Christoph von Knobelsdorff:
Gott ist mein Heil
Predigt-Meditation über Johannes 5, 1-16
I Liturgische Einordnung
Das Thema des 19. Sonntags nach Trinitatis168 ist mit dem Wochenspruch aus Jeremia 17,14 gegeben: „Heile du mich Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.“ Um das Heil, das von Gott kommt, geht es. Dabei setzen die drei Lesungen des Sonntags unterschiedliche Akzente, die zu einem interessanten Gesamtbild führen. Die alttestamentliche Lesung aus 2 Mose 34, 4-10 erinnert an den Bundesschluss Gottes mit dem Volk Israel. Heil ist also zentral in Gottes Handeln in der Heilsgeschichte verankert. – Die Epistel aus Epheser 4,22-32 betont die sittliche Gestalt des Christenlebens, in der sich der „neue Mensch“ darstellen soll. Der neue Bund, den Gott durch Jesus Christus geschlossen hat (1 Korinther 11,25, vgl. Jeremia 31,31), soll seine Früchte im Leben bringen. Die Verbindung dieser Gesichtspunkte aber geschieht in der Lesung des Evangeliums aus Markus 2,1-12: Der Gelähmte erfährt durch Jesus umfassendes Heil, das bei der Vergebung seiner Sünden beginnt und seine körperliche Heilung einschließt. Auf dieser Ebene liegt unser Predigttext, der eine sehr verwandte Geschichte erzählt. – Im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht an diesem Sonntag also das Bekenntnis, ja das Feiern dieses von Gott geschenkten, umfassenden Heiles. Verfügbar ist uns dieses Heil freilich nie. Wir können in unseren konkreten Nöten immer nur demütig darum bitten, wie es der Wochenspruch tut. Es wäre vom Thema her schön, wenn im Gottesdienst die Feier der Abendmahls enthalten sein könnte. Das Lied „Nun lasst uns Gott dem Herren“ (EG 320) ist gut geeignet.
II Exegetisch – theologische Vertiefung
Der Predigttext bildet zwar eine in sich relativ geschlossene Einheit. Man muss ihn aber im Zusammenhang des ganzen 5. Kapitels lesen und vor allem die folgenden Verse 17-20 beachten. Zuerst wird die Heilung des Kranken selbst berichtet (Vers 1-9a). Sie führt im zweiten Teil zu einem Konflikt mit den Vertretern des jüdischen Gesetzes (Vers 9b-16). Die Heilung sowie die Freiheit des Handelns Jesu werden dann in den an unseren Text anschließenden Versen 17-20 begründet.
Die Geschichte von der Heilung wird knapp, aber eindrücklich erzählt. Der Ort Bethesda (= „Haus der Barmherzigkeit“) ist durch Ausgrabungen bestätigt worden. Die Bewegung im Wasser durch jeweils neu einströmendes Wasser kam wohl durch menschliche Regulierung zustande. Die Zeitspanne von 38 Jahren, die der Mann krank war, könnte zugleich an das Alte Testament erinnern (5 Mose 2,14; 4 Mose 14,34); so lange hatte Gott seine Hand von Israel abgezogen.-In der Heilung drückt sich zweierlei aus: Jesus erfüllt das Sehnen des Mannes nach einem „Menschen für ihn.“ Zugleich aber schenkt er ihm das, was er sich von dem Heilwasser erhoffte.
Der zweite Teil des Textes bringt einen neuen Akzent. Das Tragen der Krankenbahre am Sabbat ist für die jüdischen Gesetzeshüter ein Bruch des Gesetzes. Der Geheilte beruft sich mit Recht auf Jesus; dessen Wort ist für ihn entscheidend geworden. Für die Vertreter des Gesetzes wird dies freilich zum Anstoß, Jesus zu verfolgen. Wichtig ist aber noch die folgende Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten im Tempel. Hier wird deutlich, dass die Heilung die Sündenvergebung mit eingeschlossen hat. Grundsätzlich hängt Krankheit mit Sünde (der „Ferne von Gott“) zusammen, im allgemein-menschlichen Sinn; aber der einzelne Mensch bestätigt dies durch sein Verhalten und sein Leiden immer wieder. Durch das Wort Jesu ist der Mann wirklich an Leib und Seele gesund geworden. Das soll er nun selber nicht mehr infrage stellen.
