1 Einleitung
Dynamische Zeiten erfordern höhere Flexibilität und neue Situationen erfordern differenzierte Blickwinkel. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig. Die Rede ist vom Wirkungszusammenhang des strategischen Managements, der Unternehmen und ihrer eigenen Umwelt im Rahmen der Evolutionstheorie. Es wird mithilfe der Evolutionstheorie im strategischen Management möglich sein, aus unternehmerischer Sicht auf neue Probleme mit ebenfalls neuen und innovativen Lösungen zu reagieren, auch wenn diese auf den ersten Blick für das heutige Management ungewohnt sind und deshalb befremdlich wirken können. Deshalb kann es sich keine zukunftsorientierte Führungskraft leisten, auf das Verständnis der Evolutionstheorie im Rahmen des strategischen Managements zu verzichten.
1.1 Problemstellung und Relevanz
In Zeiten schneller Veränderung und großer Unsicherheit, ausgelöst durch verschiedene geopolitische und wirtschaftliche Krisen, sowie reaktionsbeschleunigende Trends (Globalisierung, technologischer Wandel, etc.), stoßen Unternehmenskonzepte einer „maschinenorientierten“ Unternehmensführung schnell an ihre Grenzen. Da sich besonders in den letzten Jahren der Veränderungsdruck auf Unternehmen massiv erhöhte, ist es notwendig, das bisherige stabilitätsorientierte Verständnis im strategischen Management mit einem auf Veränderungen basierendem Konzept zu kombinieren (vgl. Baden-Fuller/Volberda 1997, S. 95 f.). Dazu ist es ebenfalls notwendig, dass die mentalen Modelle von Managerinnen/Managern aufgrund verschiedener Umweltveränderungen adaptiert werden (vgl. Barr et al. 1992, S. 16). Diese hohen Ansprüche an das Unternehmen und das Top-Management können mit entsprechenden strategischen Maßnahmen und Überlegungen erfüllt werden. Es ist wichtig zu begreifen, dass Strategien nie vollständig niedergeschrieben sind, sondern sich aus der Kombination externer Events und gemeinsamer interner Handlungsentscheidungen der Managerinnen/Manager entwickeln. Strategien entstehen also zu einem großen Teil in einem evolutionären Prozess (vgl. Quinn 1980, S. 15).
1.2 Zielsetzung und Forschungsfrage
Die Zielsetzung dieser Arbeit ist die Erarbeitung strategischer Empfehlungen für das Top-Management im Rahmen der Evolutionstheorie, die sowohl die Interdependenzen einer Organisation mit ihrer Umwelt, als auch die nach innen gerichteten Beziehungen unter Berücksichtigung des Wissensmanagements behandelt. Bei evolutionstheoretischen Ansätzen wird der Vorteil der größeren Realitätsnähe durch eine höhere Komplexität der Modelle erreicht. Zur Zielsetzung gehört es somit ebenfalls, eine leicht verständliche Verbindung zwischen der hohen Abstraktionsebene und der Praxis zu schaffen. Die besondere Herausforderung ist, dass diese strategischen Handlungsempfehlungen das Top-Management unabhängig von der jeweiligen Branche, Unternehmensgröße oder dem Land des Unternehmenssitzes, bei der Unternehmensführung in dynamischen Umweltbedingungen unterstützen sollen. Auch wenn sich diese Arbeit primär als Strategie-Guide an das Top-Management richtet, soll jede interessierte Leserin/jeder interessierte Leser das Wissen um die Evolutionstheorie in ihrer/seiner jeweiligen Situation anwenden oder zumindest nachvollziehen können (vgl. Müller-Stewens/Lechner 2011, S. 139).
Diese Arbeit soll die oben angeführte Zielsetzung bestmöglich erfüllen. Im Bereich der Evolutionstheorie wird in dieser Arbeit der Versuch unternommen, folgende Forschungsfrage sowie die dazugehörige Unterfrage zu beantworten:
Forschungsfrage:
Gibt es zusätzlich zum klassischen biologischen Dreischritt der Evolutionstheorie (Variation, Selektion, Retention) eine Funktion der Wissensspeicherung (Erinnerung, Gedächtnis) auf die das Top-Management zugreifen kann, um aus vergangenen Selektionsprozessen zu lernen?
Unterfrage:
Wie kann der biologische Dreischritt dazu genutzt werden, eine lernende Organisation zu etablieren, weiterzuentwickeln und für die strategische Führung zu nutzen?
