DER BEISTAND
Johannes kann seine Begeisterung über die Belehrungen Jesus’ nicht verbergen: „Ich will aufschreiben, Jesus, was du uns gelehrt hast. Ob die Wahrheit deiner Lehre allerdings lange in ihrer Reinheit auf der Erde bleiben kann, wird sich zeigen. Denn die Menschen haben die Tendenz, die Wahrheit nach ihrem persönlichen Gutdünken und eigenen Weltanschauung zurechtzubiegen.“
Jesus widerspricht Johannes nicht: „Du sagst es, Johannes. Es werden viele falsche Lehrer in meinem Namen kommen. Und viele Bücher werden geschrieben werden um der Wahrheit willen. Was du schreiben wirst, wird in kurzer Zeit nur noch bruchstückhaft die leuchtende Wahrheit in sich tragen. Jeder zukünftige Abschreiber wird etwas von der Wahrheit wegnehmen oder etwas hinzufügen, ganz wie er es nach seinem individuellen Glauben und gemäß seiner Zeitepoche für angebracht hält.
So wird die reine Wahrheit, die reine Lehre wie ich sie euch gebracht habe, nur kurz im Dasein sein. Bruchstücke davon werden jedoch immer davon zeugen, und wer zwischen den Zeilen lesen kann, wird auch in dem Buch, welche sie die Bibel nennen werden, die lichte Spur der Wahrheit erkennen können.
Damit aber die Wahrheit auch in fernen Zeiten wieder rein und in voller Kraft strahlen kann, werde ich nach meinem Tod den Menschen einen Beistand schicken.“
„Einen Beistand? Wer wird das sein? Ein Mensch, ein Leuchtender des Urlichts, so wie Du? Dein Bruder?“ fragt Maria ungeduldig.
„Du kannst ihn Bruder nennen. Es wird aber einige Zeit vergehen. Noch vieles hätte ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden.“
Die Worte Jesus haben die Neugier Marias geweckt: „Was wird das für ein Mensch sein? Wird er sein wie Du? Einer deiner Brüder? Denn wenn er zu künden kommen wird, was du uns verkündet hast, muss er einer deiner Brüder sein. Wann wird er kommen, Jesus, sag uns wann?“
Jesus überlegt nicht lange. „Es werden keine Zweitausend Jahre vergehen, und er wird kommen und euch die Wahrheit in reinster Form bringen.
Alles was er sagt, hat er vom Vater.
Wenn die Menschen ihn vernehmen, vernehmen sie den Vater. Denn wer ihn sieht, sieht auch den Vater. Und wer mich sieht, sieht auch den Vater. Der Vater, der Beistand und ich sind eins.
In jener fernen Zeit wird es nicht mehr möglich sein, Abschriften von Urschriften zu verfälschen. Deshalb, was der Beistand reden und schreiben wird, wird nicht verfälscht werden und die Wahrheit wird aus seinem Verkündungswerk leuchten wie die Sonne nach einer dunklen Nacht. Er wird den Menschen Bericht bringen vom Reich des Geistes, vom göttlichen Licht im Menschen, von Gott.“
„Nenne uns seinen Namen, Jesus. Wie wird der Beistand heißen?“
„Wenn er kommen wird im Namen seines Vaters, werden die Menschen wissen, wer er ist. Sie werden wissen, dass es der von mir verkündete Beistand ist. Es wird aber auch nach seinem Tod eine gewisse Zeit vergehen, bis sein Werk auf der ganzen Welt leuchten kann.
Bis es soweit ist, wird es nur für einzelne leuchten. Für solche, die sich ihr ganzes Leben religiösen Gemeinschaften ferngehalten haben und nach der Wahrheit in sich selbst suchten.
Für diese wird der Beistand sofort erkennbar sein, da er aus der Wahrheit des Vaters spricht und diese Wahrheit im Innersten eines ehrlich suchenden Menschen aufleuchtet und er deshalb weiß, dass der Beistand im Namen des Vaters redet.“
Jesus entfernt sich einige Schritte, als wollte er zu Verstehen geben, jetzt nicht mehr sprechen zu wollen. Er dreht sich jedoch um und lächelt.
Das Licht in seinen Augen leuchtet klar und hell. Er scheint erleichtert zu sein, alle diese geistigen Zusammenhänge nun endlich in ihrer kristallklaren göttlichen Klarheit seinen beiden Vertrauten übertragen zu haben.
Freudestrahlend schreitet Johannes auf Jesus zu, packt ihn an den Schultern und blickt ihm mit jubelfunkelnden Augen ins Gesicht. „Jesus, ich weiß jetzt mit innerster Sicherheit, dass du es bist, der uns Menschen retten wird. Du weckst uns aus unserem Schlaf im dumpfen Tierkörper, auf dass wir uns auf unsere ewige geistige Natur, auf unsere Seele, auf unsere himmlische Heimat und unseren Vater besinnen.
