VI Die neue Welt der Menschlichkeit
Die Paradoxa
Doch es bleibt ein großer Trost: All die gierigen Sterblichen können nichts in das sogenannte Jenseits mitnehmen. Der Vater des Mädchens pflegte zu sagen: »Das letzte Hemd hat keine Taschen.« Selbst die Pharaonen, die in ihrem Aberglauben meinten, mit den irdischen Reichtümern, die sie in die Grabkammern ihrer Pyramiden mitnahmen, ewig weiterleben zu können, mussten sicherlich eine große Enttäuschung erfahren haben: Zu jener Zeit vor 4000 bis 5000 Jahren waren die einfachsten physikalischen Gesetzmäßigkeiten noch nicht erforscht. Die Menschen fanden keine Erklärung für die vielfältigen Naturerscheinungen und Naturphänomene auf ihrem Planeten Erde und deuteten sie als »Wunder«. Im Volksglauben, den volkstümlichen Glaubensvorstellungen im Bereich des Religiösen und Magischen, waren häufig Reste verdrängter alter religiöser und wissenschaftlicher Vorstellungen noch bis ins 21. Jahrhundert n. Chr. erhalten geblieben. Allerdings ist von Anbeginn bis zum Lebensende die Spezies Mensch ein Opfer ihrer Sinnestäuschungen geblieben. Die einfachste Form der Sinnestäuschung ist die optische Täuschung.
Nur die Vernunft (Ratio), das Erkenntnisvermögen also, begreift das jeweilige Ganze oder den totalen Zusammenhang der Erscheinungen. Der Verstand ist die allgemeine Fähigkeit, sinnliche oder gedankliche Inhalte im Denken aufzunehmen, zu entwickeln oder zu beurteilen. Dem Verstand (auch Intellekt) sind Vernunft und Geist untergeordnet. Der Geist (lateinisch: spiritus) ist die Bezeichnung für etwas zunächst Übersinnliches und daher Unfassbares, aber den Menschen Ergreifendes und Begeisterndes. Damit gewinnt der Geist zwei Bedeutungen: Erstens ist er das allgemein belebende, beseelende, übersinnliche Prinzip im Menschen und in allen Dingen, zweitens ist er im Unterschied zur Seele eine besondere unsichtbare Substanz beziehungsweise eine besondere Seins-Stufe. In diesem Falle wird die Seele als Inbegriff der inneren Zustände bestimmt und der Geist als eine höhere Wirklichkeit, die die Seele gewinnt, indem sie erkennt, wertet und die Welt zum Gegenstand des Erkennens macht. Dieser Begriff des Geistes hat drei verschiedene Existenzformen: erstens als individueller Geist der Einzelperson, zweitens als überindividueller Geist der sozialen Gemeinschaft und drittens als absoluter Geist der göttlichen Persönlichkeit.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts n. Chr. war von einem neuen Zeitgeist die Rede. Der neue Geist war endlich der Geist, der erkennt und wertet und die Welt zum »Gegenstand des Erkennens« macht. 14 000 Jahre lang befanden sich die Menschen auf einer anderen niedrigeren Seins-Stufe und glaubten, dass Kriege zum menschlichen Dasein gehören würden. Doch endlich, endlich dann im 21. Jahrhundert, hatten sie erkannt, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, nämlich: der Frieden beziehungsweise Welt-Frieden, das will heißen: eine Welt-Ordnung ohne Kriege! Und an Bedeutung gewann plötzlich auch die Gefühlsmoral, die ethische Theorie, nach der einzig das Gefühl Kriterium für die Sittlichkeit der Gesinnung sowie die Beurteilung des Handelns darstellt. Der englische Philosoph Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671 – 1713 n. Chr.), entwickelte eine Lehre von der Sittlichkeit, die bestimmt ist vom Glauben an die Harmonie des Weltganzen. Sittlichkeit wird zur Entfaltung ursprünglicher Naturanlagen des Menschen, das Gefühl zur Erkenntnisquelle und die Religion zu einem inneren Erleben der Weltharmonie. Der irisch-schottische Moralphilosoph und Ästhetiker Francis Hutcheson (1694 – 1747 n. Chr.) entwickelt, von Shaftesbury ausgehend, die Lehre vom moralischen Sinn, nämlich dass wir ein angeborenes – also genetisch bedingtes – Beurteilungsvermögen für sittliche und unsittliche Handlungen hätten und Egoismus verurteilten, ebenso gäbe es ein angeborenes ästhetisches Wertgefühl.
