Linien und Punkte
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Linien und Punkte

  1. 232 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch

In diesem Band hat der Heinz-Albert Heindrichs Texte über sein Werk zusammengestellt. Es sind Texte über sein musikalisches Werk, über seine aus dem Notenschreiben entstandenen Grafiken, über seine wissenschaftlichen Texte zur Märchenforschung und über seine Gedichte. Neben eigenen Vorträgen und Aufsätzen finden sich in dem Band auch Beiträge von Heiner Stachelhaus, Georg Scherer, Peter Rose, Martin Feltes, Johannes K. Glauber, Hans Jörg Loskill, Bernd Aulich, Anneliese Knorr, Jürgen Kisters, Otto Betz, Elias Betz, Marcellus M. Menke und Ursula Heindrichs.

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Information

Jahr
2019
ISBN drucken
9783738646030
eBook-ISBN:
9783749460212
Auflage
1
Thema
Art

Heinz-Albert Heindrichs:
Mein Werk

Texte aus den Jahren 1938 bis 2018

Gedichte

Der Morgen Mein erstes Gedicht
Die Nacht ist schon vorüber
schrieb ich
die Sonne geht schon auf
mit sieben Jahren
der Morgen kommt schon wieder
der Nebel steiget auf. Vater bewahrte das Schulheft
und hat es datiert
Die Vöglein in den Zweigen
die recken sich empor
ich
und fliegen jetzt im Reigen
staune
und singen dann im Chor über die Sprache
die Klarheit der Bilder
Wir kommen aus den Betten und denke viel weiter gegangen
und ziehen uns jetzt an bin ich nicht mehr
das Hündchen an der Ketten als im Kreis
bellt alle draußen an.
als wäre ich Gedicht um Gedicht
Die Hühner aus dem Stalle
auf der Suche nach
der Hahn schreit Kickricki
diesem Kind
und wir wir freun uns alle
in mir
und lachen mit hihi.
1938 1998
Es war im Frühjahr 1938, an einem Sonntagmorgen, als mich meine Eltern bis zum Mittag allein im Hause ließen, was sonst nie geschah; sie versorgten mich mit Kinderbüchern, Malstiften und Papier, und eine Zeitlang las und malte ich auch. Doch die ungewohnte Stille im Haus ließ mich mehr und mehr auf das Draußen, aber wohl auch auf mich selbst hören – und ich kann nicht sagen warum: auf einmal begann ich, ohne jeden ersichtlichen Grund ein Gedicht zu erfinden, mein erstes Gedicht, und das überraschte, freudig erregte Gesicht meines Vaters, als er das Blatt entzifferte, ließ mich ahnen, dass etwas Wichtiges in mir passiert war. Nach Vaters Tod fand ich das Blatt, zusammen mit seiner datierten Abschrift, in seinem Schreibtisch wieder. Als ich 1998 noch einmal daran ging, die Jugendgedichte neu zu fassen und sie um ein Drittel zu kürzen, entstand das nebenstehende Gedicht, das ich wie keines sonst meinem Vater widmen möchte; denn er war es, der mir die Spur gelegt und sie gesichert hat.
Andere Gedichte aus dieser frühen Zeit sind im Krieg verloren gegangen; es mag aber auch sein, dass sie durch ein musikalisches Ereignis in Vergessenheit gerieten: Im Herbst 1938 trafen sich Vater und seine drei Brüder, um ihres ältesten Bruders Albert zu gedenken, der Musik studieren wollte, aber 1918 im Krieg gefallen ist. Ich war dabei, als sie per Schallplatte gemeinsam die Musik hörten, die er zuletzt für eine Aufnahmeprüfung geübt hatte; Schuberts Sinfonie h-moll, die Unvollendete. Es war eine Art Initiation, denn seit dieser Stunde wollte ich nichts anderes mehr als Komponist werden. Ich begann Klavier zu üben und Noten zu schreiben; aber der Krieg verhinderte bald jedes musikalische Fortkommen.
Vater hatte sich, um seine Einberufung zu verhindern, als Lehrer früh in der ‚Kinderlandverschickung‘ engagiert, und so war die Familie, ab dem ersten Bombenangriff auf Köln, mit ihm und wechselnden Kölner Schulklassen dreieinhalb Jahre in KLV-Lagern unterwegs – zuerst in Schlesien bei Glogau, dann in Nideggen in der Eifel, schließlich bis Kriegsende im damaligen Sudetenland, zuletzt in einem Dorf zwischen Saaz und Komotau, wo ich, vierzehnjährig, zukunftslos und abgeschnitten von aller Musik, nun so intensiv wie nie zuvor begann, Gedichte zu schreiben, während um mich schreckliche Dinge passierten: Rückzug der Front, Einmarsch der Russen, Plünderungen der Tschechen, drei Monate Flüchtlingstreck durch Ostdeutschland, schließlich das zerstörte Köln.
Im Jahr 1970 schrieb Marie Luise Kaschnitz ihren Prosatext „Schrott und Schrott“ (in: Steht noch dahin), der genau meinen damaligen Zustand betrifft. In einer Kunstausstellung, die in der Nachfolge von Popart und Happening schrottreife Objekte zur Schau stellt, kommt ihr folgendes in den Sinn: „Ich erinnere mich an die Zeichnungen einer Schulklasse aus dem Taunus, die man nach der Zerstörung der Stadt Frankfurt in das verwüstete Zentrum geführt und der man die Aufgabe gestellt hatte, ihre Eindrücke nach eigenem Ermessen wiederzugeben. Auf den Blättern dieser Kinder, die nichts als Schrott, Brandschutt und Ruinen gesehen hatten, standen alle Häuser aufrecht bis zum Gesims, schwangen die zerstörten Brücken sich unversehrt von Ufer zu Ufer, erhoben sich die zerfetzten Bäume makellos in vollem Laub.“