Du rufst unsere Seele wach, die in dumpfem Schlaf im Tierkörper dahindämmert und zeigst uns mit Liebe und Geduld den Weg, der zurück in unsere geistige Heimat führt.
Jesus, du wirst uns alle zu dir ziehen ins Himmelreich, in das große ICH, wo ein jeder Mensch völlig individuelles Erleben genießt, und wo dennoch ein jeder von dem göttlichen Liebes-Licht durchstrahlt wird und dadurch zum All-ICH wird.
Wir Menschen, wir sind trotz unserer Verschiedenheit...alle Eins.
Jesus, Du hast meine Seele endlich befreit. Meine zehrenden Fragen über das Schicksal des Menschen, den Sinn des Daseins haben endlich befriedigende Antwort und meine Seele frohlockt, denn sie empfindet deine Worte als wahr und rein!“
Tränen flossen über sein verwittertes Gesicht, und er umarmt Jesus in innigster und dankbarster Zuneigung. Jesus stößt Johannes nach einer Weile leicht von sich, und sprach leise zu ihm:
„Danke nicht mir, sondern dem, der mich gesendet hat. Vereinige deinen Geist mit demjenigen des Vaters, und du wirst in Glückseligkeit leben in Ewigkeit! Du wirst:....ICH!“
Maria fällt in das Gespräch ein: „Jesus, Du bist ICH von Innen her seit Ewigkeiten. Was aber ist ICH? ICH? Wo ist ICH? Wer ist ICH? Bin ich das einzige ICH, welches die Welt von innen gegen außen wahrnimmt?“
Johannes: „Und alle anderen? Tun denn das nicht alle Menschen? Ich... weiß es nicht. Denn in die Seele meines Bruders kann ich nicht blicken.“
Jesus: „ICH ist alles Bewusstsein, das im Kosmos herrscht. Es gibt kein anderes Bewusstsein als ICH. DU ist das gegenüberliegende Bewusstsein des ICH, aber im subjektiven Sinne auch ICH.“
Jesus hält inne. Johannes fällt ihm ungeduldig ins Wort: „Bin ich also der einzige Mensch, von dem ich gesichert weiß, dass er die Welt für sich allein, von innen gegen außen erlebt? Bin ich deshalb das wichtigste Lebewesen im Weltall? Und sind deshalb nicht auch alle anderen die wichtigsten Lebewesen im Universum? Denn - wäre ich nicht im Dasein, wie könnte ich die Welt und mich selbst darin empfinden? Und erst die anderen Menschen?“
Jesus erklärt mit ruhiger Stimme: „Ohne das Wissen um sich selbst kann ein Mensch das Leben gar nicht wahrnehmen. Es wäre alles dunkel und leer. Da ich aber denken, wahrnehmen und empfinden kann, weiß ich um mich selbst und staune vor dieser formenreichen und farbenfrohen Schöpfung mit großen Augen.
Maria fragt neugierig: „Wer hat das alles so gemacht? Gott?“
Jesus schüttelt verneinend de Kopf: „Form und Oberfläche dieser Schöpfung zeugen von einem kosmischen Willen, der diese Form so wollte und nicht anders. Gott jedoch ist nicht der Schöpfer der Menschen und der Natur.
Gott ruht in sich selbst und gibt sich als Licht demjenigen Menschen, der es durch sein Denken, Fühlen und Handeln zu empfangen bereit ist.
Wir aber wollen zu dem erwähnten Gestaltungs-Willen vordringen, ihn erspüren und erkennen. Vorerst jedoch können wir die Dinge nur von außen betrachten. Wir können sie wohl zerstückeln, aber nicht in sie hineinsehen. Ich kann bis in ihre Atome vorstoßen, aber nicht das Geheimnis entlüften, welches sie zusammenhält.
Ich kann die Seele der Dinge nicht sehen.“
Johannes erwidert mit fragendem Blick: „Ist es, als ob die schöne Oberfläche der Welt einen geheimnisvollen Schleier über das Rätsel ihres Daseinsgrundes gewoben hätte?
Schützt die Natur das Geheimnis ihrer eigenen Schöpfung vor neugierigen Blicken?
Jesus erwidert: „Das einzige Wesen, das einzige Ding, in welches ich hineinsehen kann, bin ich selbst. Und selbst das ist nicht einfach. Um Einsicht in mich selbst zu haben, muss ich geduldig sein und standhaft in meinem Bestreben.
Das Mysterium meines Lebens ist zart und scheu, es muss durch viele Schichten geschützt werden.“
„Warum, Jesus?“, fragt Maria unverständig.