Das Wort »Zeitgeist« taucht angeblich zum ersten Mal in der Schrift von Johann Gottfried Herder (1744 – 1803 n. Chr.) »Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend« auf, die er im Jahr 1767 veröffentlichte. Mit dem Begriff Zeitgeist wird eine für eine bestimmte Epoche vorherrschende geistige Strömung oder Gesinnung bezeichnet. In Johann Wolfgang von Goethes »Faust I« sprechen sowohl Faust als auch dessen Famulus Wagner vom »Geist der Zeiten« hinsichtlich der Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit.
Das alte Mädchen, das sich zeitlebens mit »Gott und der Welt« beschäftigte, stellte sich auch die Frage: »Was ist ein ›Mensch‹?« Und vor allem: »Was zeichnet ihn überhaupt aus, sich als sogenannte ›Krone der Schöpfung‹ über andere Lebewesen zu erheben?« Im Lexikon wird »Mensch« so definiert:
In der Biologie ist der Homo sapiens eine Säugetierart mit stärkster Entwicklung des Gehirns, insbesondere der Großhirnrinde; die übrigen Organe des Körpers sind dagegen wenig spezialisiert. … Systematisch gehört der Mensch innerhalb der Herrentiere (Primates) zu den Altwelt- oder Schmalnasenaffen (Catarrhina), innerhalb dieser zum Verwandtschaftsbereich der Menschenaffen (Anthropidea). Biologisch ist der Mensch von den übrigen Tieren nicht verschieden, doch befähigt ihn die starke Entwicklung seines Gehirns im Verein mit einigen anderen Körpereigentümlichkeiten zur Begriffsbildung und zum abstrakten Denken, zur artikulierten Sprache und zum Werkzeuggebrauch; all diese Fähigkeiten zusammen heben den Menschen über das übrige Tierreich hinaus und sind die Ursache seiner beherrschenden Rolle in der Natur.
In der Philosophie ist die Frage nach dem Wesen des Menschen so alt wie die nach dem Wesen Gottes und der Welt … Bereits in der Antike wird geltend gemacht, dass der Nus (Geist) übersinnlichen Ursprungs, Träger aller höheren menschlichen Funktionen, besonders der Erkenntnis, und von der Seele trennbar ist. Daraus ergibt sich eine Zwei- bzw. Dreiteilung des Menschen in Leib, Seele und Geist. Zugleich entsteht aber auch die Frage nach dem Zusammenwirken dieser substantiellen Elemente und nach der Einheit des menschlichen Wesens. Das sog. Psychophysische Problem, d. h. die Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele bzw. Bewusstsein und Körper, ist hiervon nur ein Teilproblem. Man kann das Wesen des Menschen auch vom (objektiven) Geist aus zu bestimmen suchen: von der Sprache als Grundlage der menschlichen Kultur und von den für den Menschen spezifischen Vergesellschaftungsformen aus.
Zumeist gilt der Mensch als die Krone der Schöpfung, das vollkommenste irdische Wesen, mithin das Endziel der Entwicklung bzw. der Endzweck der Geschichte. In dieser Richtung liegen die zahlreichen Ansätze zu einer Selbstvergottung des Menschen. Dem steht die Auffassung von der Gebrochenheit, Nichtigkeit, dem Elend des Menschen gegenüber. Beide Auffassungen lassen sich aus dem Christentum entwickeln und überschneiden sich besonders in der heutigen Existenzphilosophie.
Das Mädchen war wieder einmal ins Grübeln und dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass nur dem Menschen über und durch seine »spezifischen Fähigkeiten zur Erkenntnis« ein höherer Rang unter allen anderen Lebewesen zukommt. Der Weg beginnt bei der sogenannten Selbsterkenntnis von Verantwortung für sich selbst und der Verantwortung für die Lebewesen ohne Erkenntnisfähigkeit. Den Leitfaden bildet das Wissen zusammen mit dem Ge-Wissen. Den höchsten Rang nimmt dabei die Ethik ein. »Ethik ist ins grenzenlose erweiterte Verantwortung für alles, was lebt«, sagte der evangelische Theologe, Mediziner und Philosoph und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer (1875 – 1965 n. Chr.). Die Botschaften und Leitsprüche der Göttin Pythia, des Orakels von Delphi, lauten: »Erkenne dich selbst«, und: »Betrachte und verstehe dich immer selbst im Verhältnis zu anderen«, und: »Nichts im Übermaß«. Was die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts n. Chr. erkannt hatten, war, dass es so nicht weitergehen konnte. Mit »so« waren alle Missstände in Politik, Wirtschaft und Religion gemeint. Und was die Menschen jener Zeit brauchten, war mehr Menschlichkeit, viel, viel mehr Menschlichkeit. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit hatten in einem unerträglichen Maße zugenommen, auch in den europäischen Ländern, wobei Deutschland keine Ausnahme bildete. Die Sklaverei beispielsweise, hatte man gemeint, wäre längst ausgestorben gewesen, doch genau das Gegenteil war der Fall. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte es so viele sogenannte »Sklaven« gegeben, wie eine Untersuchung gezeigt hatte. Menschen aus wirtschaftsschwachen Ländern, die keinen oder nur einen geringen Rechtsschutz genossen, wurden als Arbeits-Sklaven für das Wirtschaftswachstum missbraucht im Vereinten Europa. Die Sklaverei hatte schon einmal, das war damals im 16. Jahrhundert n. Chr., einen neuen Aufschwung genommen, als schwarzhäutige afrikanische Menschen von ihrem Kontinent verschleppt wurden, um sie für die Arbeit auf den Zuckerrohr- und Baumwollplantagen Amerikas einzusetzen. Die Sklaverei war entstanden in der Antike durch den Einsatz von Kriegsgefangenen, die die Wirtschaftsgrundlage und damit die Voraussetzung für die Kulturhöhe von Ägypten, Griechenland, Rom und Babylonien bildeten. Nach römischem Recht stand dem Herrn das Recht über Freilassung, Leben und Tod seiner Sklaven zu.
