II. DIE INTUITIVE GEIST-ERFAHRUNG
Nachdem wir im ersten Teil gezeigt haben, wie Rudolf Steiner den Begriff der Intuition aus erkenntnistheoretischen Fragestellungen entwickelte, wenden wir uns nun der geisteswissenschaftlichen Seite zu. In einem Aufsatz über Goethes geheime Offenbarung erscheint zum ersten Mal das mystische Motiv des „Stirb-undwerde“. In der Schrift über Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens wird die Intuition als mystisches Erkennen eines inneren, höheren Sinns beschrieben. In Das Christentum als mystische Tatsache charakterisiert Rudolf Steiner alte Einweihungswege, die zur Erweckung dieses höheren Sinnes führten. In der Theosophie liegt der Schwerpunkt auf dem, was durch den intuitiven Sinn wahrgenommen wird: die geistigen Urbilder der Welterscheinungen. Wie man sich schulen kann, um mit dem intuitiven Sinn zu wirklichkeitsgemäßen Erkenntnissen zu kommen, wird in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? beschrieben. In Die Stufen der höheren Erkenntnis findet sich eine Schilderung der „Erkenntnislehre der Geheimwissenschaft“, in der Steiner die drei höheren Erkenntnisstufen Imagination, Inspiration und Intuition einführt und erläutert. Schließlich besprechen wir einige Aufsätze, die u.a. den Zusammenhang des intuitiven Erkennens mit Aristoteles und Johann Gottlieb Fichte aufzeigen. Weiterhin zeigen wir die Auffaltung des Intuitionsbegriffs in die vier Stufen des Erkennens, stellen Rudolf Steiners Konzept der Erkenntnis der ‚wahren Wirklichkeit‘ dar und besprechen schließlich die moralische Intuition als Grundlage freien Handelns.
GOETHES GEHEIME OFFENBARUNG (1899/1900)
– DAS ERSTE AUFBLITZEN DER ESOTERIK DER
INTUITION
In diesem Kapitel beschreiben wir die Voraussetzung, um vom gewöhnlichen Denken zum vollbewussten Erleben des Intuitiven zu gelangen: Die Überwindung der Alltagspersönlichkeit durch ein „Stirb-und-werde“.
Was Rudolf Steiner in Anlehnung an Goethe und den deutschen Idealismus ausgearbeitet hatte, das wurde nach der Jahrhundertwende zur Beschreibung realer, mystischer Geisterfahrung. Ein erstes öffentliches Aufleuchten spiritueller Erfahrungen und Erkenntnisse, wie sie von da an die gesamte weitere Lehrtätigkeit Steiners charakterisiert, finden wir in dem 1899 zu Goethes Geburtstag im Magazin für Literatur veröffentlichten Aufsatz Goethes geheime Offenbarung über Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie.46 Von diesem Aufsatz schrieb Steiner in seiner Autobiographie:
„Der Wille, das Esoterische, das in mir lebte, zur öffentlichen Darstellung zu bringen, drängte mich dazu, zum 28. August 1899, als zu Goethes hundertfünfzigstem Geburtstag, im ‚Magazin‘ einen Aufsatz über Goethes Märchen von der ‚grünen Schlange und der schönen Lilie‘ unter dem Titel ‚Goethes geheime Offenbarung‘ zu schreiben. - Dieser Aufsatz ist ja allerdings noch wenig esoterisch. Aber mehr, als ich gab, konnte ich meinem Publikum nicht zumuten. - In meiner Seele lebte der Inhalt des Märchens als ein durchaus esoterischer. Und aus einer esoterischen Stimmung sind die Ausführungen geschrieben.“ (28\391)
Wahrscheinlich am Michaelstag, dem 29. September 1900, hielt Steiner dann in der Berliner Theosophischen Bibliothek einen Vortrag47 zu demselben Thema, von dem er schrieb:
„In diesem Vortrag wurde ich in Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen durchleuchten zu lassen.“ (28\392)
