Teil II.
Inhaltliche Betrachtung der Bildersteine
1. Einführung
Die bisher geläufigsten Vorstellungen über bildgestalterische Muster der Vorgeschichte haben sich insbesondere an den altsteinzeitlichen Höhlenmalereien Afrikas und des späteiszeitlichen Europa gebildet.Die letzteren sind insbesondere im franko-kantabrischen Raum zu finden. Für ihre frühesten Ausführungen wurde ein Alter bis zu 40 000 Jahren geschätzt. Sie werden dem Cro-Magnon Menschen zugerechnet der, anatomisch gesehen, als moderner Mensch einzustufen ist und damit als unser leiblicher Vorfahre gilt. Auch die frühesten anatomischen Überreste dieser aus Afrika zugewanderten Spezies, die bisher auf europäischem Boden gefunden wurden, sind nicht älter als 40 000 Jahre. Das Vorstellungsbild von vorgeschichtlicher Kunst wird ergänzt durch mobile Kleinkunst. In Gestalt von menschlichen und tierischen Figuren, wurde diese als Knochen- oder Elfenbeinschnitzerei ausgeführt. Solche Schöpfungen fanden sich ebenfalls ausschließlich in Höhlen, wo sie vor dem Verfall geschützt waren. Ihr Alter reicht mit einigen Exemplaren bis in die Zeit der Höhlenmalereien zurück. All diese Bildschöpfungen gelten aufgrund ihrer spontanen, visuellen Eingängigkeit als ein allgemeiner Maßstab, an dem sich das Auge des heutigen Archäologen ausrichtet, wenn er nach prähistorischen, bildlichen Spuren Ausschau hält. Doch liegt die Vermutung nahe, dass solche inselhaft erhaltenen Werke bildnerischer Kleinkunst, gleichsam der Spitze eines Eisberges, nur einen Bruchteil des einstigen Ausmaßes bildkünstlerischen Schaffens offenbaren. Der größte Teil jenes frühen kleinkünstlerischen Inventariums dürfte für immer verschollen bleiben, da es unter ungünstigen Lagerungsbedingungen längst verfallen ist. Es sei denn, es wurde Stein als Werkmaterial verwendet. Doch Stein fügte sich einer bildgestalterischen Formgebung ungleich schwieriger im Vergleich zu organischen Materialien. Und aus heutiger Sicht drängt sich, angesichts damals dürftigen Handwerkzeuges, die Vermutung auf, dass einstmalige Bildgestaltung in Stein, gegenüber der in organischen Materialien, nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat.
Anders verhielt es sich bei der Herstellung von steinernen Werkzeugen mit ihren schlichten funktionalen Formgestaltungen, die geeignet waren für die Jagd oder zum häuslichen Gebrauch. Sie blieben weitgehend erhalten. Darauf konnte sich eine Wissenschaft gründen, die Einblicke in die Entwicklung äußerer Lebensumstände der Vorgeschichte zu vermitteln vermochte. Mit dem damit verbundenen Primat, menschliche Entwicklung aus technologischer Sicht zu betrachten, leitete sich der chronologische Zuordnungsbegriff "Steinzeit" ab. So vermag der heutige Fachmann anhand von Werkzeugformen nicht nur deren jeweilige Altersepoche zu erkennen, sondern oft auch die örtliche Herkunft.
Vor allem im eiszeitlich geprägten Norden Europas gelangte der Feuerstein, wegen seines hier häufigen Vorkommens als Geschiebegestein, zur besonderen werkzeugtechnischen Bedeutung. Aber wie aus anderen Weltregionen bekannt ist, galt es für den Menschen sicherlich auch hier, neben der Bewältigung der äußeren Lebensbedürfnisse, eine ihm gemäße Orientierung zu finden, die eine innere Geborgenheit zu vermitteln vermochte, so etwa ein intaktes Gemeinschaftleben in seinen verschiedenen Facetten. Es spricht für die Kreativität der hiesigen Ureinwohner, dem Feuerstein auch in diesem Sinne Gestalt abgewonnen zu haben. Die Bildersteine des Hütter Wohldes geben davon Kenntnis. Hinter ihrer bereits erwähnten Vielzahl und der Art ihrer Gestaltung, liegt sicherlich ein Artikulierungsimpuls verborgen, der vehement nach Äußerung drängte. So war es für die davon ergriffenen, geübten Werkzeugmacher nur ein kleiner Schritt, die dem Feuerstein immanenten Strukturen und Verformungseigenschaften auch für ein bildliches Anliegen zu nutzen. Dessen bereits eingangs umrissener komplexer und deshalb auf den ersten Blick undurchsichtiger Äußerungscharakter, bietet besonderen Anreiz, möglicherweise auch Aufschluss über darin verankerte wesensmäßige Orientierungsgründe ihrer Darsteller zu gewinnen. Sich daran anzunähern, ist jedoch Einfühlung in den Schaffensprozess der einzelnen Darsteller zu üben, um Kenntnis über die darin zum Ausdruck gebrachten typischen Besonderheiten zu gewinnen. Dazu stellt die statistische Erheblichkeit des Fundmaterials eine tragfähige Basis dar.
