VIII Die Entstehung der ägyptischen Religion
VIII A Vergleich mit der Mythologie anderer Völker
Wenn man alle Kulturen in der Nachbarschaft von Ägypten und auch alle anderen detaillierter bekannten frühen Kulturen eingehend betrachten und mit Ägypten vergleichen würde, ergäbe sich ein eigenes Buch. Daher liegt im folgenden der Schwerpunkt dieses Kapitels auf dem nächsten Nachbarn Ägyptens, der eine ähnliche Kulturstufe erreicht hat, also auf Sumer in Mesopotamien. Elam, das im Südosten von Sumer am Fuße des iranischen Hochlandes lag, scheint weitgehend dieselbe Kultur wie Sumer gehabt zu haben.
Die frühesten Frauenstatuetten in Mesopotamien entsprechen ganz denen Ägyptens und denen aus dem späten Neolithikum. In der sumerischen Frühzeit ab ca. 3.000 v.Chr. war in allen Städten eine Form der Großen Göttin die oberste Gottheit, während ihr männlicher Begleiter eine deutlich untergeordnete Rolle spielte. Die wichtigste dieser Göttinnen war Inanna, mit der zusammen Dumuzi verehrt wurde. Diesem Paar entsprachen im späteren Kleinasien Astarte und Adonis, Kybele und Attis, Ischtar und Tammuz, Maria und Jesus und viele andere.
Das wichtigste Symbol der Inanna war die Rosette, die einer stilisierten, achtblättrigen Blüte gleicht. Neben Inanna wurde oft ein Baum abgebildet, auf dem sich Blüten, Sterne oder Vögel, meist Wasservögel, befanden. In einigen Fällen war dieser Baum eine Palme. Auch das Rind war eng mit Inanna verbunden und ebenso mit den männlichen Gottheiten, deren wichtigstes Kennzeichen der Rinderhörnerhelm war. Da Inanna auf den Abbildungen auch die typischen Hathorlocken trägt, ist sie mit Hathor so gut wie identisch: die Göttin als Himmel und als Kuh, zu der die Seele über den Welten- und Lebensbaum als Vogel gelangt und als Blüte oder Stern von ihr wiedergeboren wird. Der Stern, der wie die ägyptische Hieroglyphe ein Punkt, von dem fünf Strahlen ausgingen, war, wurde von den Sumerern auch als Zeichen für „Gott“ benutzt – die Ägypter benutzten dieses Zeichen für „Stern“ und für „Jenseits“. Hier findet sich in beiden Kulturen die enge Verbindung von Stern, Seele, Jenseits, Ahnen und Gott.
Auf einer Schale wird Inanna zusammen mit zwei Panthern und zwei Sternen dargestellt – eine Parallele zu der Sternengöttin Hathor mit den beiden Panthern der Mafdet. Die beiden Schlangen, die Symbole der Wiedergeburt (Hathor), die Inanna in ihren Händen hält, finden sich als die Querstangen in der Sistrum-Rassel der Hathor wieder. Diese Übereinstimmung in den ägyptischen und der sumerischen Vorstellungen über die Göttin waren auch die Grundlage dafür, daß später dann die Göttin Kadeschet aus Kleinasien mit ihrem Löwen und ihren beiden Schlangen so mühelos in die ägyptische Götterwelt eingefügt werden konnte, als sich die beiden Kulturen stilistisch schon deutlich unterschieden – aber die gemeinsame Wurzel der beiden Religionen in ihrer Symbolik noch sehr deutlich erhalten geblieben war.
Sowohl im vordynastischen Ägypten als auch in Sumer befindet sich die Göttin hin und wieder mit den hörnerartig erhobenen Armen auf einem leiterartigen Gestell (siehe Hathorsäule). In Ägypten steht dann oft neben ihr ein Mensch auf einem etwas niedrigeren Gestell, während in Mesopotamien ganze Reihen dieses Motives vorkommen (Bildreihen finden sich in Sumer sonst nur bei Tieren). Diese Gestelle werden wie die viel spätere biblische Jakobsleiter „Himmelsleitern“ sein – auch die Pyramiden wurden oft als die Himmelsleiter des Pharaos bezeichnet.
Wie in Ägypten ist der König eines sumerischen Stadtstaates zugleich auch der oberste Priester gewesen und war daher besonders eng mit der Göttin verbunden. Er galt als Sohn der Göttin und in späterer Zeit selber als Gott, meist als Dumuzi. Dies entspricht deutlich dem Verhältnis zwischen Isis und Osiris bzw. Hathor und Horus und auch der Auffassung des Osiris als Ahnherrn des Pharaos.
Auch die Wiedergeburtssymbolik findet sich unverkennbar wieder, denn es gibt aus Sumer eine Reihe von neolithischen Darstellungen, auf denen sich die nackte Göttin (wie Isis) auf den am Boden liegenden Toten (entspricht Osiris) setzt und sich sexuell mit ihm vereint. Die manchmal neben diesen Darstellungen aufsteigende Schlange weist ebenfalls auf Wiedergeburtsmagie hin.
