich bemerkbar.
Zu den subtileren Ausdrucksformen gehören: kurzes Zögern oder Wegsehen beim Sprechen, eleganter Themenwechsel im Gespräch und kaum spürbare Hitzewallungen im Gesicht, die mit Beeinträchtigungen des Wohlbefindens einhergehen. Zuallererst ist die Scham ein Gefühl.
Zwei weitere körperliche Reaktionen kommen bei Schamanfällen recht häufig vor: Wir fühlen, wie wir immer kleiner werden, während die Menschen um uns herum anscheinend immer größer, lauter und gefährlicher werden. Es ist, als würden wir zusammenschrumpfen. Tatsächlich haben wir unseren Körper vielleicht sogar zusammengezogen, instinktiv Arme und Beine eingezogen. In dem wir uns kleiner machen, versuchen wir, uns zu schützen. Menschen, die solche Situationen erlebt haben, berichten, daß sie sich im Bann der Scham wieder wie kleine Kinder fühlten.
Obwohl sie den totalen Rückzug versuchen, fühlen sich beschämte Menschen offen, verwundbar und vor anderen bloßgestellt. Dabei handelt es sich um etwas Schwerwiegenderes als einen Gedanken - nämlich um eine physische Reaktion, die sehr unbequem werden kann. Der Blick eines anderen Menschen berührt einen dann beinahe körperlich. Die eigene Haut scheint durchsichtig zu werden, so daß andere scheinbar direkt durch uns hindurchsehen können. Wer Scham emp...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhaltsverzeichnis
  2. Vorwort
  3. 1.0 Ich schäme mich!
  4. 1.2 „Reintegrative Shaming“
  5. 1.3 „Reintegrative Shaming“ & Gefängnisseelsorge
  6. 1.4 Adam und Eva
  7. 1.5 Umgang mit Scham
  8. 2.0 Restorative Justice - ein Definitionsversuch
  9. 2.1 „Restorative Justice“ - „to make things right“
  10. 2.2 „Restorative Justice“ - ein Beziehungsparadigma
  11. 2.3 „Restorative Justice“ - ein spiritueller Weg
  12. 2.4 Täter-Opfer-Mediation - ein Definitionsversuch
  13. 2.5 „Restorative Justice“ und Täter-Opfer-Ausgleich
  14. 3.0 Versöhnungskommission in Südafrika
  15. 3.1 Unsere Sprache verrät unser Denken
  16. 3.2 Strafen hat seinen Preis
  17. 3.3 Indigene Traditionen von Gerechtigkeit
  18. 3.4 Christliche Traditionen von Gerechtigkeit
  19. 3.5 „Restorative Justice“ in Norwegen
  20. 3.6 Neues Paradigma „Restorative Justice“
  21. 3.7 Das „Säulen“-Modell
  22. 4.0 Methoden des „Restorative Justice“
  23. 4.2 Der Mediationsprozess
  24. 4.3 Prinzipien für Mediationsprozesse
  25. 4.4 „Gewaltfreie Kommunikation“
  26. 4.5 Dialektisch-Behaviorale-Therapie (DBT)
  27. 4.6 Das Problem „Dritte Säule“ – „Community“
  28. 4.7 Anknüpfungspunkte
  29. 5.0 Vom Konflikt zum Kreis
  30. 5.1 Der Kreis – ein Urphänomen
  31. 5.2 Der Status Quo
  32. 5.3 Ein neuer – alter Weg
  33. 5.4 Kreisverfahren im Strafvollzug
  34. 5.5. Ein Ausblick
  35. 5.6 Quellen
  36. 5.7 Schlusshinweis
  37. Impressum