Mit der gegebenen informellen Kompaktheit des Bildmaterials sind Anknüpfungspunkte an bekannte kunsttheoretische Sichtweisen gegeben, die sich bereits für die inhaltliche Klärung anderer frühzeitlicher Kunstäußerungen bewährt haben. Denn auch für die durch Grabungen freigelegten umfangreichen Kunstschätze der Hochkulturen bestand der Bedarf, sie über deren äußerer Anschauung hinaus auch einem inhaltlichen Verständnis näher zu bringen. Hier gilt als konzeptionell bewährt, die Werke unter drei verschiedenen Aspekten zu betrachten. Es sind dies: Ikonografie, Stil und Form221. Die weiteren Ausführungen knüpfen in modifizierter Weise an diese Anregungen an.
2. Kunsttheoretischer Exkurs
2.1. Ikonografie
Unter Ikonografie werden aus kunsthistorischer Sicht Bildmotive mit symbolträchtigem Charakter verstanden. So gilt in bereits erforschten mythischen und religionshistorischen Zusammenhängen z.B. der Falke als Symbol des ägyptischen Gottes Thot, dem Erfinder der Schreibkunst, die dreizackige Gabel als das des griechischen Meeresgottes Poseidon oder der Schlüssel als das des Petrus, einem Jünger Jesu. So liegt es nahe, auch in den hier zu betrachtenden Bildwerken nach einem Spektrum sich wiederholender, typischer Merkmale zu suchen, wenn auch in modifizierter Ausgestaltung. In der Tat ließe sich mit zunehmender Anhäufung des Bildmaterials auch hier ein differenzierbares Spektrum von Motivgruppen erkennen. Um das zu verdeutlichen, sei noch einmal auf die anliegenden Bildtafeln Bezug genommen.
Das allen Bildersteinen zu Grunde liegende Zentralmotiv ist das Abbild des Menschen, mit Betonung der Kopfregion. Eine weitere Motivgruppe mit Tierbildern spielt anzahlmäßig eine Nebenrolle. Und wie bereits erwähnt, ist die Motiventschlüsselung an die Kenntnis von Formkriterien geknüpft. So handelt es sich erstens um die Monoperspektivität, zweitens um die Mehrfigürlichkeit, durch welche es zu Motivüberlagerungen und damit zu Unschärfen in Einzeldetails kommen kann und als drittes die Mosaikform. Letztere besagt, dass ein Bildmotiv in der Regel aus einem Verbund von steinimmanenten Strukturen und Strukturen manueller Gestaltungsart zusammengesetzt worden ist. Das ist in verschiedensten Modifizierungsstufen praktiziert worden. So wurden skurrile natürliche steinerne Naturformen bereits durch geringe Randkorrekturen zu eindrucksvollen Kopffragmenten und Köpfen zurechtgestutzt und bei andern Kopfmotiven dominiert die manuelle Formgestaltung. Auf die angeführte Weise, mit mehr oder weniger manuellem Gestaltungsanteil, entstanden variantenreiche mosaikförmige Kopfvarianten und gar mit inhaltlicher Aussage, so des typisch offenen Blickes (Abb. A.9 - A.12) und typisch verinnerlichter Mimik (Abb. A.13 - A.16). In weniger häufigen Fällen wurde der Ausgestaltungsgrad erweitert zum menschlichen Porträt (Abb. A.17 - A.19). Ebenso sind auch gestalthafte Motive zu finden (Abb. A.23 - A.26). Direkte Hinweise auf kultische Geschehnisse sind in den Abbildungen A.29 und A.30 gegeben. In gleichen Ausgestaltungsweisen und –graden wie die menschlichen Bildmotive sind vereinzelt auch Tiere dargestellt worden (Abb. A.31 - A.34).
Alle hier gefundenen Bildersteine sind handlicher Größe, was in den Tafelbildern durch eine beigelegte Stecknadel verdeutlicht ist. Beispiele von Vielfigürlichkeit sind in den Abbildungen A.5 - A.7 zu finden. Das Bilderspektrum wird ergänzt durch Miniaturmotive (Abb. A.27 A.28), die in das massstabs- und raumkonfuse mehrfigürliche Bilderszenarium eingeflochten wurden und die in Einzelfällen in den Mikrobereich fallen.