Die tiefere Bedeutung dieses Handelns Jesu wird aber erst durch seine folgenden Worte klargestellt (Vers 17-20): In demütiger Unterordnung unter den Vater tut Jesus, der Sohn, das, was Gott tut. Gott selbst wirkt hier auf die Weise, wie Jesus es tut. Und er wirkt volles und ganzes Heil für die Menschen; erfüllt und überbietet damit die von ihm selbst gegebenen Gebote. Das Verhängnis der Vertreter des jüdischen Gesetzes ist, dass sie am bloßen Buchstaben des Gesetzes hängen und so unfähig werden, Gottes Heil im „Jetzt“ des Wirkens Jesu zu erkennen.
III Meditative Erschließung
Der Text enthält bildhafte Züge, und es ist gut, diese in der Meditation einmal wahrzunehmen. Ganz praktisch einmal so: Ich nehme mir etwas Zeit, setze mich still hin, ungestört von Telefon u.ä., folge dem Atem, der ruhig in mir kommt und geht. Nun versuche ich mir den Ort Bethesda vorzustellen: Ein gefasstes großes Wasserbecken, Säulenhallen stehen in der Nähe, und darin kauern oder liegen sie auf ihren Matten: Kranke, Blinde, Gelähmte, Verkrüppelte; sie warten und hoffen, viele schon seit langem. Ein schier aussichtsloses Warten, zugleich ein gnadenloser Konkurrenzkampf zwischen diesen Ärmsten. Was für ein erschütterndes Schauspiel, wie sich das Heer dieser gepeinigten Kreaturen jedes Mal wieder auf den Weg zum Wasser macht, wenn es sich „bewegt“, humpelnd, tappend, taumelnd. Weh denen, die zu schlecht dran sind und die keinen Helfer haben. Völlig erschöpft und tief enttäuscht müssen sie zu ihrer Matte zurück. - Dieses eindrückliche Bild kann ich mir vorstellen.
Unschwer werden mir nun Situationen in den Sinn kommen aus der heutigen Zeit und aus meiner Erfahrung: Menschen, lange und vielleicht unheilbar krank, voll Angst und voll banger Hoffnung, und wenn es nur ein Strohhalm ist, an den sie sich klammern. Das Heer der Hilfsbedürftigen auch heute in den Kranken- und Intensivstationen, in den Krebskliniken, Psychiatrien und Sanatorien ist groß. Hat sich so viel geändert? Freilich, die Medizin hat ungeheure Fortschritte gemacht, vieles kann geheilt, das Leben verlängert werden. Aber das Leiden des Menschen ist geblieben; und jeder einzelne leidet allein.
Ich folge in meiner Vorstellung nun dem Gang der Handlung. Einer der Kranken erscheint wie in einer modernen Großaufnahme vor meinem inneren Auge, gleichsam stellvertretend für die anderen. Fast vier Jahrzehnte ist er schon an seine Krankenbahre gefesselt. Welch ein Schicksal! Aber sein Leid reicht noch tiefer: „Herr, ich habe keinen Menschen…“, bricht es aus ihm heraus. Er ist völlig allein mit seinem Leiden auf der Welt. Und das ist wohl noch schlimmer als die Krankheit selbst. Wieder denke ich an unsere Zeit. Einsamkeit, eine der schlimmsten seelischen Bedrohungen heute. Alte und Kranke in ihren Heimen und Kliniken, für die keiner Zeit hat, und die nur ein zu versorgender „Fall“ sind. Einsamkeit selbst mitten in Familie und Freundeskreis. Der heutige Mensch, allein in der Masse, allein zwischen Medien und Maschinen. Bekannt ist die Geschichte von dem alten griechischen Philosophen Diogenes, der am helllichten Tag mit einer Laterne über den bevölkerten Marktplatz von Athen ging und sagte: „Ich suche einen Menschen.“ Heute ist es eher noch schlimmer geworden.
