WIE SAG ICH‘S MEINEM KINDE?
Ursprünglich entstammt dieses geflügelte Wort einer Aufklärungsschrift aus dem Jahr 1904, besser passt im Zusammenhang mit HIV allerdings eine Textzeile des gleichnamigen Gedichts von Mascha Kaléko, in dem ein Kind seiner Mutter Fragen zum Tod stellt, diese sich dem Dilemma aber nicht entziehen kann. Es beginnt mit den folgenden Zeilen:
Jüngst sah mein kleiner Sohn
Den ersten Totenwagen. –
Er gab nicht einen Ton
Und stellte keine Fragen.
Doch dann, nach ein paar Tagen,
Begann er zögernd-leis, –
Was konnte ich schon sagen,
Wo man doch selbst nichts weiß.
Was konnte ich schon sagen, wo man doch selbst nichts weiß? Das beschreibt die Situation nach einer HIV-Diagnose ziemlich genau. Denn es stellen sich Fragen wie: Wem sage ich es, was sage ich, wann sage ich es, wie viel sage ich – und: Sage ich überhaupt etwas? Genau genommen müsste der Titel dieses Kapitels Mach’s nochmal, Sam« heißen, denn über eine HIV-Infektion zu sprechen, ist faktisch ein zweites Coming-Out. Leider keines, das man mit einem schwul ist cool oder ähnlich aufmunternden Sprüchen kommentieren könnte. Denn bei einer HIV-Infektion überwiegen Betroffenheit und Bestürzung.
Zurück zum Januar 1994. Nachdem ich die Praxis verlassen hatte, blieb ich auf der Straße stehen und holte erst einmal tief Luft. Die Irritation über die hilflose Äußerung des Arztes war verblasst; ich hatte ja mitbekommen, wie sehr ihn die Diagnose, die er mir eröffnen musste, getroffen hatte. Ich setzte mich ins Auto und fuhr wie selbstverständlich ins Büro. Als freier Mitarbeiter einer Fernsehproduktion betreute ich eigenverantwortlich den Zuschauerbereich einer wöchentlichen Talkshow. Persönliche Befindlichkeiten waren da nebensächlich.
In einem solchen Team entwickeln sich freundschaftliche Beziehungen zu Kollegen, die über das berufliche Maß hinausgehen. Einer dieser Kolleginnen, der Assistentin des Geschäftsführers, lief ich nach meiner Ankunft über den Weg. Sie begrüßte mich im üblichen Tonfall.
»Na du – wie siehst du denn aus?«
Ich zuckte mit den Schultern und sah sie an.
»Na, dann komm mal mit.«
Wir gingen in ihr Büro; sie stellte mir einen Stuhl vor den Schreibtisch und einen Pott Kaffee vor die Nase.
»Erzähl’ mal.«
»Ich war gerade beim Arzt«, wollte ich eigentlich sagen, aber im selben Moment liefen mir schon Tränen über das Gesicht. War ich bislang noch beherrscht gewesen, so fiel die Fassade mit dem ersten Wort in sich zusammen. Hemmungslos heulte ich in meine vor dem Kopf verschränkten Arme und stammelte unverständliche Satzfetzen, die in Schluchzen und Schniefen untergingen.
Mittlerweile war ein anderer Kollege hinzugekommen; es hatte ihn irritiert, was er durch das große Fenster gesehen hatte. Nach einigen Minuten versiegte mein erster Tränenstrom, ich richtete mich auf und schnaufte durch. Die beiden Kollegen sahen erst sich und dann mich ratlos an. Aus meinem Gestammel waren sie nicht schlau geworden.
»Ich komme gerade vom Arzt. Ich habe einen HIV-Test machen lassen, und das Ergebnis ist positiv«, brach es aus mir heraus.
»Scheiße.«
Das war das einzige Wort, das in den nächsten Minuten im Raum hängen blieb. Die Ratlosigkeit der Kollegen war nicht zu übersehen. Bereits in ihrer ersten Frage lag Unsicherheit.
