1. Paolo
Ich, Paolo, wachte noch vor dem Morgengrauen auf. Es fröstelte mich.
Ich hatte schlecht geträumt und folgedessen schlecht geschlafen.
Der Frühling war längst in der Toskana eingezogen. Aber hier in Florenz fielen die Temperaturen in der Nacht noch immer unter den Gefrierpunkt.
Man schrieb das Jahr 1500.
Es war Freitag, der 20. April im Monat des Jahres, in dem Luzifer aus dem Himmel verstoßen wurde.
Wie schon so oft in den vorangegangenen, einsamen Nächten, hatte ich davon geträumt, dass mein Vater endlich nach Florenz zurückkehren würde.
Seine bottega in der Via Cesare Battista No. 6, in unmittelbarer Nähe der Piazza di San Marco und etwas mehr als zehn Gehminuten durch die Via Calimala und Via Ricasoli von den Uffizien entfernt, war schon lange verwaist.
Ich und die Haushälterin, die ich trotz ihrer französischen Abstammung statt Mathurine Maturina rufen durfte, bewohnten je eine Kammer bei den Servitenbrüdern der Kirche Santissima Annunziata, was diese freundlicherweise und aus Dankbarkeit meinem Vater gegenüber kostenlos zur Verfügung stellten.
Auch hatte ich Zugriff zu einem Bankkonto im Spital Ospedale Santa Maria Nuova, welches sich rund acht Gehminuten von der Unterkunft an der Piazza Santa Maria Nuova 58, Ecke Via Maurizio Bufalini, befand. Und dort hatte mein Vater, im Keller der Ägidius Kapelle, welche provisorisch als Sezierraum eingerichtet war, seine ersten Leichen seziert.
Woher das Geld kam wusste ich nicht.
Aber es war praktisch, meinen bescheidenen Lebensstil zu finanzieren, auch wenn die Summe gering, begrenzt und vor allem peinlichst genau dokumentiert wurde. Und nach meinem Gefängnisaufenthalt in Bologna hatte ich mich sowieso entschieden, in Florenz nicht weiter aufzufallen. In die Fußstapfen meines Vaters zu treten, hatte ich auch nicht vor.
Dazu fehlte mir die nötige Ausbildung und der Intellekt meines Vaters.
Auch teilte ich seine vielfältigen Interessen kaum, da ich mir aus Malerei, dem Erfinden von Kriegsgeräten, Architektur und Naturwissenschaften nichts machte.
Einzig seinen anatomischen Studien, die er zu meiner Verwunderung spiegelverkehrt aufzeichnete – warum, erfuhr ich erst später – konnte ich ein gewisses Interesse entgegenbringen.
Trotzdem war es mir nicht klar, wozu das Wissen um Hirnanatomie und sagittalem Hirnschnitt gut sein sollte und vor allem welchen Nutzen man daraus für seinen Lebensunterhalt ziehen konnte.
Wozu studierte er die Physiognomie eines Menschen und was hatte das mit seiner Malerei zu tun?
Die Vorurteile seiner Zeit und die päpstlichen Anordnungen, die das Sezieren von Leichen strengsten untersagten, ignorierend, zersägte er methodisch Knochen, öffnete Schädel und interessierte sich in großem Maße für die Pathologie.
Irgendwann bestätigte er selbstbewusst, dass er das nicht gelöste Geheimnis von Hippokrates und Avicenna von vor ziemlich genau 1000 Jahren gelöst hätte: die Arteriesklerose.
Aber das war Jahre her und seitdem kursierten Gerüchte, dass er sich bei seinem Freund und Gönner, Luca Pacioli, in Mailand in den Diensten von Ludovico Maria Sforza, auch wegen seiner dunklen Haut- und Haarfarbe Il Moro genannt, aufhielt und ebendort ein gigantisches Reiterstandbild Francesco Sforzas zu errichten beauftragt worden war.
Maturina wusste ebenso wenig wie ich, wo er sich tatsächlich aufhielt. Ständig trafen Eilbriefe der Herzogin Isabella Gonzaga d'Este aus Mantua ein, was darauf schließen ließ, dass sich mein Vater auf dem Weg nach Florenz befand. Auch die Servitenbrüder forderten ungeduldig von meinem Vater das versprochene Altarbild, welches er ihnen zu malen gelobte, bevor er Florenz verließ und nach Mailand aufbrach.
Den Auftrag hatte in der Zwischenzeit Filippo Lippi halbherzig bekommen – trotzdem wollten sich die Klosterbrüder mit einem Gemälde meines offenbar berühmten Vaters schmücken.
Lippi zeigte sich zwar enttäuscht, hatte jedoch die Entscheidung akzeptiert.
Hier in Florenz herrschte seit fast zwei Jahren eine Art Aufbruchstimmung und vorsichtige Erleichterung …
Hatte man doch am 23. Mai 1498, einem trüben, regnerischen Montag, den ursprünglich geliebten, doch später gehassten Bußprediger Girolamo Hieronymus Savonarola gemeinsam mit seinen beiden Mitbrüdern Domenico Buonvicini und Silvestro Maruffi zuerst gehängt und dann verbrannt.