1.3 Methodische Vorgehensweise
Die qualitative Ausarbeitung dieser Arbeit stützt sich auf eine deskriptive und deduktivnomologische Untersuchung im Rahmen mehrerer Experteninterviews. Der deskriptive Charakter ist aufgrund der beschreibenden und analytischen Funktion dieser Arbeit gewählt und soll in weiterer Folge das Gewähren von Handlungsempfehlungen ermöglichen. Der deduktiv-nomologische Charakter wird aufgrund verschiedener, bereits vorhandener, empirischer Untersuchungen des strategischen Managements und der Evolutionstheorie gewählt und soll somit Kausalzusammenhänge erklären. Zusätzlich wird vor den Experteninterviews eine Analyse von Sekundärdaten stattfinden, mit Hilfe derer gegenwärtiges Evolutionspotenzial erkennbar und vergangenes erklärt werden soll. Dazu werden vor dem Teil der quantitativen Datenanalyse Hypothesen aufgestellt, die mit der darauffolgenden Analyse bestätigt oder widerlegt werden sollen. Die Erkenntnisse dieser Datenanalyse werden gemeinsam mit dem Wissen über die Evolutionstheorie in den Experteninterviews behandelt.
Aufgrund der hohen Flexibilität in der Durchführung von Experteninterviews erhofft sich der Autor nicht nur die individuelle Beantwortung der gestellten Fragen, sondern ebenfalls die Einbringung des Praxiswissens und der Erfahrungen der jeweiligen Expertinnen/Experten. Dadurch ergibt sich die Chance, den persönlichen Match zwischen dem Weltbild der Expertinnen/Experten und dem Verständnis über die Evolutionstheorie qualitativ im Rahmen der Befragungen zu erfassen. Durch die kontextbezogene Auswertung der Interviews kann somit neu vermitteltes Wissen flexibel berücksichtigt werden. Aufgrund der zu erwartenden hohen Diversität der Blickwinkel der Expertinnen/Experten und der einfachen Bereicherung des abstrakten Themas um zusätzliche Praxiskomponenten, wird letztendlich das Experteninterview als durchzuführende Methodik gegenüber allen anderen qualitativen Methoden bevorzugt.
1.4 Aufbau der Arbeit
Die Zielgruppe der nachfolgenden Abhandlung ist grundsätzlich das Top-Management, deshalb wird es in den nachfolgenden Seiten auch oft direkt angesprochen. Trotzdem richtet sich diese Arbeit auch an alle interessierten Leserinnen/Leser und ermutigt diese, das eigene Unternehmen aus einem evolutionstheoretischen Blickwinkel zu betrachten. Die Anwendbarkeit der Evolutionstheorie steht dabei stets im Fokus.
Der Aufbau dieser Abhandlung berücksichtigt den notwendigen Perspektivenwechsel der Leserin/des Lesers, weg von der gewohnten Neoklassik hin zur Evolutionstheorie. Aus diesem Grund werden in den ersten beiden Abschnitten des Kapitels 2 die zwei Denkrichtungen vorgestellt und voneinander abgegrenzt. Anschließend werden im Abschnitt 2.3 allgemeine Elemente der Evolutionstheorie behandelt. Das darauffolgende Kapitel 3 behandelt die mikroökonomische Ebene der Evolutionstheorie. Hier liegt der Fokus auf dem Unternehmen als Organismus im Rahmen der Evolutionstheorie, auf dem sämtliche weiteren Abhandlungen zur Evolutionstheorie aufbauen. Das Grundverständnis des Kapitel 2 wird vertieft und mit praxisnahen Beispielen veranschaulicht. Das Kapitel 4 beschäftigt sich schließlich mit der Bedeutung der Ressource „Wissen“ und dem dazugehörigen Wissensmanagement als einer wesentlichen Kompetenz der Unternehmensführung. Dieser Abschnitt dient dazu, bereits wesentliche Systemlogiken der Evolutionstheorie wiederzuerkennen. Eine nachhaltige Unternehmensführung verfügt jedoch nicht nur über Wissen betreffend des eigenen Unternehmens, sondern auch betreffend der Unternehmensumwelt. Deshalb beschäftigt sich das Kapitel 5 dieser Arbeit mit der meso- und makroökonomischen Perspektive der Evolutionstheorie. Die dahinterstehende Logik dieses Aufbaus ist, auf der Basis des Verständnisses des eigenen Unternehmens auch Konkurrenten und ganze Märkte verstehen zu können. Den Theorieteil schließt der letzte Abschnitt des Kapitel 5 ab, in dem mit der Messung der Unternehmensvarietät ein wertvolles Instrument zur evolutionstheoretischen Bewertung vorgestellt wird.
