Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat auch keine Kraft zum Kämpfen. (Weisheit aus Afrika)
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Ein Integrationshelfer für die 1. Klasse
Bei einem unserer Treffen der Selbsthilfegruppe sprach ein Vater davon, in Erwägung zu ziehen, für seine Tochter einen Integrationshelfer zu beantragen. Ich war überrascht. Dass es so etwas gibt, wussten wir, aber doch nur für köperbehinderte Kinder. Oder? Der Vater berichtete uns, dass es mittlerweile auch Integrationshelfer für Kommunikation gibt. Unser Interesse war geweckt und voller Vorfreude durchsuchte ich das Internet nach Informationen, gesetzlichen Festlegungen, Anträgen, zuständigen Behörden etc. Vereinzelt stieß ich auch auf die gesuchten Informationen, allerdings traf keine einzige auf Sachsen zu. Das irritierte mich. Somit beschloss ich es auf dem „altmodischen“ Weg zu probieren und mich telefonisch durchzufragen. Wer selbst auf diesem Terrain schon Erfahrungen gesammelt hat, wird jetzt sicher nicht verwundert sein zu lesen, dass ich anfangs von einem zum anderen verwiesen wurde. Ein bisschen erinnerte es mich an den Film „Asterix erobert Rom“, als Asterix im Haus der Bürokratie einen Stempel ergattern sollte. Eine gefühlte Ewigkeit flitzte er im Schnelldurchlauf kreuz und quer durch das besagte Haus, um von einem zum anderen und wieder zurück verwiesen zu werden. Willkommen in der Realität! Als sich nach und nach der Kreis sprichwörtlich enger zog und ich dann das wirklich zuständige Amt herausgefunden hatte, erhielt ich von der Dame am anderen Ende die folgende Auskunft: „Das kenne ich nicht. Das haben wir hier noch nie gemacht. Also wird es so etwas hier auch nicht geben.“ Erst sah ich ein großes Fragezeichen vor meinem geistigen Auge: Und nun? Doch Moment - aus dem Fragezeichen wurde ein Ausrufezeichen: Dann wird es endlich Zeit, dass der Landkreis einen solchen Fall bekommt! Etwas einfacher hatte ich es mir schon vorgestellt, aber was war schon einfach in den letzten Jahren. Beschreiten wir also gemeinsam Neuland!
Im Endeffekt war es gar nicht so schwierig. Wir bekamen unseren Integrationshelfer genehmigt. Gleichzeitig standen wir nun vor der nächsten Herausforderung. Wer wird unser Integrationshelfer? Nicht, dass uns der Gedanke noch nicht beschäftigt hätte, aber jetzt wurde es ernst. Die Liste mit unseren Wunschkandidaten war lang. Mit den meisten hatte ich auch schon das Gespräch gesucht. Ausnahmslos alle fanden den angebotenen Job interessant und einige sahen darin sogar eine neue berufliche Herausforderung. Hier endeten allerdings die erfreulichen Nachrichten. Denn bei Themen wie Einkommen, Wochenstunden, Beschäftigungsverhältnis, Länge der Maßnahme verbunden mit dem Wissen, einen sicheren Job dafür aufgeben zu müssen, rieselten uns die Kandidaten durch die Hand wie trockener Sand und am Ende waren auf unserer Liste alle Namen durchgestrichen. Traurig für uns, aber sehr gut nachvollziehbar und verständlich! Schließlich war der Bescheid nicht nur zeitlich auf ein Jahr befristet, sondern es stand auch gleich der Hinweis darin, dass der Bescheid nur so lange gültig ist, wie die integrative Beschulung erfolgreich ist. Wer kann schon in die Zukunft sehen und sagen, wie lange dies der Fall sein würde? Hinzu kommt, dass uns nur eine ungelernte Kraft bewilligt wurde. Dass in dem sozialen Sektor nicht gerade Traumlöhne gezahlt werden, ist hinlänglich bekannt. Somit kann sich jeder ausrechnen, was eine ungelernte Fachkraft in diesem Bereich verdient. Gesucht wurde also viel Leistung für wenig Vergütung.