Doch nun begegnet Jesus diesem Kranken. Er spricht ihn an und hört ihm zu. Und noch viel mehr: Sein Wort genügt, und der Mann kann sich erheben und seine Trage schultern. Er ist wirklich gesund geworden. Wie Gott bei der Schöpfung sprach „es werde…“, so geschieht auch hier ein Stück neue Schöpfung, zeichenhaft vorweggenommen. Dies spüre ich bei dieser Betrachtung. Dabei lese und höre ich, was Jesus anschließend darüber sagt: In dem, was er tut, handelt Gott selbst (Vers 17-20). Und deshalb ist vor allem auch die Sünde dieses Mannes geheilt, der Zustand der Gottesferne, an der er als Mensch teilhat, und die sich in seiner Krankheit ausdrückte. Er ist wirklich ganz heil und neu geworden.
Soweit mag ich mit meiner bildlichen Vergegenwärtigung der Geschichte kommen. Nun verstehe ich deutlich die Aussage dieses Textes: So handelt Gott! So heilt er auch heute und will es heute tun. Ich erkenne dankbar, was schon jetzt geschieht: In Gespräch, Beichte und Abendmahl werden Menschen innerlich neu; modernes medizinisches Wissen und Technik kann zum Instrument Gottes werden; dazu kann für Kranke gebetet und ihnen die Hand aufgelegt werden.
– Aber Gottes Heil erscheint in dieser Welt nur gleichsam gebrochen und in Andeutung. Jesus, der den Kranken heilte, war selbst auf dem Weg zum Leiden (Vers 16+18). In der Passionsgeschichte fällt dann der entscheidende Satz: „Sehet, der Mensch!“ (Johannes 19,5). Jesus, der Gegeißelte und Dornengekrönte steht dort als der Mensch. Jetzt hat der Kranke einen Menschen für sich gefunden, und mit ihm wir alle. Er ist der Mensch, durch den Gott uns das ganze Heil schenkt. Nach seiner Passion, als der Auferstandene, grüßt er uns: „Friede (=Heil!) sei mit euch!“ (Johannes 20,21). Gottes Heil, das sich in dieser Welt nur ankündigt, wird in seiner neuen Welt vollkommen sein.
Wie verfehlt und „kleinkariert“ erscheint da die Reaktion seiner Gegner! Sie glauben Gott auf ihrer Seite, haben ihn gleichsam im toten Wortlaut der Gesetze „konserviert“ und verpassen so gerade sein wirkliches, Leben-schaffendes Handeln.
Wo verhalten wir uns heute so: im Gehäuse unseres Denkens, in den Lehrmeinungen, Bräuchen und Bestimmungen unserer Kirche; wo in den Moden und der fast schon grenzenlosen Freizügigkeit, dem Egoismus unserer Zeit und Gesellschaft?
Dem also soll die Predigt nachgehen: Gott will uns in Jesus ganzes Heil schenken. Wir sollten ihm dabei nicht im Wege stehen!
Historischer Ort des Teiches Bethesda auf der Via Dolorosa, Jerusalem 1999
St. Anna-Kirche neben dem Teich Bethesda, 1999
Peter Wilkens:
Misthaufen und Loggia
Zehn Jahre unter einem Dach
Lieber Reinhard,
ich wurde gefragt, ob ich einen Beitrag für eine Festschrift schreiben könnte, denn Du sollst ja 80 Jahre alt werden. Bestimmt wurde ich gefragt, weil wir 10 Jahre eng zusammen gewohnt haben, bestimmt nicht, weil ich gut schreiben kann. Ich tue dies gerne, damit meine Enkel später sagen können, unser Opa konnte nicht nur mit dem Trecker pflügen, Schweine und Ochsen groß füttern, sondern er hat auch einmal für ein Buch einen Beitrag geschrieben. So können sie auch einmal nachlesen, wie es ihrem Opa in seinem Leben mit der Religion ergangen ist. Ich schreibe aber vor allem für Dich, um Dir zu danken, ich schreibe aber auch für mich, um Gottes Wegen nachzuspüren. Und wenn sich auch noch andere daran erfreuen, dann habe ich vier Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Damit ich die vierte Fliege besser treffe, muss ich wohl mit meiner eigenen Biografie anfangen. Geboren kurz nach dem 2. Weltkrieg bei einem Kleinbauern. Zwei Brüder vor und zwei Schwestern nach mir geboren. 15 Jahre täglich die Herrnhuter Losungen nach dem Frühstück. Abends nach der Milchsuppe die Andacht mit dem Kalenderblatt vom Neukirchener Abreißkalender. Vor jeder Mahlzeit das Tischgebet, nach der Mahlzeit das Dankgebet. Sonntagsschule, Kindergottesdienst, Konfirmation, EC (Jugendbund für entschiedenes Christentum), Landeskirchliche Gemeinschaft.