Diese Symbolik ist auf den Ackerbau übertragen worden. In jedem Frühjahr vereinigte sich der König als oberster Priester des Dumuzi mit der obersten Priesterin der Inanna, um für die Herden, die Äcker und die Menschen Fruchtbarkeit und Wohlstand zu erzeugen. Auf Rollsiegeln aus der Zeit vor der schriftlichen Überlieferung in Sumer finden sich Darstellungen, auf denen sich ein Mann und eine Frau vereinen, wobei der Mann hinter der Frau steht und die Frau die bei vielen vordynastischen Göttinnendarstellungen leicht gebückte Haltung einnimmt. Diese Darstellungsweise der Göttin findet sich schon in den altsteinzeitlichen Höhlenbildern, wo die Göttin fast immer in dieser Haltung abgebildet wird und ebenso in den vordynastischen Tonstatuetten der Göttin.
Diese Haltung, bei der der Mann hinter der leicht gebückten Frau steht, ist die typische Paarungshaltung aller Säugetiere und bis in die Jungsteinzeit hinein anscheinend auch die der Menschen.
Es läßt sich nur schwer sagen, wann das Motiv der Seelenzeugung entstanden ist – vermutlich reicht es in seinen Anfängen bis in die Altsteinzeit zurück, aber es ist vermutlich nie zu einem durchgängigen Motiv geworden, weil es auch in Sumer und Ägypten immer nur hin und wieder auftritt – sozusagen als erklärende mythologische Nebenbemerkung oder um die Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit des Toten hervorzuheben. Zudem paßt dieses Motiv ja auch nicht zu der Wiedergeburt von Frauen. Möglicherweise hängt die später in einigen Kulturen (Christentum, Hindhuismus, Islam) vereinzelt auftretende Ansicht, daß Frauen keine Seele haben, mit diesem alten Motiv der Seelenzeugung zusammen.
Wie den ersten ägyptischen Königen sagte man auch den ersten sumerischen Königen eine mythologisch lange Lebenszeit nach.
In Sumer bis ca. 2.500 v.Chr. und in der 1. Dynastie in Ägypten scheint es gelegentlich Menschenopfer gegeben zu haben und ebenso die Sitte, die Dienerschaft des Königs bei dessen Tod zu ermorden und mitzubestatten. Diese Diener wurden aber schon sehr in den ersten Dynastien durch Tonfiguren ersetzt, die in Ägypten Uschebtis genannt wurden.
Der Schamanismus hat sich in Sumer offenbar genauso wie in Ägypten halten können, denn in dem Kult der meospotamischen Gottheiten ist des öfteren ein Ekstasepriester anzutreffen, der den Namen „Machu“ trägt, der von dem Wort „mach“ („hoch“) abgeleitet ist. Da das Wort „hoch“ in vielen Sprachen sowohl „hoch“ als auch „Ekstase“ bedeutet (wie das englische „high“ oder das altägyptische „kai“), kann man davon ausgehen, daß dieser Priester zum einen eben den Namen seines Zustandes trägt, und sein Name zum anderen eine Anspielung auf den Weltenbaum ist.
Es existierte sogar noch eine eigene Bezeichnung für den Schamanen, der über den lebensspendenden Trank verfügte, mit dem er Tote aus der Unterwelt zurückholen konnte. Dieser Trank entspricht dem Trank bei den Hathorfesten und auch dem Met der Germanen, dem Nektar und Ambrosia der Griechen, dem Haoma der Perser, dem Soma der Inder usw.
Aus der ursprünglichen Symbolik der Wiedergeburt durch die Göttin war zunächst das Symbol ihrer lebenspendenen Milch geworden, das sich dann in einem nächsten Schritt zu einem konkreten rituellen Getränk weiterentwickelte, das zunächst aus Milch und oft auch aus Honig bestand. Zu diesem Getränk wurden dann psychotrope Pflanzenauszüge gefügt, die dem Schamanen und den Teilnehmern an den Festen der Göttin einen Trancezustand erleichterten. Schließlich wurde dieses Getränk dann als Mittel angesehen, nicht nur im Jenseits wiedergeboren zu werden, sondern in physischer Gestalt Unsterblichkeit zu erlangen – das Lebenselixier der europäischen Alchemisten und der indischen Yogis und der chinesischen Weisen.
Der dem Osiris entsprechende Vegetations- und Totengott Dumuzi wurde auch „Sil“, d.h. „der Irre“ genannt, was vermutlich eine Anspielung auf den Ekstasezustand ist, den man von den Schamanen kannte und den man daher auch mit dem Totengott assoziierte. Wenn dies zutrifft, dann wäre diese Name des Dumuzi eine Analogie zu dem Namen des germanischen Odin-Wotan, da sich dessen Name von dem Wort „wuot“, das „Ekstase, Wut“ bedeutet, ableitet.