Als wir wieder einmal weitere Möglichkeiten überlegten, fiel mir eine Schulfreundin von früher ein, die jetzt bei einem sozialen Leistungsträger arbeitet. Gleich am nächsten Tag rief ich bei ihr an und schilderte unsere Situation. Zu meiner großen Überraschung wusste sie, wovon ich spreche, konnte es verstehen und sagte dann auch noch: „Ich glaube, ich habe da jemanden für euch. Das würde perfekt passen. Gib mir ein paar Tage Zeit, ich melde mich bei dir.“ Hatte Sie das wirklich gesagt oder träumte ich? Wir konnten es kaum fassen, nun vielleicht doch endlich ein Stück weiterzukommen und warteten ungeduldig auf den Anruf. Es dauerte nicht lange und wir erhielten nicht nur eine Nachricht von ihr, sondern gleich noch den Namen des jungen Herrn, der unseren Sohn künftig begleiten würde sowie einen Termin, an dem wir uns kennenlernen sollten. Es überstieg jetzt unsere Erwartungen, dass wir uns sogar noch vor Schulbeginn treffen konnten, wo wir doch vom Amt die klare Aussage hatten, dass genau das nicht nötig sei und daher nicht genehmigt wurde.
Vier Tage vor dem Schulanfang lernten wir uns kennen. Als meine Schulfreundin den jungen Herrn mit Namen vorstellte, stutzte ich. Hatte ich mir nicht einen ganz anderen notiert? Mein Gehirn rotierte und das hat sie mir wahrscheinlich auch angesehen, lächelte und sagte: „Ja, er ist nicht der Mann, über den wir gesprochen haben, aber ich denke auch er ist für Rafael geeignet.“ Wir vertrauten ihr und gingen offen in das Gespräch. Zum Ende hin beschlichen mich allerdings Zweifel, ob er wirklich der Richtige für diesen Job war. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn an der Seite von Rafael in der Klasse und zusammen mit unseren Lehrern. Irgendetwas störte das Bild, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was es war. Aber ich vertraute meiner Schulfreundin und bewahrte die Ruhe. Loslaufen lassen - es war schließlich für uns alle eine neue Situation.
Außerdem hatte der junge Mann am nächsten Tag einen Termin in der Schule, um auch die Lehrer kennenzulernen und die Lehrer ihn. Gerade dieser Aspekt war in der Schulintegration nicht zu unterschätzen. Die Lehrer waren es gewöhnt allein in der Klasse zu stehen und Hand aufs Herz: Wer lässt sich schon gern beim Arbeiten auf die Finger schauen, egal wie sicher man in seinem Job ist? Deshalb konnte ich auch die Nervosität der Lehrer nur zu gut verstehen. Ich kann mich noch gut an die erste Reaktion erinnern: Jemand „Fremden“ in der Schule? Die Begeisterung hielt sich in Grenzen. Als ich aber erwähnte, dass es sich um einen jungen Mann handelte, der Rafael begleiten wird, huschte ein Lächeln über die Gesichter der durchweg weiblichen Lehrerschaft. Die Nervosität blieb.