Was kannte ich damals schon, ein paar Goethe-, Claudius-, Eichendorff-Verse; offenbar hielt ich mich inmitten der Trümmer und falschen Parolen an sie, an ihre Unversehrtheit; und es gehört somit ganz unbedingt zu meiner Vita, die frühesten Gedichte nicht zu verleugnen. Als Obdachloser habe ich ein halbes Jahr in einer Gartenwirtschaft auf einem Billardtisch geschlafen und auf einem ausgedienten Wirtshausklavier wie besessen zu komponieren angefangen, bis wir Ostern 1946 in eine Notwohnung nach Bonn ziehen konnten und ein Leben mit neuen Perspektiven begann, für mich vor allem mit der Entdeckung von Kunstströmungen, die uns als entartet verschwiegen worden waren. Sechzig Jahre später erinnert ein Gedicht an diese Aufbruchzeit:
1946
sah ich / zum erstenmal
Klee und Kandinsky
verschlang Trakl und Benn
ich war fünfzehn
dem Chaos / gerade entronnen
und die wahren Botschaften
drangen durch mich / wie Feuer
seither / dem Unbekannten
ruhelos auf der Spur
Seitdem zeigen die Jugendgedichte verschiedene Stationen der Aneignung von Sprache, Ausdruck und Form, ohne indessen in eine epigonale Abhängigkeit zu geraten. Als Pennäler des Bonner Beethoven-Gymnasiums trat das Komponieren nun freilich mehr und mehr in den Vordergrund; hinzu kam die Auseinandersetzung mit bildender Kunst und Theater; ich begann zu malen, spielte größere Rollen in Laienspielgruppen und in der Schultheater-AG, so zum Beispiel den Karl Moor in Schillers Räubern; ich inszenierte Stücke und schrieb zugleich die Bühnenmusik zu ihnen; und so wurde ich auch, als Primaner und ohne Student zu sein, auf dem Neudeutschen Studententag 1951 in Würzburg eingeladen, die Hauptrolle des Hiob in einem gleichnamigen Bühnenstück zu übernehmen. Dort begegnete ich Ursula Wiegers, sie studierte Germanistik im vierten Semester, war im Stück die Souffleuse, ist seit 1958 meine Frau, aber ab Würzburg schon die eigentliche Muse und untrügliche Kritikerin aller meiner Arbeiten. Als wir 2001 für unsere Beiträge zur Märchenforschung gemeinsam den Europäischen Märchenpreis erhielten, sagte ich in meiner Dankesrede: „Heute denke ich: wäre sie eine Pianistin geworden, hätte ich, wie Schumann, wohl vorwiegend Klaviermusik geschrieben; da sie aber in der Sprache zu Hause ist, hat sich der Schwerpunkt meiner künstlerischen Arbeit wie von selbst dahin ausgerichtet und ist nun sicher in den dreißig Lieder- und Chorzyklen auf zeitgenössische Dichter sowie in den vielen eigenen Gedichten zu suchen, … und ich denke, dies war meine Möglichkeit, das ununterbrochene Gespräch mit ihr fortzuschreiben.“
Als ich 1952 tatsächlich begann, in Köln Musik und vor allem Komposition zunächst bei Rudolf Petzold, dann bei Frank Martin zu studieren, rieten mir die Lehrer, alle anderen künstlerischen Ambitionen vorerst einmal sein zu lassen. „Musik“, so meinten sie, „ist eine Spezialbegabung, und wer sich darauf nicht voll konzentriert, wird es zu nichts bringen.“ Ich habe mich daran gehalten, und so ist auch das Schreiben von Gedichten nach 1952 versiegt; ich legte sie in eine Schublade, es waren 160, und glaubte das Kapitel für immer abgeschlossen.
1954 erhielt ich den Kölner Kompositionspreis (hauptsächlich für das Erste Liederbuch nach Sappho, Litaipe und Langston Hughes), 1958 den Brüsseler Kammermusikpreis (fürs zweite Streichquartett). Aber wenn Anfragen an die Kölner Hochschule kamen, wer denn wohl eine Bühnen- oder Kulturfilmmusik schreiben könne, dann fiel mein Name; und so kam es, dass ich mir das Studiengeld durch Bühnenaufträge in Bonn, Köln und Umgebung verdiente, was dazu führte, dass ich 1957 als Leiter der Schauspielmusik ans Essener, 1961 ans Wuppertaler Theater verpflichtet wurde und dann freischaffend bis 1972 an die 300 Bühnen-, Hörspiel- und Filmusiken geschrieben habe: ich saß am Regiepult und erfand Musik auf sprachliche und visuelle Abläufe, und ich lernte, was mir kein Lehrer erklärt hat, nämlich dass meine „Spezialbegabung“ eine synästhetische ist, eine, die auf den Zusammenhang von Hören und Sehen zielt. Es war eine spannende Zeit, ja erst die eigentliche Lehrzeit; und trotzdem versuchte ich, im Verlauf der sechziger Jahre, aus dem Karussell des Kulturbetriebs, in dem ich rotierte, wieder herauszukommen; ich fühlte mich ausgenutzt, sah meine künstlerischen Ziele fremdbestimmt und verraten, und in dieser Not begann ich 1963, erst mühsam, aber dann zunehmend sicherer, erneut Gedichte zu schreiben – und sie wurden für mich, statt der Musik, zum Freiraum, in dem ich künstlerisch nicht zu vereinnahmen war.
Heinz-Albert Heindrichs, Faksimile des Klavierfragments 1959,
Takt 109 bis 118.