Das obige, durch einige Beispiele umrissene Bilderspektrum, das in den einzelnen Bildersteinen nur in mehr oder weniger großem Umfang auftritt, erhält besondere Lebendigkeit, wenn es aus der Bewegung heraus betrachtet wird. In diesem, durch kaleidoskopartige Bewegung ausgelösten Bilderwechsel, vermag sich ein dramaturgischer Eindruck zu entfalten, der auf den Kern eines einstigen reichhaltigen Innenlebens hindeutet.
Auf der Suche nach prähistorischen Bildmotiven andernorts, die mit den oben angeführten Motiven zusammenzuklingen vermögen, ist durchaus Fündigkeit gegeben. So stammt eine etwa gleichalterige Motivkonstellation eines inhaltlich zusammengehörigen Gegensatzpaares, in der Gestalt eines verinnerlichten und eines aufschauenden Kopfes, aus Lepenski Vir.
Sie wurde hier aus einer mittelsteinzeitlichen Ausgrabungsschicht geborgen6. Dieser Ausgrabungsort ist aber auch exemplarisch im Blick auf seine Epochen übergreifende Lagerung verschiedener Kulturschichten.
In weiterer Ausschau nach verwandten bildlichen Motiven andernorts, tritt der weitaus jüngere keltische Kulturkreis ins Blickfeld. Dieser breitete sich etwa seit dem 6. Jahrhundert v. Chr., vor allem im mittleren und westlichen Teil Europas und später bis auf die britischen Insel aus. So war auch hier der menschliche Kopf das zentrale Bildmotiv und er erscheint mehr oder weniger ausdrucksstark ausgeführt in unüberschaubarer Mannigfaltigkeit203. Dazu schrieb E. Taylor:
Der keltische Glaube an die Macht des Kopfes war so groß, dass sie ihn buchstäblich auf jedem Gegenstand darstellten den sie in die Hand nahmen. Wahrscheinlich ist nie ein Symbol über so lange Zeit und so weit verbreitet in Gebrauch gewesen. In Stein gehauen, auf Metall gemalt, in Holz geschnitzt, blickt er auf Fliesen, Krügen, Torques, Schwertgriffen, Münzen Kesseln, Henkeln, Beschlägen unverwandt in die keltische Welt. Und wenn die Druiden den Gebrauch des Symbols auch im gewissen Umfang überwacht haben werden, haben sie die Darstellung nicht genormt oder standardisiert. Manchmal ist das Gesicht fast ausdruckslos, manchmal hat es überdimensionale Augen oder Pupillen, manchmal wird es von kunstvollem Kopfputz geschmückt. Man hat Janusköpfe gefunden, die vorwärts und rückwärts schauen und sogar einen Kopf mit drei Gesichtern, die in alle Richtungen schauen.189
Taylor fügte hinzu, dass sich dahinter ein Sein verbirgt, dessen Bewusstsein eintaucht in eine nicht mehr greifbare Sphäre irrationaler Dunkelheit189.
2.2. Stilistische Gesichtspunkte
Unter dem stilistischen Darstellungsaspekt im Hinblick auf die Gestaltung der Bildersteine, sollen subjektive Merkmale verstanden werden, welche die vielen Einzelakteure in das Gestaltungsgeschehen eingebracht haben. Dem zu folgen ist visuelle Einfühlung in die Gestaltungsbedingungen der einstigen Bildakteure vonnöten. Das betrifft nicht nur Einfühlung in deren Beleuchtungsposition, sondern macht auch den Gebrauch einer Lupe erforderlich. Nur so ist das variantenreiche Bilderspektrum auszuschöpfen. Bei seinen Einlesebemühungen kann dem heutigen Betrachter der Eindruck entstehen, als ob das beim unbefangenen kindlichen Spiel sich offenbarende kreative Feuerwerk hier in unverbrauchter Offenheit noch bis ins Erwachsenenalter erhalten blieb. Das jedenfalls legt der Einfallsreichtum nah, der in dem Bilderfundus zu Tage tritt. Diese Eigenheit betraf die künstlerische Intuition. Ein anderes Phänomen stellt das handwerkliche Umsetzungsvermögen dar. Das begann bereits mit dem Gespür, einen als Bildträger geeigneten Naturstein auszuwählen, wofür unter hiesigen Gegebenheiten gemäß, sich bevorzugt Feuersteinknollen anboten. Als am Meeresboden entstandenes Sedimentgestein stellten sie mit ihren variantenreichen, immanenten Farb- und Formgegebenheiten für den Akteur der Bildgestaltung ein eigenes Lesebuch dar. Von einer solchen Entstehungsgeschichte her weist er bevorzugte Spaltebenen auf. Um damit gestalterisch umzugehen, bedurfte es Einfühlung und Erfahrung. Farbmuster, von eingeschlossenen Fossilien und Mineralien herrührend, vermochten ebenfalls als gestalterische Elemente zu dienen. Dabei gingen künstlerische Intention und handwerkliche Beherrschung vorgegebener Materialeigenschaften Hand in Hand. Hierbei sind unterschiedliche Perfektionsstufen erreicht worden. Manches bleibt für den heutigen Betrachter undeutlich, indem es in einer Grauzone von Naturgebilden und daher im Schwankungsbereich zwischen Phantasie und Wirklichkeit verschwimmt. Auch ein heute gewachsener, ästhetischer Anspruch an ein Kunstwerk, findet angesichts befremdender äußerer Gestalt oftmals kaum Befriedigung. Denn bei vielen Bildartefakten dominiert eine naturbelassene Oberfläche, die manchmal selbst gestalterisch eingebunden wurde, so selbst Borke.