»Wie sollen wir denn jetzt mit dir umgehen?«
»Nicht anders als vorher«, bat ich. Schließlich hatte ja nicht ich mich verändert; nur in meinem Blut tummelte sich etwas, das da eigentlich nicht hineingehörte, aber von nun an lebenslanges Wohnrecht besitzen sollte. An diesen Gedanken musste ich mich selbst erst einmal gewöhnen; wie schwierig musste das wohl für die Kollegen sein.
Als nächstes informierte ich den Geschäftsführer, da ich verhindern wollte, dass er von anderer Seite von meiner Infektion erfuhr. Statt der erwarteten Ratlosigkeit oder allgemeiner Mitgefühlsbekundungen fragte er mich aus heiterem Himmel:
»Willst du fest angestellt werden?«
Ich war platt. Mit einer solchen Reaktion hatte ich nicht einmal im Traum gerechnet. Das Angebot war in Anbetracht meiner Situation unglaublich großzügig, trotzdem lehnte ich ab. Bei einer Festanstellung hätte ich nur noch bedingt für so viele unterschiedliche Projekte arbeiten können, wie es mir durch die Selbstständigkeit möglich war. Diese Freiheit wollte ich behalten. Der Geschäftsführer akzeptierte meine Entscheidung.
Seine Assistentin hingegen war fassungslos, dass ich so ein Angebot ausschlagen konnte. Ich versuchte, ihr meine Beweggründe zu erklären, aber sie verstand nicht oder wollte nicht verstehen. Ich hatte aus dem Bauch heraus entschieden; ob ich mir oder anderen damit etwas beweisen wollte, weiß ich bis heute nicht. Aber bereut habe ich meine Entscheidung nie.
Dass ich mich zuerst im Büro als HIV-positiv outete, war eher zufällig. Üblicherweise wird man erst seine Familie oder seine Freunde ins Vertrauen ziehen. Da ich einen sehr engen Kontakt zu meiner nächstälteren Schwester habe, war sie das erste Familienmitglied, das ich anrief. Mein Schockzustand war mittlerweile einer eher nachdenklichen und nach vorne gerichteten Denkweise gewichen. Am anderen Ende der Leitung herrschte zunächst Stille und die übliche Ratlosigkeit. Dann fragte meine Schwester:
»Und? – Wie geht es jetzt weiter?«
Und ich: »Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht. Ich muss mich erst mal an den Gedanken gewöhnen, dass es mich erwischt hat, und überlegen, wem ich das erzählen will.«
»Wer weiß denn schon davon?«
»Drei enge Kollegen, mein Auftraggeber und du.«
»Willst du es den Eltern sagen?«
Das war eine schwierige Frage. Meine Eltern waren zum Zeitpunkt des Testergebnisses um die 70 Jahre. Sie hatten schon ein Kind verloren – mein ältester Bruder war 1977 im Alter von 30 Jahren an den Folgen eines Gehirntumors verstorben – und ich wollte sie nicht mit dem Gefühl älter werden lassen, dass es nun auch den jüngsten Sohn vor der Zeit erwischen könnte. Auch wenn ich meine Eltern schonen wollte: Ihnen nichts von meiner Infektion zu erzählen, erschien mir schon wie ein Vertrauensbruch. Meine Schwester beantwortete ihre Frage jedoch gleich selbst. »Sag’ es ihnen nicht. Sie sind schon ziemlich alt und werden sehr wahrscheinlich eher sterben, als mitzuerleben, dass die Krankheit bei dir ausbricht. Wenn du es ihnen sagst, versetzt du sie für ihre letzten Lebensjahre unnötig in Angst und Schrecken.«
Das war nicht von der Hand zu weisen. Es erleichterte mir die Entscheidung, ihnen die Infektion zu verschweigen. Da ich einen sehr engen Kontakt zu ihnen hatte, fühlte ich mich trotzdem niemals wohl mit der Entscheidung, obwohl es mit Sicherheit die richtige war.
Irgendwann musste ich mir aber doch die Frage Wie sag ich’s meinem Kinde stellen, denn die Kinder – in diesem Falle die meiner Geschwister – meldeten sich der Reihe nach zum Besuch an. Meine zwölf- und dreizehnjährigen Neffen interessierten sich für Fußball und wollten die Hauptstadt unsicher machen. Also gingen wir ins Olympiastadion, ins Kino und in Restaurants. Als meine sechzehnjährige Nichte mit einer Freundin anreiste, waren beide fest entschlossen, in Berlin um die Häuser zu ziehen, um sich später im Freundeskreis daheim damit zu brüsten. Ich zeigte ihnen ein paar ausgefallene Clubs und Bars, und sie hatten ihren Spaß.
