Detlef Thiel
Angewandte Transzendentalphilosophie: Organotechnik
1. Der Schöpfer
2. George Grosz
3. Tarzaniade
4. Der antibabylonische Turm
5. Der lachende Hiob
6. Kant/Marx
Sechs Prosatexte von Mynona aus den Jahren 1918 bis 1936 – Der lachende Hiob, seit über 75 Jahren nicht mehr gedruckt, erscheint hier, wie auch Der Schöpfer und Der antibabylonische Turm in der Fassung letzter Hand. Kant/Marx wird erstmals aus dem Nachlaß veröffentlicht. Mit dem Antibabylonischen Turm ist ein politisches Kriminalstück verknüpft, das unmittelbarer Anlaß für Friedlaenders Emigration war; im Lachenden Hiob ist diese traumatische Erfahrung verarbeitet. Der rote Faden, der sich durch alle Texte zieht, sei vorweg aufgezeigt.
Im Frühjahr 1918 erscheint die Abhandlung Das Problem der exzentrischen Empfindung von Ernst Marcus, eine neue Theorie der Wahrnehmung und der Stellung des Menschen im Kosmos. Im Hauptberuf Jurist in Essen, war Marcus (1856-1928) autodidaktisch über Schopenhauer zur Philosophie Kants gekommen. Bereits in seinem ersten Buch hatte er seine Erkenntnistheorie entworfen und auch über die „excentrische Lokalisation der Empfindung“ gehandelt. Ins Zentrum des „Weltgebäudes“ setzt er das Ich oder Subjekt, den menschlichen Geist, den selbstbewußten Intellekt; an der Peripherie treten Zeit und Raum auf; der Radius, der Zentrum und Peripherie sowohl verbindet wie trennt, ist die Copula gnostica, das Band der Erkenntnis.1 Marcus will die konkreten Folgerungen der von Kant gegebenen Regeln der Transzendentalphilosophie darstellen; sein Ausbau dieser Wissenschaft gehöre also zur „angewandten Transzendentalphilosophie“.1
In der Abhandlung von 1918 baut er einen Ansatz des späten Kant aus zu einer Theorie, die man expressionistisch im Wortsinn nennen kann. Im Opus postumum hatte Kant versucht, die ihn quälende Frage zu beantworten, wie der Übergang von der Metaphysik zur Physik, vom Apriori zur Empirie bewerkstelligt werden könne. Dazu sei ein neuer Schematismus oder Mittelbegriff notwendig. Man müsse eine Materie annehmen, die dem Prinzip der Möglichkeit aller Erfahrung zugrunde liegt: ein überall im Weltraum ausgebreiteter Stoff in steter Agitation, Zitterung, Schwingung. Sein Name ist sekundär gegenüber seiner Funktion; Kant nennt ihn Äther, Basis, Wärme-, Feuer-, Licht-, Urstoff usw.2
Marcus macht Kants Ätherspekulation (die in der neueren Forschung eher als ein aufgegebener Versuch beurteilt wird) zur Grundlage eines kühnen Entwurfs von der Aktivität des Gehirns über die Hautgrenzen des Leibes hinaus bis ins Kosmische. Das Zentralorgan reagiere auf die sinnlich empfangenen physikalischen Wellen mit „organätherischen“ Wellen, die es in die Äthermaterie „hinausschießt“. Die Sinnesempfindungen sitzen weder im Gehirn, noch in Retina, Trommelfell, Fingerspitzen usw., sondern ‚exzentrisch’ an den jeweils empfundenen Objekten selber, mögen sie auch, z. B. als optische Gebilde, in weiter Ferne liegen.3
Dieser Äther darf freilich nicht gleich mit einer mehr oder weniger handfesten Substanz verwechselt werden, wie es in der Physik des 19. Jahrhunderts und in gewissen okkultistischen Spekulationen geschieht. Es ist vorerst nur die Instanz, die den Dualismus von in-telligibler und sensibler Welt ausgleicht: Vermittlung der Gegensätze, Kontakt der Extreme, Zusammenhang der Pole – notwendig ist ein Medium, das von beiden Seiten etwas hat, ohne nur die eine oder die andere zu sein: Geist und Materie, Wille und Leib, Absicht und Tat, Sprache und Objekt, Wort und Ding.
