DER HIMMEL KANN
WARTEN
Ein Lebensmotto und ein wunderbarer Chor
Der Maler Manfred Jürgens hat eine ganz eigene Art zu malen: In unendlicher Geduld trägt er Schicht für Schicht der selbst gemischten Farben auf die Leinwand auf und lässt so über Monate großformatige Bilder entstehen. Sie inszenieren ihr Motiv faszinierend detailgetreu (freilich mit sehr überraschenden Details, wenn man genau hinsieht). „Realistische Malerei“ nennt er das. Die Technik haben einst Meister wie Dürer und Holbein perfektioniert. Manfred Jürgens hat aber auch eine sehr eigene Art, dem Publikum Einblicke in sein Atelier zu erlauben: Er hält die verschiedenen Stadien seiner Gemälde fotografisch fest und stellt sie auf seine Website www.m-w-juergens.de. Hier lässt sich ihre Entstehung im Zeitraffer nachvollziehen – ein Anblick, der staunen lässt.
Im Herbst 2010 ist es das Bildnis von Ruth Rupp, das im öffentlichen Schaufenster auf seine Vollendung wartet, als im Atelier das Telefon klingelt. An den Apparat geht, weil Jürgens während des Malens nicht telefoniert, wie immer seine Frau Bärbel Koppe. „Guten Tag“, sagt die Anruferin, „mein Name ist Karin Falk. Ihr Mann hat Ruth Rupp gemalt. Ist es die Ruth Rupp, die ich meine?“
Ein Moment Stille: „Wie ist Ihr Name?“
„Karin Falk.“
„Die Karin? Dann hat Ruth uns viel von Ihnen erzählt.“
Nach 49 Jahren hat das kleine Mädchen von einst die Frau wiedergefunden, die ihm die Stärke für ein ganzes Leben gegeben hat. Karin Falk erzählt: „Ich habe Ruth Rupp in all den Jahren nie vergessen. Aber eben auch nie nachgehakt. Dann erkrankte ich schwer, und das war für mich der Anlass, mein Leben neu anzuschauen. So begann meine Suche. Als ich ihren Namen in Google eingab, stieß ich auf die Internetseite von Manfred Jürgens und das Vorstadium des Gemäldes von Ruth. Ich sah das Bild und dachte: ‚Das kann sie sein. Dann lebt sie offenbar noch.‘ Aber ich war unsicher. Also suchte ich alte Fotos heraus, scannte ein Porträt von ihr ein, hielt es neben das Gemälde und war mir schließlich sicher: ‚Ja, das ist sie!‘ An der Nase erkannte ich sie. Und rief nach einer Weile bei Manfred Jürgens an. Ich wurde sehr aufgeregt, als seine Frau sagte‚ Ruth habe immer von mir erzählt! Sie sitzt da Modell und erzählt von mir! ‚Würden Sie Ruth fragen, ob sie Interesse hat, mich wiederzusehen?‘ bat ich Bärbel Koppe. Und das hatte sie. Sie rief mich an und meldete sich mit ‚Ruth‘. Da war ich wahnsinnig aufgeregt. Ich hatte heftiges Herzklopfen. Ihre Stimme war tiefer, als ich erinnerte. Ich mochte das erst gar nicht glauben: Ist sie’s? Eigentlich wusste ich es, ein Zweifel war noch einen Augenblick da. Aber dann war es die Erfüllung eines Traums. Und ich war sofort wieder zurück in meiner Kindheit. Das war der Bogen, den ich gesucht hatte.“
Beide verabreden sich und treffen sich bei Karin Falk. Bei der ersten Begegnung nach so langer Zeit ist die Vertrautheit sofort wieder da. Sie sitzen am großen Esstisch und schauen die vielen Fotos an, die es aus jener Zeit gibt. „Ruth konnte zu jedem Foto eine Geschichte erzählen, und ich habe staunend danebengesessen und gebannt zugehört. Sie hat mir meine Kindheit erzählt.“ Nachdenklich berichtet Karin Falk von diesem Moment des inneren Nachhausekommens. „Das war für mich ein Geschenk. Ich bekam Antworten. Ich habe als Kind, wie alle Scheidungskinder, davon geträumt, dass meine Eltern wieder zusammenkommen. Das hat sich nicht erfüllt, aber Ruth ist das Verbindungsglied zu dieser Lücke. Das war eine große Freude, und ich fühlte mich wie ein junges, aufgeregtes Mädchen. So war es dann auch, als wir über diesen Bergen von Fotos saßen. Das war ein Moment der Erfüllung.“
Karin Falk und Ruth Rupp
mit dem Gemälde von Manfred
Jürgens, das sie wieder
zueinanderführte
Was für Gesichter! Eine Szene aus
dem Kurzfilm „Ingeborgs 83. Geburts
tag – vier Omas auf dem Kiez“
Manfred Jürgens, dessen Gemälde all dies ermöglicht hat, kommentiert das in der ihm eigenen lakonischen Art: „Somit ist Malerei wohl doch nicht ganz so sinnlos.“ Und das Internet offenbar auch nicht.