Zur Klaviersonate 1955

Toccata – Elegie – Toccata

Als ich die Sonate schrieb, war ich 24 Jahre alt und noch Student der Kölner Musikhochschule. Ein paar Monate zuvor, im Dezember 1954, hatte ich für mein erstes Liederbuch überraschend den Kölner Kompositionspreis erhalten, und das war wohl der Grund dafür, dass die Universität Köln bei mir anfragte, ob ich für ein Konzert mit Uraufführungen von Kölner Komponisten ein Stück schreiben könne.
Ich sagte zu, schrieb die Sonate im Verlauf des Frühjahrs und spielte sie Ende Juni in der Aula der Kölner Uni selbst. Ich hätte sie niemand anderem übergeben können, denn das Stück wurde erst zwei Tage vor der Aufführung fertig, und da ich keinen Abstand hatte, war ich mir, vor allem bei den Schlüssen, nicht ganz sicher. So hatte ich in der Nacht vor dem Konzert eine Art Alptraum: ich saß am Flügel, spielte die zweite Toccata, wusste das Ende nicht und schlug, um es gewaltsam zu erreichen, den Klavierdeckel mit aller Kraft zu – und dabei wachte ich auf.
In der Tat ist es so, dass beide Toccaten, wie auch die Elegie, keine Schlüsse haben, sondern sozusagen ins Offene stürzen; so steht es auch als Spielanweisung über den Noten. Das ist bei vielen Arbeiten bis heute so, vor allem auch bei meinen Gedichten und Bildern. Sie entstehen zum einen in der Vorstellung, aus einem geschlossenen Kulturkreis ins Offene zu geraten, zum andern komme ich in ihnen den eigenen Lebensanfängen auf die Spur, die durch eine schwierige Zangengeburt geprägt sind, wofür ich ein Gedicht aus den achtziger Jahren zitieren möchte:
Trauma
Im trunkenen Dunkel
presst dich
wehes Erkennen
du musst
mit Zangen der Angst
deine Geburt wiederholen
du musst deinen Kopf
in Bilder entbinden
du musst hinaus
Dass dem so sein könnte, wusste ich zur Zeit der Sonate zwar nicht, unbewusst ist es ihr aber eingegeben – und so verstehe ich auch das Zitat des alten Minnesangliedes „Ich wollt, daß ich daheime wär“, das in der zweiten Toccata von ganz ferne herüberklingt, ehe die Sonate dann vollends ins Offene stürzt. Wie bei dem zitierten Gedicht, so ist das auch bei den Sätzen der Sonate schon so: sie haben ihre Spannungskurven wie bei geschlossenen Formen, aber ihren eigentlichen Schwerpunkt suchen sie am Ende außerhalb der Form.
1955 – das war für mich jedoch auch das Jahr einer stilistischen Zerreißprobe: um mich herum, zumal in Köln, begannen meine Altersgenossen seriell zu schreiben; nichts anderes galt für sie mehr. Meine Vorstellung war indessen, zwischen den damaligen Fronten hindurchzukommen, die Sinnlichkeit eines Bartok und die Splittertechnik eines Webern zugleich zu erreichen und daraus eine polare Spannung aufzubauen – die Musik musste durch Widerstände, sie war selbst widerständig, und das, denke ich, hat sie lebendig erhalten.