Friedlaender/Mynona (im folgenden: F/M), der seit 1900 mit Marcus in immer intensiverem Austausch steht, sorgt für den Druck von Marcus’ Abhandlung, gibt Zusammenfassungen, hält bei einem Sturm-Kunstabend einen Vortrag darüber und kommt fortan immer wieder auf die skizzierten Grundgedanken zurück.1 Um diese kreisen alle hier versammelten Texte, in größerer Distanz sogar noch die Tarzaniade.
Marcus’ Theorie öffnet für F/M die Möglichkeit, seine bisherigen Lösungen jenes Dualismusproblems zu präzisieren. Die zufällige, zerfallende, differenzierte Welt kann nur ein Subjekt noch zusammenhalten, das absolut frei von allen Äußerlichkeiten ist, „ein inhaltsleeres Integral“.2 Eine solche Instanz nennt F/M „schöpferische Indifferenz“, gelegentlich spielt er mit dem Gedanken magischer Allmacht.3 Kaum verwunderlich in einer Phase blühender Geheimwissenschaften und abstruser Technikvisionen, einer Zeit krisenhafter Verwirrungen, die mit der Weimarer Republik in definitiver, mörderischer Verirrung endete. Marcus kuriert F/M von Schwärmereien; beide weisen jegliche Form von Okkultismus, Spiritismus, Theosophie usw. aufs strengste zurück und kämpfen darum, die faule „Hokuspokusmagie“ durch ihre seriöse Kantianisierung den zeitgenössischen Mystagogen zu entreißen. (Analog geht F/M um 1935 daran, den Polarismusbegriff endgültig aus den „Klauen der Romantiker“ zu befreien.)1 In Der Schöpfer, geschrieben etwa zwei Jahre vor Robert Wienes Film Das Cabinet des Dr. Caligari, wird aus Marcus’ Buch von 1899 zitiert (Kap. XV), und es wird ein „fast spiritistisch“ anmutendes Experiment durchgeführt – die Gefahr gravierender Mißverständnisse sucht F/M bereits 1914 abzuwehren: „Es riecht ein wenig nach Astralleib“, heißt es in einem Dialog; Antwort: „Lassen Sie diese mokanten Assoziationen!“2
Auch in der kunst- und politiktheoretischen Abhandlung über George Grosz erwähnt F/M die Exzentrische Empfindung und die Äthertheorie. Beides wird breit entfaltet in dem Roman Graue Magie (1923; GS 14). Im Antibabylonischen Turm kommt die Radiotechnik hinzu sowie ein geheimnisvoller, für die Gehirnwellen empfindlicher „Stoff“; hier ist erstmals die Rede davon, daß die Organo- die alte Mechanotechnik überwinden werde. Im Exil bringt F/M die Idee zur schärfsten Veranschaulichung: Magische Revolution steht geradezu unter dem Zeichen Marconis; im Lachenden Hiob dann sind technische Apparate überflüssig geworden, der reine Vernunftgeist steht gleichsam metabiotisch über dem Leben.