Der empirische Teil dieser Arbeit beschäftigt sich im ersten Schritt mit der Vorstellung des Forschungsdesigns und der verwendeten Methodiken. Dabei wird im Kapitel 7 die Sekundärdatenanalyse als quantitative Methodik und im Kapitel 8 die Experteninterviews als qualitative Methodik vorgestellt und anschließend durchgeführt. Die Sekundärdatenanalyse beschäftigt sich mit der Anwendung eines Messinstruments, mit dessen Hilfe Evolution sichtbar gemacht werden kann. In den Experteninterviews wird das Wissen der befragten Expertinnen/Experten genutzt, um zusätzliche praxisrelevante Informationen zu erhalten. Durch dieses Vorgehen werden sowohl Primär- als auch Sekundärdaten erhoben und in diese Abhandlung eingearbeitet. Dadurch sollen die Evolutionstheorie und die Praxis der Evolution verbunden werden. Das Kapitel 9 bildet mit der Conclusio den Abschluss dieser Arbeit und besteht aus den tatsächlichen Handlungsempfehlungen an das Top-Management, der Beantwortung der Forschungsfrage und der Ausführung zu weiteren interessanten Forschungsbereichen.
Teil A: THEORIE
2 Die Evolutionstheorie als Instrument des strategischen Managements
Die grundlegende Abgrenzung der verschiedenen ökonomischen Schulen voneinander kann auf zwei wesentliche Denkrichtungen heruntergebrochen werden. Dieser Schritt ist möglich, sofern die ökonomischen Schulen nach ihren zentralen Elementen charakterisiert werden. Somit ergibt sich auf der einen Seite des Theoriespektrums die Neoklassik mit ihrer Gleichgewichtsorientierung und auf der anderen Seite des Denkspektrums die evolutionäre Ökonomik mit ihrer Prozessorientierung. Alle weiteren Unterschiede dieser zwei Richtungen – sei es ein unterschiedlicher Ordnungsbegriff oder ein anderes Menschenbild – sind das Ergebnis dieser differierenden Ansatzpunkte in der Erklärung der beobachteten ökonomischen Realität. (vgl. Fehl 2005, S. 78)
Diese Arbeit ist in der evolutionstheoretischen Denkrichtung verwurzelt. Nichtsdestotrotz ist es aus Gründen der besseren Verortung der Evolutionstheorie notwendig, die Grundzüge der Neoklassik im Kapitel 2.1 – Die Neoklassik als Ausgangspunkt einer neuen Welt – zu behandeln. Durch die deutlich stärkere Verbreitung der Neoklassik ist es ohne große Mühe möglich, die Leserinnen und Leser von ihrem jeweiligen Wissensstand abzuholen und langsam an die Materie der Evolutionstheorie heranzuführen. Dazu wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit, im Kapitel 2.2, die Evolutionstheorie gegen die Neoklassik abgegrenzt, um die grundlegenden Unterschiede bereits zu Beginn dieser Arbeit sichtbar zu machen und die interessierten Leserinnen/Leser das erste Mal mit der Evolutionstheorie in Kontakt zu bringen. Dies soll es erleichtern, diese zwei Denkrichtungen in der eigenen Wahrnehmung erfolgreich einordnen und die jeweiligen Vor- und Nachteile der theoretischen Konzepte erkennen zu können. Diese Vorgehensweise erleichtert ein flexibles Umdenken und eröffnet in den verschiedensten Sachverhalten eine neue Perspektive. Die restlichen Kapitel dieser Arbeit behandeln ausschließlich Themen der Evolutionstheorie. Angefangen bei grundlegenden Betrachtungen bis hin zu einem tieferen Verständnis und einer detaillierteren Behandlung des Theorierahmens. Ziel des Kapitels 2 dieser Arbeit – Die Evolutionstheorie als Instrument des strategischen Managements – ist es somit, ein bereits sehr vertiefendes Wissen und Verständnis zur Evolutionstheorie im wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhang zu vermitteln.