Ihre Eltern hatten ihnen bis dahin nichts über meine Infektion erzählt; meiner Auffassung nach sollten sie aber schon davon wissen. So sprach ich mit ihnen über Safer Sex und HIV im Allgemeinen und meine Situation im Besonderen. Sie fanden es gut, dass ich offen mit ihnen redete und fühlten sich ernst genommen. War unser Verhältnis schon immer sehr gut, vertiefte es sich dadurch noch mehr. Selbst heute bin ich mehr Freund als Onkel. Und wenn, dann der coole Onkel.
Mein damals engster Freund Thomas wohnte in Frankfurt, wo wir uns zehn Jahre vorher kennengelernt hatten. Auch wenn ich einige Jahre zuvor die Mainmetropole verlassen hatte, war der Kontakt nach wie vor intensiv; nach dem Testergebnis jedoch glühten die Telefondrähte besonders heiß. Als ich kurze Zeit später unvorhergesehen ein paar Tage frei nehmen konnte, die ich für einen Kurzurlaub nutzen wollte, setzte Thomas alle Hebel in Bewegung, um mitzukommen. So flogen wir Anfang März 1994 für eine Woche an die türkische Mittelmeerküste, erkundeten mit einem Mietwagen die Umgebung unseres Urlaubsortes und unternahmen lange Spaziergänge am menschenleeren Strand, wo wir viel und intensiv redeten. Keiner von uns beiden hatte eine Ahnung, was mir bevorstand – aber wir waren sicher, dass es irgendwie zu schaffen sein musste. Nur wie – das wussten wir auch nicht …
Nach etwa einem Jahr hatte ich mich im Wesentlichen mit der Infektion arrangiert und sie als eine unveränderliche Tatsache anerkannt. Das vereinfachte meinen Umgang mit dem Virus; was man einmal akzeptiert hat, muss nicht immer wieder in Frage gestellt werden – und man muss auch nicht mehr ständig darüber reden. Thomas jedoch verstand meine Normalität anders: Er warf mir vor, mir selbst etwas vorzumachen und meine Ängste zu verdrängen, anstatt sie auszusprechen. Ich reagierte irritiert.
»Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Du sprichst nicht darüber. Du weichst immer aus.«
»Hey … wenn ich darüber rede, mache ich die Infektion wichtiger, als sie für mich sein soll. Sie ist nur ein Teil von mir, nicht mehr. Sie soll mein Leben nicht beherrschen.«
»Du nimmst das alles viel zu leicht.«
Nun platzte mir der Kragen: »Bloß weil ich anders damit umgehe, als du es in meiner Situation machen würdest, mache ich nicht alles falsch!«
»Doch. Du erzählst mir nichts. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn dir irgendetwas passiert.«
Das war es also. Thomas hatte sich richtig in Rage geredet. Ich musste seine Antwort erst einmal sacken lassen, denn mit einer solchen Begründung hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
»Ach Thomas, ich weiß es doch auch nicht. Es ist ja auch für mich das erste Mal, dass ich positiv bin.«
Stille. Wir schauten uns an.
Plötzlich verzog Thomas die Mundwinkel zu einem Grinsen, ich konnte ein Lachen kaum unterdrücken. Dann prusteten wir los.
Nach diesen guten Erfahrungen habe ich mich nicht gescheut, Freunden oder Geschäftspartnern schon früh von der Infektion zu erzählen. Auf diese Weise muss ich nicht bei Adam und Eva mit Erklärungen beginnen, wenn ich mich aus gesundheitlichen Gründen etwas zurücknehmen muss. Ich gehe mit der Infektion zwar nicht hausieren, aber ich verschweige sie auch nicht. Ich entscheide von Fall zu Fall.
Manche beruflichen Projekte sind nur von kurzer Dauer oder führen nur zu wenigen persönlichen Treffen. Dann sehe ich für einen Hinwei...