Neben Feuerstein sind vereinzelt auch weichere Gesteinsarten mit bildlichen Ansätzen zu finden. Einerseits waren solchen Gesteinen intimere Ausdrucksnuancen abzugewinnen, andererseits unterlagen diese jedoch einem stärkeren Verschleiß, so dass manche Bearbeitungsspuren schon unkenntlich geworden sind (Abb. A.12 A.13). Darin liegt der Vorteil der feuersteinernen Bilder, dass deren Strukturen selbst im Mikrobereich Jahrtausende unbeschadet zu überdauern vermochten, was ja auch die zahlreichen Werkzeugfunde aus demselben Material bestätigen. Und die für die äußere Existenz lebenswichtige Werkzeugfertigung, ein damals alltägliches Geschäft, bot sicherlich auch gleichzeitig Gelegenheit und Anregung, geeignetes Werkmaterial zu Bildgestaltung zu finden.
Es sind sehr viele Ansätze versucht worden, um einem offensichtlich spannungsgeladenen Äußerungsimpuls mit bildnerischen Mitteln Herr zu werden, was sich in unterschiedlichen Perfektionsstufen vollzog. Und in Betrachtung dessen wird deutlich, dass es sich um kein spezielles Künstlertum, sondern um ein Brauchtum handelte, das auch vom einfachen Gruppenglied praktiziert wurde. Und wenn deshalb die gestalterische Umsetzung in dem einen oder anderen Bilderstein nicht besonders glücklich gelang, so stellen auch solche Werke einen wichtigen Erkenntnisfundus dar.
Die Werke von Spitzenkönnern sind in der Minderheit. So standen diese beim fortlaufenden Entdeckungsprozess des Motivspektrums meistens nicht am Anfang. Sie waren vielmehr letzte Bestätigung für bereits an mehr unausgesprochenen Motiven gewonnene Vorstellungen. Aber auch für souverän gestaltete Bildkonstellationen ist nach heute eingeschliffenen Orientierungsmaßstäben nicht unbedingt handgreifliche ikonographische Unbestechlichkeit kennzeichnend. Gerade auch an diesen Werken lassen sich die verschlüsselten Formattribute des hier gegebenen bildgestalterischen Gefüges festmachen. So besteht als Ergebnis heutigen Entschlüsselungsbemühens Anlass, nicht nur gegenwärtige Vorstellungen über einstige handwerkliche Möglichkeiten neu zu befragen, sondern auch über Auffälligkeiten mit Hinweis auf damalige physiologische und psychologische Sonderheiten neu nachzudenken.
2.3. Formaspekte
Die Formattribute, wie sie sich aus der analytischen Betrachtung der Bildersteine empirisch ergaben, sind wie bereits eingangs ausgeführt, Vielfigürlichkeit, Mosaikform und Monoperspektivität. Letzteres Formattribut besagt, dass die einzelnen Bildmotive sich in der Regel nur deutlich unter der Verwendung einer Lupe erschließen lassen, was heißt, unter Ausschaltung des beidäugig-räumlichen Sehens. Ähnliche befremdliche Phänomene sind in Betrachtungen früher Kunstschöpfungen nicht unbekannt, so bei Kunstwerken der Hochkulturen (etwa 3000 bis 500 v. Chr.). In Verbindung mit ägyptischen Kunstwerken dieser Epoche ist der Begriff "aperspektivische Kunst" geprägt worden, da sie keine Raumillusion erzeugt. Der Form nach nehmen die Schöpfungen der bildenden Kunst erst seit der Antike neue Züge an. Menschliche Darstellungen erscheinen nun erst anatomisch vollendet und stehen in vollerem Einklang mit den Empfindungen des heutigen Betrachters138.
So vertrat J.J. Winckelmann (1717–1768) unter dem Eindruck von Kunstwerken der griechischen Antike die Auffassung, dass mit diesen die ultimative Ausdrucksform kreiert wurde, die niemals mehr zu übertreffen sei...