Unsere bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass auch schon in den philosophischen Auseinandersetzungen von einem geistigen Erleben die Rede ist, welches weit über den Erfahrungsraum des gegenständlichen und abstrakt denkenden Bewusstseins hinausreicht.48 Mit seinem Aufsatz über Goethes Märchen betritt Rudolf Steiner nun erstmals das Feld öffentlicher Darstellung dieses esoterischen Raumes und des Weges, auf dem man in ihn gelangen kann. Der alles entscheidende Punkt ist dabei von Anfang an deutlich genannt49:
„Aber nur die selbstlose Erkenntnis, die in den Dingen ganz aufgeht und die in der Schlange verbildlicht wird, kann zu der Einsicht kommen, dass das Höchste nur durch die selbstlose Hingabe erreicht werden kann. Der Mensch, der seine Alltagspersönlichkeit absterben lässt, um den idealischen Menschen in sich zu erwecken, erreicht dieses Höchste. Was ein Mystiker wie Jakob Böhme mit den Worten ausgesprochen hat: der Tod ist die Wurzel alles Lebens, das hat Goethe mit der sich opfernden Schlange zum Ausdruck gebracht. Wer nicht loskommen kann von seinem kleinen Ich, wer nicht imstande ist, das höhere Ich in sich auszubilden, der kann nach Goethes Ansicht nicht zur Vollkommenheit gelangen. Der Mensch muss als einzelner absterben, um als höhere Persönlichkeit wieder aufzuleben. Das neue Leben ist dann erst das menschenwürdigste, dasselbe, das, nach Schillers Weise zu sprechen, weder von der Vernunft noch von der Sinnlichkeit eine Nötigung empfindet. Im ‚Diwan‘ lesen wir Goethes schönes Wort: ‚Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.‘ Und einer der ‚Sprüche in Prosa‘ heißt: ‚Man muss seine Existenz aufgeben, um zu existieren‘. Die Schlange gibt ihre Existenz auf, um die Brücke zu bilden zur Verbindung der beiden Reiche, dem der Sinnlichkeit und dem der Geistigkeit. Der Tempel mit seinem bunten Gewimmel ist das höhere Leben der Schlange, das sie durch den Tod ihrer niederen Natur erkauft hat. Ihre Worte, sie wolle sich freiwillig aufopfern, um nicht aufgeopfert zu werden, sind nur ein anderer Ausdruck für Jakob Böhmes Satz: ‚Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt‘; das heißt, wer dahinlebt, ohne die niedere Natur in sich abzutöten, der stirbt zuletzt, ohne eine Ahnung zu haben von dem idealischen Menschen in sich.“ (30\94)50.
Stirb und werde, finde zur selbstlosen Erkenntnis – das ist die Voraussetzung, um vom diskursiven Denken zum Erleben der Intuition zu kommen. Selbstlos ist eine Erkenntnis, die vollständig in ihre Gegenstände untertauchen, mit ihnen eins werden kann. Dann wird nicht mehr versucht, das Lebendige aus toten, physikalischchemischen Prozessen abzuleiten oder das Seelische aus Gehirnvorgängen, sondern Leben und Seele werden in ihrer phänomenalen Eigentümlich- und Eigenwirklichkeit je so genommen, wie sie sich der unbefangenen Beobachtung präsentieren, und zu diesen Erscheinungen werden die zu ihnen gehörenden, in ihnen wirksamen Intuitionen nach dem in den vorangehenden Kapiteln beschriebenen Erkenntnisverfahren hinzugefügt. Mit dem „Stirb und werde“ wird Erkennen zu einer wirklichen und damit auch zu einer moralischen Angelegenheit.51
DIE MYSTIK IM AUFGANGE DES NEUZEITLICHEN
GEISTESLEBENS (1901) – DIE ERWECKUNG DES
INTUITIVEN SINNES UND DIE WIEDERGEBURT
DER DINGE IN DER SEELE
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit dem Zusammenhang der mystischen Selbsterkenntnis mit der Welterkenntnis als der „Ur-Tatsache“ des Innenlebens und besprechen die mystischen Erkenntnisgrundlagen der Anthroposophie. Rudolf Steiner schildert hier das intuitive Erkennen als Erlebnis. Die Schrift nimmt daher eine Brückenstellung zwischen den erkenntnistheoretischen und den geisteswissenschaftlichen Schriften Steiners ein.