In Ägypten und in Sumer finden sich weitgehend diegleichen Tiere dargestellt, ebenso die beiden Löwen bzw. Schlangenhalspanther, deren Hälse sich oft wie die Schlangen am Hermesstab umeinanderringeln, und die einen Mann oder einen Vogel emporheben – der Vogel findet sich am oberen Ende des Hermesstabes als die Flügelsonne wieder.
In der Zeit von vor 3.000 v.Chr. sitzt der Vogel in den Darstellungen in beiden Ländern auch oft auf einer Antilope. Die auch im vordynastischen Ägypten vorkommende Darstellung zweier Antilopen, die sich mit den Hufen berühren, wobei die eine aufrecht steht und die andere sozusagen auf dem Rücken liegt und die in entgegengesetzte Richtungen blicken, weist wohl auf Leben und Tod oder genauer gesagt, auf Geburt und Wiedergeburt hin.
Eine späte Version dieser Mondphasen-Doppeltier-Göttin-Symbolik wird die Doppelaxt, die sich vor allem auf Kreta findet, sein. Die früheste Version dieser Symbolik findet sich in der altsteinzeitlichen Höhlenmalerei, wo zwei Frauenoberleiber dargestellt sind, die wie bei einer Skatkarte auseinander hervorwachsen – in Ägypten wurden daraus die beiden in entgegengesetzte Richtung blickenden Köpfe der Hathor an der Hathorsäule und in Rom der zweigesichtige Gott Janus.
In der sumerischen Weltanschauung finden sich eine Reihe Parallelen zu Ägypten:
1. Die Welt entstand aus der Urflut Tiamat (der Name dieser Göttin wurde im Hebräischen (Bibel) zu Tehom, dem Urmeer; ägyptisch: Nun/Nut) bzw. durch die Trennung der Himmelsgöttin Inanna (Nut) von dem Erdgott Enki (Geb). Es gab aber auch die Vorstellung von einem Himmelsgott An und der Erdgöttin Nammu. Auch in der Bibel beginnt die Welterschaffung mit der Trennung von Wasser (Himmelswasser Nun/Nut) und Erde (Geb).
2. In der Krone des Weltenbaumes, der Inanna (Hathor) gehört, befindet sich der Anzu, den man auch Shulpa'e, den „Falken der Götter“ (Horus) nannte. In dem Stamm des Weltenbaumes wohnte Lilith (Hathor) und unter seinen Wurzeln befand sich die Schlange (Apophis) sowie die Unterwelt (Osiris-Grabhöhle). Der Falke (Horus) war auch in Sumer mit der Himmelsgöttin (Hathor) eng verbunden.
3. In die Unterwelt gelangte man über einen Fluß, über den man von einem Fährmann (Schamane) hinübergefahren wird (Jenseitsfährmann).
4. Dumuzi wurde wie Osiris mit dem Sternbild Orion gleichgesetzt.
5. Die Toten sind „wie Vögel gekleidet“ (Seelenvögel).
6. Die Götter wurden nach dem Vorbild des irdischen Staates geordnet (Re = Pharao).
7. Der König ist der Nachfolger des Dumuzi (Osiris).
8. Der Kult besteht in erster Linie aus Totenopfern (Götter = vergöttlichte Ahnen).
9. Die Kinder der Inanna (Hathor) waren matrilinear geordnet.
Im Gegensatz zu den Ägyptern hatten die Sumerer eine sehr lebhafte Vorstellung vom persönlichen Schutzgeist, also der eigenen Seele, der „Gottheit im eigenen Herzen“ der Ägypter. Er schwebt über den Menschen und hat oft die Gestalt eines Tieres (persönliches Krafttier) – dies entspricht dem vor allem von den Indianern bekannten Nagual oder Totem. Ohne ihn war man nach sumerischer Ansicht völlig schutzlos und er war der Trost und Halt der Menschen, an den man sich allezeit mit seinen Sorgen wenden konnte.
Die Sumerer nannten diesen Schutzgeist „seines Gottes Sohn“ - ein Falkenschutzgeist wäre demnach ein „Sohn“ des Falkengottes Shulpa'e. Man nannte diesen Schutzgeist auch „ dieses Menschen Gott“, also das Höchste und Göttlichste dieses Menschen, an dem er sich orientiert, aus dem er stammt und von dem er immer Hilfe erlangen kann. Selbst die Götter haben einen Schutzgeist – woran sich wieder einmal zeigt, das die Götter aus vergöttlichten Ahnen entstanden sind. Wie sich u.a. bei Inanna zeigt, braucht dieser Schutzgeist nicht unbedingt dasselbe Geschlecht wie die Gottheit bzw. der Mensch zu haben, über den er wacht, denn der Schutzgeist Inannas trägt den männlichen Namen „Ninschubur“. Dies entspricht heutigen Beobachtungen z.B. bei Traumreisen zur eigenen Mitte, bei denen die Seele und auch das Krafttier nicht unbedingt dasselbe Geschlecht haben muß wie die Person, zu der sie gehören.
Ansonsten findet sich in Sumer noch
die Sitte, die Toten wie in Ägypten und in der späten Jungsteinzeit im Haus zu begraben,
die auch aus d...