1. Der Schöpfer
Im Juli 1918 erscheint das Werk, mit dem F/Ms Name verknüpft bleibt: Schöpferische Indifferenz. Doch war es sozusagen schon verspätet: F/M beginnt, sich von einem kritischen Nietzscheaner zu einem radikalen, ja rabiaten Kant-Marcusianer zu wandeln. Der Schöpfer steht noch auf der Grenze, hier verknüpfen sich alte Motive mit den neuen. Wann diese Phantasie geschrieben wurde, läßt sich nicht genau bestimmen. Alfred Kubin, einem seiner wichtigsten Briefpartner jener Zeit, teilt F/M am 20. Februar 1918 mit, er habe ein neues Groteskenbuch beim Verlag Georg Müller eingereicht: „Das widerspenstige Brautbett“. Es wird angenommen, bleibt aber liegen; es enthält bereits den Schöpfer. Im Frühjahr 1919 bringt F/M diesen Text in sieben Folgen in den von ihm redigierten Beiblättern zu Anselm Ruests Zeitschrift Der Einzige. Eine Redaktionsnotiz:
„Aus technischen Gründen, und damit der Leser vor der wichtigen 15 – die den gesamten Schluß des ‚Schöpfers’ (von Mynona) bringen soll, dieses seit Nostradamus sicher tiefsinnigsten magischen Versuches (Novelle = Essay?) – sämtliche 14 Hefte noch einmal in Ruhe studieren kann, erscheint die nächste Nummer des ‚Einzigen’ erst in 14 Tagen.“3
Nach Abschluß dieses Erstdruckes antwortet F/M am 13. Juni 1919 auf einen nicht überlieferten Brief Kubins:
„Eine so wundervolle Resonanz wie bei Ihnen finde ich sonst nirgends […] Sie sind immer der Schenkende in unserem Verhältnis, und ich kann immer nur nehmen, selbst wo ich Ihnen nach Ihrer Meinung etwas zu geben scheine, wie mit dem ‚Schöpfer’. Es erstaunt mich, daß Sie diesen so überschwänglich schätzen, und ich kann es mir nur so erklären, daß Sie mich mit dem Reichtum Ihrer Phantasie, der so leicht angeregt wird, überhäufen. Das sind so Projektions-Illusionen, wenn man einen einigermaßen glattgespannten Schirm genießt, nicht wahr?“4
F/M sucht nun den Schöpfer aus dem Konvolut von „Das widerspenstige Brautbett“ herauszulösen. An Müller, 12. Juli: Bei erneuter Durchlesung
„fiel es mir als äußerst unangenehm auf, wie sehr die darin zum Schluß angesetzte, eigentlich viel mehr rein philosophische Arbeit ,Der Schöpfer’, welche garkeine Groteske ist, die leichte Lesbarkeit (schon durch ihren das Buch disproportionierenden Anfang) sehr beeinträchtigt. Sie sind ja ohnedies meiner mehr philosophischen Manier abgeneigt. Wollten Sie mir sogleich den Schöpfer wieder zur Verfügung stellen, so würde das Buch, meines Erachtens, gewinnen; ev. bin ich bereit, Ihnen ein paar Grotesken im Umfange des Schöpfers als Ersatz zu bieten, obgleich ich dafürhalte, daß das Buch, auch ohne den Schöpfer, genugenthält.“
Nochmals, 18. Juli: Das Thema der langen Schlußnovelle sei, „wie betont, rein philosophisch“. Am selben Tag an Kurt Wolff:
„Ich verpflichte mich hiermit, Ihnen in gemessener Frist, spätestens in einem halben Jahr, ein in Ihre Sammlung Schwarze Bücher passendes Manuskript zu übergeben; […] Ich schwanke zwischen der Wahl einer einzelnen phantastischen Novelle und einer Sammlung Grotesken.“
Am 21. Juli fragt F/M Kubin, ob er bei Wolff darauf dringen wolle, den Schöpfer – mit Illustrationen – dort unterzubringen; er lockt mit einer öffentlichen Zueignung. Da der mit Müller bestehende Generalvertrag inzwischen aufgelöst wurde und F/M 2400,-Mark Vorschuß zurückerstatten muß, drängt er Kubin, zu illustrieren, denn er könne sonst nur „mynonische Ätzlauge“ schreiben, den Anti-Freud: „Kurzum, Sie sollen, müssen und werden gewiß nichts Anderes illustrieren als den Schöpfer, nicht wahr?! Ich habe einfach garnichts Anderes.“ (31. Juli) Kubin sagt zu. Am 11. August dankt ihm F/M; der Vertrag mit Wolff sei perfekt. Kubin am 21. August:
„Daß Sie von Lasten befreit sind über meine nachträgliche Dochbereitschaft in Sachen ‚Schöpfer’ höre ich mit größtem Wohlgefallen, der Entschluß kostete mich gewiß ...