Aber was ist das für eine Frau, die Karin Falk nach so langer Zeit wiedertrifft? „Ruth ist groß geworden mit sich selbst. Das kann man auf der Bühne erleben.“ Nach dem großen Erfolg der „Dreigroschenoper“ ist sie in der Szene der Künstler und Schauspieler angekommen, ist Fördermitglied des St. Pauli Theaters und wird zu Empfängen und besonderen Anlässen eingeladen. Junge Künstler und Regisseure werden auf sie aufmerksam, sie bekommt Angebote, in Filmen mitzuspielen. In „Der Wanderer“ von Jakob Klaffs, einem Nachwuchsregisseur, singt sie das wunderschöne Lied „An den Mond“ von Franz Schubert, ein bewegender Auftritt der über 80-Jährigen im Kreise von jungen, an der Musikhochschule ausgebildeten Sopranistinnen. „Das war ein schönes Gefühl, inmitten dieser tollen Sängerinnen so respektiert zu werden.“
Einige Zeit später dreht sie mit den zwei jungen Filmemacherinnen Monika und Martina Pluhar „Ingeborgs 83. Geburtstag – vier Omas auf dem Kiez “. Es geht um vier alte Damen, die früher in eine bestimmte Kneipe auf der Reeperbahn gegangen sind, und von denen eine, Ingeborg, nun 83 wird. Was soll man ihr schenken? Sie wünscht sich, dass sie noch einmal von einem jungen Mann geküsst wird, und so ziehen die vier auf den Kiez. Die Kneipe gibt es nicht mehr, denn dort ist mittlerweile ein Heavy-Metal-Schuppen. Aber dann geraten sie in einen Junggesellenabschied, und es wird sehr turbulent. Auch dieses Projekt geht von der Hochschule für bildende Künste aus. „Und wenn man da erst einmal drin ist“, erzählt Ruth Rupp vergnügt, „kommt ein Anruf nach dem nächsten. Man lernt auf diese Weise sehr viele Menschen kennen.“ Am liebsten ist ihr der Film „Ronny und seine Frau“, eine moderne Variante des Märchens „Vom Fischer und seiner Frau“. Sie spricht den Text in gereimten Versen und bekommt dafür viel Anerkennung. „Den Film liebe ich sehr.“
Im Winter 2013 bekommt sie mal wieder einen Anruf: Ob sie Lust habe, bei einem Chorprojekt des St. Pauli Theaters mitzumachen? Was für eine Frage! Es ist eine ganz besondere Idee, die sich Thomas Collien, Direktor des St. Pauli Theaters, und der Musiker, Komödiant und Chorleiter Jan-Christoph Scheibe, ein Hansdampf der Hamburger Kulturszene, ausgedacht haben: ein Chor, in dem nur mitsingen kann, wer schon mindestens 70 Jahre alt ist. Die Vorbilder sind die englische Band The Zimmers, benannt nach der Marke einer Gehhilfe, und der Dokumentarfilm „Young@heart“ über einen Ü-70-Chor aus den USA. Thomas Collien hat The Zimmers in London erlebt und ist beeindruckt. Wie die Alten da moderne Rock-, Hip-Hopund Soul-Songs auf ganz eigene Weise interpretieren, ist großartig: mutig, amüsant, kraftvoll und berührend zugleich. So starten er und Jan-Christoph Scheibe das Projekt „Heaven Can Wait“ und veröffentlichen im „Hamburger Abendblatt“ einen Aufruf. Gesucht: Sängerinnen und Sänger mit „Bock auf Rock“. Voraussetzungen: das richtige Mindestalter, eine gute Stimme und Englischkenntnisse. Die Resonanz ist riesig, das Casting im St. Pauli Theater an der Reeperbahn dauert mehrere Tage. Und Ruth, mit ihren 86 Jahren locker über der Altersgrenze, ist dazu eingeladen.