Zum Klavierfragment 1959

Es entstand, während ich Leiter der Schauspielmusik an den Essener Bühnen war und kaum Zeit hatte zum freien Komponieren; es sollte auch eine Sonate werden, zwölftönig anfangend, aber mit folgender Idee – 1. Satz: Sept- und Sekundspannungen; 2. Satz: konsonante Terzen und Sexten ineinander verwoben; 3. Satz: Zusammenstoß und Ausbruch – aber beim 2. Satz kam ein besonderer Auftrag auf mich zu: die Musik zu Strindbergs „Totentanz zu schreiben (mit Bernhard Minetti und Erwin Piscator als Regisseur). Danach konnte ich mich vor Bühnenaufträgen nicht mehr retten; später habe ich den stilistischen Anschluss zur Sonate nicht mehr gefunden und den begonnenen zweiten Satz als Arioso dem Allegro vorangestellt.

Zur Entstehung der Liederbücher

In einer multimedialen Szene aufgewachsen, begann ich seit den siebziger Jahren, die Medien zunehmend zu trennen und mich auf ihre Innenbereiche zu konzentrieren: auf Gedicht, Zeichnung und Lied. Zeichnen – das war zunächst die Zerstörung der Notenschrift, die Verweigerung der Buchstaben, der Ausbruch aus kompositorischer Arbeit: No-tation. Das Schreiben von Noten und Gedichten schlug um in die bloße Zeichnung; aber dieser Sprung ins Verstummen – zunächst nichts als ein Ende – ist dann unvermutet ein Sprung in unbekannte Zusammenhänge geworden. Denn offenbar werden in den No-tationen nicht nur Musik und Sprache zum Schweigen gebracht, offenbar assoziieren sie nicht nur das Ende abendländischer Notation und Semantik, sondern auch deren Anfänge – Neumen und Mönchshandschriften – und darüber hinaus außereuropäische Bild- und Schriftzeichen; sie lassen sich als Fortentwicklung grafischer Notation nach Cage, aber auch in bildnerischen Zusammenhängen mit Klee, Wols, Tobey, Michaux, und schließlich als Sonderfall visueller Poesie verstehen. Das Überraschende, ja Paradoxe: erst Trennung machte die Medien allseits beziehungsfähig – sie begannen, Analogien zu entwickeln.
Zu den No-tationen verhielten sich die Gedichte und Vertonungen indessen wie Kontrapunkte; denn sie bemühten sich nun erneut um ein genaues Notieren von Bedeutungen. Indem ich von einem Medium zum anderen umpolte, war es mir möglich geworden, verschiedene Positionen einzunehmen. In einer Zeit, in der sich alte Zusammenhänge auflösten und unüberschaubar neue bildeten, schien ein geschlossenes Ganzes nicht mehr möglich, wohl aber punktuelle Verdichtung in Analogien, die übergreifende Anschauungen imaginieren...

Inhaltsverzeichnis

  1. Hinweise
  2. Linien und Punkte
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Heinz-Albert Heindrichs: Mein Werk
  5. Ausgewählte Beiträge über das Werk von Heinz-Albert Heindrichs
  6. Zeitungsartikel
  7. Gedichtbesprechungen
  8. Schlüsselgedichte
  9. Werkverzeichnis
  10. Impressum