Und noch nie in der Menschheitsgeschichte hatte es so viele hungernde Kinder und den Hungertod sterbende Menschen gegeben. Die Existenz der wenigen Urwaldbewohner, die es zu jener Zeit noch gab, war durch das Abholzen von jährlich 13 Millionen Hektar Wald durch die Industrieländer ebenso in Gefahr wie althergebrachte Lebensformen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, einer Zeit, da die Vorherrschaft im Weltraum und auch schon auf anderen Planeten des Universums erstrebt wurde, verfügten die Menschen längst über genügend Wissen, das es ermöglicht hätte, die Bevölkerung des Planeten Erde ausreichend mit dem Notwendigen für ein menschenwürdiges Dasein zu versorgen. Doch: Woran es den Verantwortlichen fehlte, war das Ge-Wissen, das als moral-psychologisches Phänomen bei bestimmten Handlungen auftretende Gefühl der Schuld oder der Zufriedenheit. Das Gewissen ist wesentlich das Vernunft-Urteil und entscheidet über Wert und Unwert des eigenen Tuns. Ein Gewissens-Konflikt bedeutet einen Wertkonflikt beziehungsweise Widerstreit zwischen gleich berechtigten Forderungen, deren eine sich nur auf Kosten der anderen realisieren lässt. Ein »gutes« Gewissen ist nur ein Gefühl der Zufriedenheit mit der eigenen Entscheidung, die Freude an einer dem egoistischen Interesse abgerungenen Entscheidung. Das kann sachlich ebenso illusorisch sein wie das »schlechte« Gewissen, trifft aber nicht wie dieses den Kern unserer Existenz.
Eines Tages, es war genau der 13. September des Jahres 2011, hatte ein Ereignis von weltweiter Bedeutung das Herz des alten Mädchens höherschlagen lassen: Die Vertreter aller Welt-Religionen trafen sich zum gemeinsamen Dialog in der bayerischen Hauptstadt und beteten gemeinsam zur gleichen Stunde für den Welt-Frieden. Es war eine Sternstunde der Religionsgeschichte und der Anfang der Übernahme von moralischer Verantwortung für die in jener Zeit immer noch wütenden Glaubenskriege. Dem Mädchen fiel bei dieser Gelegenheit unwillkürlich der Satz ein, den der US-Astronaut Neil Armstrong (1939 – 2012 n. Chr.) am 21. Juli 1969 sprach, als er die Mondfähre verlassen und als erster Mensch seinen Fuß auf den Boden des Mondes gesetzt hatte:
»Dies ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit.«
Diese Meinung konnte »die Menschheit« vier Jahrzehnte später angesichts der verheerenden Zustände auf dem Planeten Erde allerdings nicht teilen. Ihr Planet befand sich im Atom-Zeitalter nach dem Zweiten Weltkrieg in einem unwürdigen und geschundenen Zustand wie seine Menschheit selbst, die auf ihm ihren Kampf ums Dasein führte.
Die Welt war seinerzeit aus den Fugen geraten. Dann endlich erwachte die sogenannte »Menschheit« aus ihrem Jahrtausende währenden Dornröschenschlaf. Die Menschen überall auf der Welt gingen auf die Straßen und begannen sich in friedlicher Absicht und ohne Anwendung jeglicher Gewalt zu wehren gegen Unterdrückung und die Misswirtschaft verantwortlicher Politiker.
»Die Menschheit« ließ sich nicht mehr »für dumm verkaufen«, und sie war nicht mehr dumm und blind, wie Heinrich Heine in einem seiner Gedichte meinte: »Die Welt ist dumm, die Welt ist blind, wird täglich abgeschmackter«. In seiner Romanze »Die Grenad...