Die Menschenmenge auf der Piazza della Signoria war unübersehbar, zumal einige Jahre vorher Bruder Savonarola auf exakt diesem Platz die »Verbrennungen der Eitelkeiten« getätigt und die Medici aus Florenz verjagt hatte.
Aber über ihn und seine Machenschaften sollen wir noch mehr erfahren …
Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg in meine Kammer. Draußen hörte ich schon Maturina wie jeden Morgen in der Küche hantieren.
Ich wollte noch etwas dösen, als mich Lärm, Stimmengewirr und das Klappern von Pferdehufen endgültig aus dem Bett warfen: Mein Vater war zurück.
Ich wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen für mich, für ihn und für Florenz darstellte.
Polternd, was gar nicht seine Art war, öffnete er die Haustüre, umarmte zuerst Maturina und maß mich dann von Kopf bis Fuß, ob denn diese eigentümliche Gestalt auch wirklich sein Sohn war.
Er kam direkt von der Santa Maria Nuova, wo er 50 Florin von seinem Konto abgehoben hatte.
Er fand viel Altes, was ihm in Florenz vertraut war. Aber auch viel Neues.
Sein Vater, also mein Großvater, wohnte noch immer in der Via Ghibellina, nicht weit von dem Ort, wo mein Vater als Lehrjunge in der Bottega von Verrocchino sein Handwerk zu lernen begonnen hatte. Ser Piero da Vinci arbeitete nach wie vor als Notar, hatte wieder geheiratet und in der Zwischenzeit weitere eheliche Kinder bekommen.
Alte Ressentiments zwischen Vater und Großvater bestanden noch immer, hatten aber in der Zwischenzeit keinen besonderen Brennpunkt mehr.
In der künstlerischen Welt waren alte Gesichter verschwunden, neue hinzugekommen.
Ich wusste zu berichten, dass die Brüder Pollaiuolo und Domenico Ghirlandaio tot waren. Unten, in der Via della Porcellana, malte Botticelli noch immer seinen altmodisch anmutenden Stil.
Außer Sichtweite – denn er lebte bereits in Rom – legte der arrogante, neue Star, der Magistratssohn aus Caprese, Michelangelo di Ludovico Buonarroti, gerade mal 25 Jahre alt, letzte Hand an sein erstes, bildhauerisches Meisterwerk: der Pietà.
Mein Vater war ruhig, wirkte gelassen und entspannt und nahm sich viel Zeit, mir vorerst zuzuhören. Als er die ersten Neuigkeiten – ohne besondere Gemütsregung – vernommen hatte, lehnte er sich zurück, blickte mir lange in die Augen und versprach, mir am Abend ausführlich über seine Zeit, die letzten Jahre, die er außerhalb von Florenz verbracht hatte, zu erzählen.
Maturina hatte in der Zwischenzeit seine geliebte Zuppa Toscana, die klassische Minestrone auf toskanische Art, mit viel Borlotti und Pancetta zubereitet und aufgetischt. Doch mein Vater wirkte auf einmal abwesend, in sich gekehrt und mit seinen Gedanken weit weg.
Erst als Maturina rief: »Maestro, die Suppe wird kalt!« … schien wieder Leben seinen Körper zu durchströmen und ein glückliches Lächeln verzauberte sein Gesicht.
Meine Neugierde war unbeschreiblich und ich wartete mit Spannung auf seine angekündigten Erzählungen.
Und so begann Leonardo mir, seinem Sohn, zu erzählen, wie alles im Jahre 1482 am Hofe der Sforzas in Mailand seinen dramatischen und richtungsweisenden Lauf nahm …
2. Laodomia Strozzi
Als mein Vater 18 Jahre alt war, dürfte sich eine einschneidende Episode in seinem Liebesleben ereignet haben, in deren Mittelpunkt drei junge, hübsche Frauen aus Ferrara standen.
Wie und ob sie ihn nachhaltig geprägt haben, lässt sich aus seinen Schilderungen nicht erkennen, zumal er sich oft verspricht, die Stirn runzelt oder den Faden verliert.
An einem Freitag, den 29. April 1470, packt Laodomia Strozzi im Eckzimmer des Palazzo Strozzi Beviacqua in Ferrara einen großen Reisekoffer.
Ein letzter Blick auf die Via Palestro und den Park Ariostea, als es an der Tür klopft: Eine der engsten Freundinnen von Laodomia, die schöne Patrizierin Aureliae Perucci, betritt den Raum.
»Bist du reisefertig, Domina?« Domina war der Spitzname der stolzen Laodomia.
»Wenn Peruschka auch fertig ist, können wir abreisen«, sagte Laodomia.
Die Kutsche stand bereit und die Stationen auf dem Weg von Ferrara nach Florenz waren von den Dienern ihres Vaters bereits auf das Kommen der drei Frauen vorbereitet.
»Die florentinischen Männer sollen stolz und reich sind«, flötete Laodomia und Aurelia bekräftigte das, indem sie mit ihrer Löwenmähne heftig nickte. »Genau was wir suchen. Und wenn wir Glück haben, treffen wir so...