Sie erinnert sich: „Das Vorsingen war witzig. Wir waren zu acht, sieben Frauen und ein Mann. Thomas Collien saß irgendwo in der Ecke, Jan-Christoph Scheibe am Flügel. Ich hatte mir „My Bonnie Is Over The Ocean“ ausgesucht – und ausgerechnet damit begann dann auch der Mann, der als Erstes vorsang. Grauenhaft! Eine Katastrophe! Ich bewunderte seinen Mut, dass er sich überhaupt in ein Vorsingen gewagt hatte. Aber Collien verzog sofort das Gesicht, und das war’s dann für ihn. Zwei andere aus meiner Gruppe und ich wurden engagiert.“
Insgesamt sind es 32 Sängerinnen und Sänger, die ausgewählt werden, und zu ihnen gehört auch Astrid Rossa. Sie erinnert sich mit Schrecken an ihr eigenes Vorsingen: „Dass ich mit dieser kümmerlichen Version von Elvis Presleys ‚Tutti Frutti‘ genommen wurde, kann ich immer noch nicht glauben.“ Aber sie ist dabei, als sich die Erwählten am 15. Mai 2013 zum ersten Mal auf der Bühne im St. Pauli Theater versammeln. „Ruth fiel mir sofort auf, nicht allein wegen ihres Aussehens. Ihre ruhige, souveräne Art war bemerkenswert, und als die Intendanten ihr freundlich zunickten, war klar, dass sie im Theater bekannt ist. Das hat mich neugierig gemacht.“ In seiner Begrüßung erwähnt Thomas Collien, dass Ruth in einer Produktion des Theaters mitgewirkt hat.
25 Songs sind bis zur großen Gala Ende August einzuüben. Jan-Christoph Scheibe gibt den Chormitgliedern CDs mit mehr als 50 Stücken mit, aus denen sie ihre Lieblingstitel auswählen können. Hits von Extrabreit, Marius Müller-Westernhagen, Nirvana, Coldplay, Juli, den Fantastischen Vier und Wir sind Helden schaffen es ins Programm. Dann beginnen die Proben. Es ist ein hartes Stück Arbeit und ein weiter Weg bis zur Premiere. „Ich hatte schon Manschetten, wie das wohl gelingen könnte“, erinnert sich Ruth Rupp, „aber wir haben es geschafft. Es wurde drei- bis viermal pro Woche geprobt, meistens drei Stunden.“
Und der Auftritt gelingt, ja, das Programm wird ein spektakulärer Erfolg: „Heaven Can Wait rockt und begeistert“, schreibt die Deutsche Presseagentur, die „Bild-Zeitung“ nennt sie den „coolsten Chor Hamburgs“. Eine wunderbare Mischung aus tollen Songs, mitreißender Show und berührenden Momenten bringen die 32 alten Menschen unter der Regie von Jan-Christoph Scheibe auf die Bühne. „Smells Like Teen Spirit“ von mehr als 2000 Jahren Lebenserfahrung gesungen, „Sexy“ als Solo mit Gehstock – der Humor der Aufführung ist einfach umwerfend. Wenn der Chor „Hurra, das Augustinum brennt“ schmettert und damit die vornehmste Hamburger Seniorenresidenz karikiert, jubelt das Publikum. So beginnt im August 2013 die nächste Erfolgsgeschichte, in der Ruth eine wichtige Rolle spielt und singt.
Gleich zwei Solo-Auftritte sind ihr zugedacht, einer davon mit dem Song „Vergessen zu vergessen“ von Luxuslärm. Sie singt:
Denn ich hab dich nie gehalt'n,
ich hab dich nie vermisst,
ich weiß nicht, wer du warst, nicht wer du bist.
Ich kenn nicht mal deinen Namen,
ich hab dich nie geliebt,
ich hab nur grad vergessen zu vergessen
dass es dich gibt.
Dass es dich gibt.
Ein Moment, bei dem sich viele im Publikum eine Träne aus dem Auge wischen. Beim ersten Mal freilich auch ein Auftritt von beeindruckender Souveränität seitens der Sängerin. Ganz kurzfristig hat sie den Song übernommen, und Jan-Christoph Scheibe begleitet sie am Klavier. Sie beginnt – und verstummt. Ein Aussetzer. „Uns stockte der Atem“, erzählt die Freundin Astrid Rossa. „Aber dann sagte Ruth ganz ruhig ins Mikro: ‚Entschuldigung, ich singe dieses Lied heute zum ersten Mal. Ich muss mal eben meinen Zettel mit dem Text herausholen.‘ Dann setzte Jan-Christoph wieder an, und Ruth sang dieses wunderschöne Lied klar und entspannt. Die Begeisterung des Publikums danach war überwältigend. Die Leute haben getobt.“
„Natürlich vergisst man mal eine Zeile“, sagt Ruth Rupp. „Wenn selbst Ulli Tukur Hänger hat, wie sollten wir dann nicht! Das ist auch eines der Erfolgsgeheimnisse von Heaven Can Wait. Wir sind ja kein perfekter Chor aus der Sicht des Chorgesangs. Wir sind eine Gemeinschaft älterer Menschen, die Freude vermitteln. Dafür ist das Publikum dankbar und nimmt das auf, ja, nimmt es in sein Herz. Jeder von uns, der da auf der Bühne ...