So wurde ich 30 Jahre alt, war verheiratet, hatte vier Kinder, einen Bauernhof und ein neues Haus. Bisher hatte es keine Zweifel, keine Krise oder gar einen Bruch auf dem Weg der Frömmigkeit und des Bibelglaubens gegeben. Aber dann! Ich begann selbständig zu denken.
Es tauchten Fragen über Fragen auf. Die Bibel wurde mir fragwürdig: "Das stimmt doch alles nicht, das kann doch niemals angehen, was da geschrieben steht. Und überhaupt, was ist das bloß für ein grausamer und komischer Gott?" Die Fragen spitzten sich zu. War das in der Vergangenheit Geglaubte falsch? Aber mein bisheriges Leben war doch ein gelungenes Leben. Ich brauchte Antworten auf meine Fragen. Und dieses Antworten-haben-Wollen bestimmte fortan meine Lebensgeschichte. Gut war damals, dass der liebe Gott mir "Das Bilderbuch Gottes" von Helmut Thielicke ins Haus schickte, Reden über die Gleichnisse Jesu. Das half weiter. Weiter halfen auch die schier endlosen Diskussionen mit meinem Freund Klaus Rottgardt. Er war damals ein Meister im Boden-unter-den-Füßen-wegziehen. Bei mir schaffte er es nicht wirklich, denn ich stand fest mit meinen Fragen und meiner Suche nach Antworten. Eines Tages sagte er:
"Du musst zum Rabbi nach Hermannsburg." Er selbst kannte Hermannsburg und Dich, Reinhard, weil er an der Mitarbeiterschule teilgenommen hatte. (Ich weiß nicht, wie er mich angemeldet hat. Vielleicht so: "Reinhard, ich schicke dir einen Bauern, aber pass auf, dass du nicht evangelikal wirst.") So fuhr ich nach Hermannsburg, im Gepäck hatte ich einen Kuchen, den Lieschen gebacken hatte, in der Hand einen blühenden Rotdornzweig und im Kopf 1000 Fragen. Beispielhaft will ich einige Fragen nennen, die mich bedrängten:
Woher kam das viele Wasser bei der Sintflut, das selbst alle Bergspitzen der Welt bedeckt waren? Wie verschwand es wieder so schnell? Wie konnten sich nach Jesu Kreuzigung die Gräber auftun und die Toten liefen danach in Jerusalem herum (Mt. 27,52f). Haben die Priester den von oben nach unten zerrissen Vorhang im Tempel wieder zusammengenäht? Wie hoch stand ungefähr der Stern über dem Stall in Bethlehem? Aber mich plagten auch noch andere Probleme. Meiner Mutter, die ihr ganzes Leben lang fröhlich in Gemeinschaft und Kirche unsere Glaubenslieder sang und mich tief geprägt hat, stellte ich einmal in meiner Konfirmandenzeit die Frage: "Warum ist das mit Hitler und den Juden passiert?" Ihre Antwort: "Die Juden haben doch unseren lieben Heiland ans Kreuz genagelt." Darauf ich: "Aber das ist doch gut gewesen, denn dadurch ist doch Gottes Zorn über unsere Sünde gestillt worden, und wenn wir daran glauben, kommen wir nach dem Tod in den Himmel, wenn nicht, dann in die Hölle."
So kam der 30jährige Bauer zu Dir, Reinhard. Ich blieb über Nacht. Dein Angebot hätte ich annehmen sollen, abends in Deinen Jugendkreis mitzukommen, statt mich auf meine 1000 Fragen zu konzentrieren, um besser fragen zu können. Zweimal saß ich auf Deinem roten Sessel und fuhr mit 999 Fragen wieder nach Hause. Ich weiß nicht, ob Du damals (wohl 1973) hättest sagen können: Die Bibel ist ein Geschichten-Buch der Juden und ersten Christen mit ihren Glaubenserfahrungen, in der Historie mit Sehweise...