2.1 Die Neoklassik als Ausgangspunkt einer neuen Welt
In den Wirtschaftswissenschaften und den jeweiligen Teildisziplinen erfreuen sich Gleichgewichtsmodelle großer Beliebtheit. Klare und eindeutige Wirkungszusammenhänge ermöglichen innerhalb verschiedenster Modelle Analysen der zu untersuchenden Situation. Diese künstliche Reduktion der natürlichen Komplexität hat aber einen Nachteil: sie ist künstlich.
Einige Ökonomen halten dynamische oder statische Gleichgewichtstheorien für realitätsgetreue Abbilder der Wirklichkeit. Sie geben zwar zu, dass das jeweilige Objekt der Betrachtung nie genau im Gleichgewicht sein kann, vertreten aber die Ansicht, dass es sich stets ausreichend nah an diesem Gleichgewicht befindet, um Rückschlüsse auf die jeweils aktuelle Situation ziehen zu können. (vgl. Nelson 1995, S. 49, 50) Ein legitimer Ansatz, der weit verbreitet ist. Ähnlich einer verbreiteten Technik um die Größe eines Objekts in der Ferne zu schätzen: man stellt sich ein Objekt vor, von dem man die Größe kennt und multipliziert dieses mit der eigenen Vorstellungskraft so lange, bis die Größe des Gegenstandes ungefähr abgeschätzt werden kann. Diese Schätzmethode unterliegt jedoch vielen Bedingungen, angefangen beim räumlichen Vorstellungsvermögen, über die Erinnerungskraft und sogar bis zur Sehstärke der/des Schätzenden. Da es für die Beurteilung einer Aussage entscheidend ist, ihre zugrundeliegenden Bedingungen zu kennen und zu berücksichtigen, ist es auch an dieser Stelle notwendig, die Grundlagen der Neoklassik zu kennen. Nur durch das Wissen über das Eine wird eine Abgrenzung des Anderen ermöglicht.
Die Grundbestandteile neoklassischer Ansätze haben ihre Wurzeln in der „Theorie der Unternehmen“. Dabei produzieren Unternehmen in einer, von Konkurrenten geprägten und wettbewerbsorientierten Industrie. Diese Unternehmen können betreffend der Beschaffung ihrer Inputs und der Produktion ihrer Outputs zu jedem Zeitpunkt aus einem vordefinierten Set an Alternativen wählen. Der treibende Gedanke der Unternehmen hinter der tatsächlichen Wahl der einzelfallbezogen richtigen Alternative, aus Sicht der Neoklassik, ist die Maximierung des aktuellen Unternehmenswerts beziehungsweise der Unternehmensgewinne. Während das Unternehmen versucht, durch die bestmögliche Wahl an Input/Output-Kombinationen den eigenen Gewinn zu maximieren, ist es externen Zuständen ausgeliefert. (vgl. Nelson/Winter 1974, S. 887)
Als einer dieser Zustände kann die jeweilige Branche angeführt werden, in der sich das Unternehmen zwangsweise befindet. Dabei wird vorausgesetzt, dass diese Branche im Gleichgewicht ist. Unter der Gleichgewichtssituation der Branche wird verstanden, dass Angebot und Nachfrage auf sämtlichen relevanten Märkten dieser Branche ausgewogen sind. Das bedeutet im neoklassischen Verständnis weiters, dass kein Unternehmen seine Marktstellung verbessern kann, indem etwas getan wird, das bereits Konkurrenten tun. Auf einer makroökonomischen Ebene mit einer einzigen Branche kommt es in diesem System zum Wachstum, wenn die Produktionsfaktoren über die Zeit erhöht werden, es folglich zu einer gesteigerten Produktion und somit zu einer Ausweitung des Angebots kommt. Zusätzlich müssen Nachfrageänderungen ebenfalls berücksichtigt werden. Die gewinnmaximierenden Unternehmen befinden sich somit in einem Gleichgewicht, das durch die Veränderungen der technologischen Bedingungen, des Angebots an Produktionsfaktoren und der Nachfrage nach Produkten bewegt wird. (vgl. Nelson/Winter 1974, S. 887)
Neben dem Gleichgewichtskonzept als Kern der Neoklassik und den Unternehmen als Mengen-anpasser in vollkommenen Märkten gibt es noch zwei weitere zentrale Annahmen dieses Denkansatzes. Dabei geht es bei der ersten Anna...