Erleichtert waren wir deshalb, als wir von unserer Klassenlehrerin hörten, dass das Treffen gut verlaufen und man sich sympathisch sei. Wieder etwas geschafft! Jetzt kann der Schulanfang kommen. Dachten wir. Am nächsten Tag klingelte das Telefon und meine Schulfreundin war am anderen Ende der Leitung. Sie erklärte mir, dass sie schon in unserem ersten Gespräch vor ein paar Tagen zu der Überzeugung gekommen war, personell doch nicht den Richtigen ausgewählt zu haben. Es sei ihr nun aber doch noch gelungen, den jungen Mann, an den sie ursprünglich gedacht hatte, für den Job wieder zu gewinnen. Ehrlich? Ich war erleichtert. Zwar kannte ich ihn noch nicht, aber das ungute Bauchgefühl hatte sich die letzten Tage nicht wirklich gelegt, und so sah ich jetzt doch noch eine Chance. Leider konnte er aufgrund der kurzfristigen Entscheidung bei der Einschulung nicht dabei sein und Rafael würde seinen neuen Partner erst am ersten Schultag kennenlernen.
Die Augenblicke, in denen wir innehalten, sind kostbar. (Voltaire)
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Rafaels Start in der Grundschule
„Diese Zuckertüte ist für Rafael“, sagt Paul, als er seinem kleinen Bruder die Zuckertüte auf der Bühne überreicht und ihn somit als Schüler der ersten Klasse in unserem Dorf willkommen heißt. Wer von uns allen in diesem Moment am glücklichsten ist, lässt sich kaum sagen. Rafael strahlt von seiner Zuckertüte zu seinem großen Bruder und wieder zurück. Eine Zuckertüte mit einem richtigen kleinen Traktor drauf! So wie er es sich gewünscht hatte.
Der erste Schultag kam und wir waren schon zeitig im Klassenzimmer. Gemeinsam mit der Lehrerin warteten wir gespannt auf den neuen Integrationshelfer. Als dann ein junger Mann das Gebäude ohne Schulkind an der Hand betrat, fiel die Anspannung ab. Ja, dachte ich, meine Schulfreundin hatte recht, er würde der Richtige für Rafael sein. Woher ich das wusste? Keine Ahnung – es war wieder einmal das geheimnisvolle Bauchgefühl. Jetzt konnte ich Rafael ruhigen Gewissens in seinen neuen Lebensabschnitt starten lassen. Bis hierher hatten wir es also schon einmal geschafft!
Dass Rafael nun in seinem Heimatort in die Schule gehen durfte, war nicht selbstverständlich. Umso mehr war es uns Eltern ein Bedürfnis, uns bei allen, die dazu beigetragen hatten, zu bedanken. Dies taten wir auf der Rückseite der Dankeschönkarte zum Schulanfang:
Diesen Tag möchten auch wir Eltern als Anlass nehmen,
um uns bei denen zu bedanken,
die dazu beigetragen haben, dass Rafael jetzt ein stolzer und
glücklicher Schüler der Grundschule hier im Ort sein kann –
dazu gehören nicht nur die Therapeuten,
die ihn jahrelang gefördert und motiviert haben,
sondern auch alle Menschen,
die uns besonders in den schwierigen Zeiten unterstützt und
bestärkt haben, den Weg weiterzugehen.
Wir erleben zurzeit, was wir bis jetzt nur zu hoffen gewagt haben:
Rafael fühlt sich wohl, ist unter seinen Freunden und hat auch weiterhin
außerhalb der Schule Zeit, sich mit Kindern zu treffen –
er gehört einfach dazu.
Er ist ein kleiner Kämpfer und gibt sich unglaublich viel Mühe, langsam und
deutlich zu sprechen. Zurzeit scheint es, als ob er neue Begriffe und Phrasen
leichter und schneller lernt als bisher. Sicherheit und Unterstützung
erhält er im Unterricht - neben viel Engagement der Lehrerin –
von seinem neuen "Partner", seinem Integrationshelfer.
Die beiden sind ein gutes Team!
Mit Rafaels Einschulung in [der Dorfschule] ist auch ein großer Wunsch
von Paul in Erfüllung gegangen, der es jetzt genießt, seinen Bruder weiterhin
in der Nähe zu haben und zu wissen, dass er unter seinen Freunden ist.