„Schützen diese Schichten vor meiner ungestümen Neugier, Habsucht und Ungeduld? Vor meiner mangelnder Seelenreife?“
Johannes: „Will die Natur, die Schöpfung, dass die niederen Eigenschaften in mir erst völlig überwunden werden, bevor sie mir – sich selbst – preisgibt? Setzt sie die Reife des Menschen, meine seelische Reife voraus, bevor sie mir ihr Geheimnis zu eigen gibt? Soll ich sogar dieses Geheimnis’ einziger Hüter sein?“
Jesus wendet sich gegen den Tempel „Wir wollen in die Stille gehen. Im Lärm der Welt öffnet sich keine Blüte. Sie bedarf der Stille und der Einkehr.
Ich bin still. Ganz still. Jedoch begleitet diese Stille in mir ein geheimnisvolles, zartes und leises Rauschen.“
Jesus hält inne und lauscht in sich selbst. Keiner der beiden Freunde wagt, diese Stille geschwätzig zu unterbrechen.
„Dieses leise Rauschen in uns ist der Geist, der die Natur, den Menschen, ja den ganzen Kosmos durchfließt. Wenn ich ausdauernd und konzentriert diesem Rauschen lausche, scheint es mir ein Ton zu sein. Ja, es ist ein lang anhaltender, leiser Ton, welcher sanft aus meinen Tiefen in mein Bewusstsein klingt.
Ich spüre, wie der Geist behutsam aber unaufhaltsam durch meinen Körper und mein Empfinden strömt.
Ich fühle, dass das Leben ein Geschenk ist. ICH ist ein Geschenk, das sich selbst mir gibt. Deshalb, wenn ich mein eigenes Leben in seiner vollen Liebe und Güte empfangen darf, wenn ich mein eigenes ICH lebendig empfinden darf, so bin ich für dieses Geschenk nicht nur dankbar, sondern bin auch für dieses Leben verantwortlich. Ich fühle, dass ich Sorge tragen muss zu mir selbst und zu dieser Welt, die ich erfahren und ich der ich leben darf.
Ja! Ich bin dankbar und verantwortlich für diese schöne Welt, denn sie wurde für mich gemacht.“
Jesus legt wiederum eine Sprechpause ein. Die Nacht lastet schwer über dem Zypressenhain und es scheint, als hörten unsichtbare Gestalten dem Gespräch der drei Juden zu.
Johannes schaut auf den Berg hinter dem Tempel. Seine schwarzdunkle Wand hebt sich kaum vom nachtblauen Sternenhimmel ab: „Dieser gewaltige Berg, ist er für mich gewachsen, damit ich mich ob ihm erfreue? Öffnet die Blume ihre Blüte für mich, damit ich ihre Schönheit bewundern kann? Das Licht, scheint es für mich, damit es meine Seele erhelle und durchflute? Oh Wasser, fließt Du für mich, damit ich den Kraftstrom der unsichtbaren Welt erfühlen und meine Seele stärken kann?“
Johannes hält inne und denkt über seine eigenen Worte nach: „Ja - wenn ich also verantwortlich und dankbar für diese schöne Welt bin, bin ich auch verantwortlich für mich selbst, denn nur in meinem vollen, gesunden Eigenbewusstsein kann ich die Welt schätzen, lieben und schützen.“
Jesus dreht sich zu Johannes: „Man kann keine unschönen Dinge in der Natur entdecken. Jedes Schöpfungsergebnis ist vollendet in Rhythmus, Form und Farbe.
Selbst wenn man lange über die Dinge und deren Erscheinung nachdenkt, kommt einem für diese Schöpfung keine höhere oder schönere Lösung in den Sinn.
Wer maßt sich an, die Blüte der Orchidee vollendeter zu gestalten? Wer übertrifft die Anmut der Tierwelt, der Landschaften, Seen, Berge und Wälder?
Wohin auch unser Blick sich wendet, sind die Formen und Farben der Natur von hoher Schönheit und jeder Mensch kann diese Schönheit in sich dankbar empfinden und daran Freude entfalten.“
Johannes Gesicht strahlt vor Begeisterung. Jesus setzt aber seine Rede fort:
„Freude! -- das erhabenste Gefühl des Menschen, denn es ist der Ursprung und Urfunke des Lebens und deshalb des Glückes. Gleichzeitig ist die Freude eine mächtige Erweckerin der Liebe.
Alte Weisheit bezeichnet die Freude als männlichen Willen, der des weiblichen Gegenpols, der Liebe, bedarf.
Freude, gepaart mit Liebe, erzeugt also Glück, dieses höchste aller Gefühle aus elysischen Sphären. Ich fühle dieses erhabene Gefühl unendlich großer und liebender Majestät in stillster Freude und stummem Glück.“
Auch Maria ist ganz erregt über die Worte Jesus’: „Ich will gar nicht wissen, wer das alles gemacht hat. Der Geist? Gott? Der Mensch?
Ich will auch nicht wissen, wie und wann das Weltall ge...