Im September 1901, sieben Jahre nach dem Erscheinen der Philosophie der Freiheit, veröffentlichte Rudolf Steiner sein erstes geisteswissenschaftliches Buch.52 Im Vorwort betont er, dass die Schrift nicht auf einer Änderung seiner philosophischen Ideen, wohl aber auf einer besonderen Vertiefung derselben beruhe:
„Diese Ideenwelt ist schon ganz in meiner Philosophie der Freiheit enthalten. Um aber diese Ideenwelt so auszusprechen, wie ich es heute tue, und sie so zur Grundlage einer Betrachtung zu machen, wie es in dieser Schrift geschieht, dazu gehört noch etwas ganz anderes, als von ihrer gedanklichen Wahrheit felsenfest überzeugt sein. Dazu gehört ein intimer Umgang mit dieser Ideenwelt, wie ihn nur viele Jahre des Lebens bringen können. Erst jetzt, nachdem ich diesen Umgang genossen habe, wage ich, so zu sprechen, wie man es in dieser Schrift wahrnehmen wird.“ (7\11)
Rudolf Steiner ist mit dieser Ideenwelt „intim umgegangen“ und hat sie im Umgang „genossen“ – hier klingen wieder die aktive und die empfangende Komponente des intuitiven Denkens an. Dabei versteht er unter „Mystik“ nicht ein Eintauchen in ein „dunkles, gefühlsverwandtes Innenleben“, sondern möchte „von dem mystischen Ausgangspunkte aus zur Geisterkenntnis“ aufsteigen (7\9).
Das einführende Kapitel enthält eine Zusammenfassung über das intuitive Erkennen, die in einer ganz anderen Sprache verfasst ist als die philosophischen Schriften. Das Wort „Intuition“ wird nicht verwendet, doch beschreibt Steiner sie als mystisches Erleben. Und diesmal geht er vom Quell aller höheren Erkenntnis aus, dem „Erkenne dich selbst“:
„Es gibt Zauberformeln, die durch die Jahrhunderte der Geistesgeschichte hindurch in immer neuer Art wirken. In Griechenland sah man eine solche Formel als Wahrspruch Apollons an. Sie ist: ‚Erkenne dich selbst.‘ Solche Sätze scheinen ein unendliches Leben in sich zu bergen. … In manchen Augenblicken unseres Sinnens und Denkens leuchten sie blitzartig auf, unser ganzes inneres Leben erhellend. In solchen Augenblicken lebt in uns etwas wie das Gefühl auf, dass wir den Herzschlag der Menschheitsentwicklung vernehmen.“ (7\15)
Das ist ganz aus dem inneren Erleben heraus geschrieben. Steiner hat in der Mystik das Erleben des Intuitiven zu einem intim fühlenden vertieft, dabei aber die Klarheit des Denkens voll aufrechterhalten. So drückt er sich jetzt nicht mehr bloß gedanklich, sondern in Bildern aus: Menschen mit solchen mystischen Erfahrungen hätten
„ein starkes Gefühl dafür, dass in der Selbsterkenntnis des Menschen eine Sonne aufgeht, die noch etwas ganz anderes beleuchtet als die zufällige Einzelpersönlichkeit des Betrachters. … Ihnen war klar, dass die Selbsterkenntnis in ihrer wahren Gestalt den Menschen mit einem neuen Sinn bereichert, der ihm eine Welt erschließt, die sich zu dem, was ohne diesen Sinn erreichbar ist, verhält wie die Welt des körperlich Sehenden zu der des Blinden.“ (7\17)
„Sonne“, „Sehen“, „neuer Sinn“: das sind bildhafte Metaphern für das intuitive Element. (Und wenn Rudolf Steiner von einem „starken Gefühl“ spricht, dann darf man sich darunter ein wirklich starkes Gefühl vorstellen, das die Wirklichkeit des Erlebten verbürgt.)
„Dieser Sinn liefert … Anschauungen, die für denjenigen nicht vorhanden sind, der in der Selbsterkenntnis nicht sieht, was sie von allen anderen Arten des Erkennens unterscheidet. Wem dieser Sinn sich nicht geöffnet hat, der glaubt, Selbsterkenntnis komme ähnlich zustande wie Erkenntnis durch äußere Sinne, oder durch irgend welche andere von außen her wirkende Mittel. Er meint: ‚Erkenntnis sei Erkenntnis.‘ Das eine...