Herzliche Grüße von [uns Eltern]
Das Glück besteht darin zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein. (Simone de Beauvoir)
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Schulalltag mit Hörschädigung
Zu dieser Zeit gab es in unserer Gemeinde zwei Kindergärten, deren Kinder sich in der Schule zusammengefunden hatten. Die Hälfte der Kinder, die mit Rafael in der Klasse saßen, kannten ihn, wussten mit ihm umzugehen. Damit es mit den anderen Kindern, gar nicht erst zu Missverständnissen kam, waren wir uns mit der Lehrerin schnell einig und ich besuchte die Kinder an ihrem dritten Schultag.
22 Augenpaare schauten mich erwartungsvoll an. Rafael hatte ich schon erklärt, warum ich ihn an diesem Tag in die Schule begleiten würde. Als erstes fragte ich die Kinder, ob sie jemanden kennen, der schwer hört. Natürlich gab es einige Beispiele: Omas, Opas, Onkels und Tanten wurden genannt. In kürzester Zeit hörten wir zahlreiche Begebenheiten, erfuhren Familiengeschichten und Verwandtschaftsverhältnisse. Bei der ein oder anderen Erzählung mussten wir schmunzeln: Kindermund tut Wahrheit kund. Als jeder seinen Beitrag geleistet hatte und auch der Letzte erzählen durfte, kehrte langsam Ruhe ein und ich konnte die Frage stellen, ob sie denn auch wüssten, was man beachten sollte, wenn man mit einem Menschen, der nicht gut hört, sprechen möchte. Hier meldeten sich lautstark die Kinder aus Rafaels Kindergarten zu Wort und berichteten, was für sie seit vielen Jahren Alltag ist: Rafael rufen und erst sprechen, wenn man Blickkontakt hat. Wenn es laut ist, geht man näher an ihn heran und ruft noch einmal bzw. stellt sich so hin, dass man von ihm gesehen wird. Anstupsen mag er gar nicht, wussten die Kinder. Am besten versteht er, wenn man langsam und deutlich redet. Ein Kind machte es vor und wechselte dabei automatisch aus einem leichten Sächsisch in ein reines Hochdeutsch. Ich erklärte den Kindern, dass Rafael mit den Augen hört. Wie kann man denn mit den Augen hören, fragte jemand dazwischen. Wir demonstrierten es den Kindern, in dem ich Rafael etwas sagte, wobei ich nur die Lippen bewegte. Anschließend führte er aus, was ich ihm aufgetragen hatte. Das fanden sie spannend, sie wollten es gleich selbst einmal probieren und sehen, ob es auch ihnen gelingt, mich zu verstehen. Warum braucht Rafael die Lippen zum Hören, er hat doch Hörgeräte? Gemeinsam haben wir den Kindern gezeigt, dass es keine normalen Hörgeräte sind, sondern Implantate. Dass Rafael damit aber nicht hört, wie jeder andere habe ich den Kindern versucht näher zu bringen. Ich habe alle gebeten sich die Ohren mal zuzuhalten, während ich einen einfachen Satz gesagt habe. Sie haben etwas, aber nicht alles verstanden. Um Verständnis zu wecken, warum Rafael gerade in den Pausen nicht immer beim ersten Mal reagiert, wenn er gerufen wird bzw. auch öfters mal etwas falsch versteht, bat ich einen Teil der Klasse sich zu unterhalten. Gleichzeitig strengten sich die anderen an, mich zu verstehen. Recht schnell merkten sie, was ich ihnen zeigen wollte.
Zum Schluss haben wir Rafaels „Ohren“ noch einmal richtig auseinander genommen, das Implantat am Kopf gezeigt, dass das Hörgerät ein Sprachprozessor ist und dass Rafael, wenn der kaputt ist gar nichts hören kann. Typisch für Kinder hat sie natürlich die Magnetspule am meisten interessiert. Ihre Fantasie war angeregt und eine Vielzahl an Fragen, was man mit der Magnetsp...