Die Belohnung
Irgendwann kehrte die Ruhe auch in Colonia Esperanza zurück. Die letzte Zeit – ob Monate oder Jahre, kann ich nicht sagen – war eine anstrengende Zeit in meiner Entwicklung. Das Fortkommen ist eine Sprungfeder, die uns erst einmal hinunter in die Lernprozesse drückt. Sie presst uns in die Auseinandersetzung mit uns selbst, mit unserer Vergangenheit, mit unserem Unwissen und Verdrängung, um uns dann höher zu katapultieren. Für diese Zeit bin ich sehr dankbar, denn seit ich hier bin, habe ich mich mehr verändert als in meinem ganzen Leben auf der Erde. Ich genieße die Ruhe. Das Leben läuft ohne Aufregung mühelos weiter. Ich arbeite weiter in der Schreinerwerkstatt und überall dort, wo ich gebraucht werde.
Neulich, bei einer Gesprächsrunde im Park mit meinen engsten Freunden, als wir wieder die Sterne beobachteten, machten sie mich auf die Farbe meines Gewandes aufmerksam:
„Schau doch wie es leuchtet!“
Tatsächlich waren die Farben heller, zarter, leuchtender. Ich freute mich sehr über diese Entdeckung. Ich war zufrieden mit mir und mit allem, was mein Leben ausmacht. Nur einen Wunsch hatte ich noch: Ich wollte Schreiben bzw. Übertragen lernen.
Seit ich zum erstenmal die Kunstwerkstatt besucht und gesehen habe, wie schön und wichtig die dort geleistete Arbeit ist, ließ mich dieser Wunsch nicht mehr los. In diesen Gedanken versunken entfernte ich mich innerlich von dem Gespräch, bis Mauricio – mein bester Freund – mich ansprach:
„Hallo! Wo bist du gerade? Nimmst du mich auf deine Reise mit?“, fragte er lächelnd und rückte näher.
Ich erklärte ihm, dass meine Reise in die Kunstwerkstatt führte und erzählte ihm von meinem Wunsch zu schreiben.
„Das Schreiben als Therapie brauchst du doch nicht“, sagte er verwundert. „Oder habe ich etwas übersehen?“
„Nein“, antwortete ich zögerlich, „als Therapie brauche ich das Schreiben nicht. Ich möchte meiner irdischen Familie meine Erfahrungen aus dieser Ebene des Lebens mitteilen, um ihnen die Angst und die Irrtümer durch irreführende Belehrungen über den Tod zu nehmen. Ich möchte ihnen sagen, wie wunderschön es ist an Abenden, wie heute, mit Freunden im Park zu sitzen, über Gott und Welt zu sprechen und an unsere universellen Verwandte liebevolle Gedanken zu senden. Ich möchte ihnen sagen, dass Gott – die alles erschaffende Kraft – uns niemals verlässt; und, vor allem, dass es keine Bestrafung gibt. Das kann ich am besten, wenn ich über meine Erfahrung berichte.“
Mauricio erklärte mir, dass Übertragungen solcher Art nicht jedem Bewohner der geistigen Welt gestattet werden. Um den Kummer der Angehörigen nehmen zu wollen, möchten die meisten sich mitteilen. Viele dürfen kurze Botschaften übermitteln oder durch den Betreuer übermitteln lassen. Doch die meisten Menschen auf der Erde sind nicht fähig, diese zu empfangen – hauptsächlich weil sie an sich selbst zweifeln. Es würde ihnen und dem Verstorbenen besser gehen, wenn sie ihn zu einer Reise verabschieden würden mit der Gewissheit des Wiedersehens.
„Genau darüber möchte ich schreiben, Mauricio! Über unsere Gespräche, über die Erfahrungen, die wir miteinander gemacht haben. Verstehst du?“
Mauricio legte sein Arm um meine Schulter und zeigte eine verständnisvolle Mimik.
Ich holte tief Luft und widmete meine Gedanken an den blauen Stern, der mit den anderen um die Wette funkelte.
Ein paar Tage später überraschte mich die Nachricht, ich sollte mich in der Kunstwerkstatt vorstellen.
„Dieser Mauricio!“, dachte ich voller Freude und Dankbarkeit.
Neugierig gespannt traf ich zur vereinbarten Stunde ein und lernte Manu kennen.
Manu ist eine sehr interessante Gestalt. In ihrem leuchtend weißen Gewand bewegt sie sich so leicht wie eine Elfe; und doch, wenn man sie etwas länger kennt, hat sie eine sehr männliche Art. Sie ist tatsächlich eine Mischung von beiden. Für mich steht ihre Weiblichkeit im Vordergrund, daher ist sie eine sie; andere nehmen eher ihre männlichen Eigenschaften wahr, so dass aus der sie ein er wird. Gewöhnungsbedürftig. Doch Manu meistert diese unterschiedliche Wahrnehmung mit großer Klasse.
„Also, du möchtest die Kunst der Übertragung erlernen, stimmt‘s?“, fragte sie mich auf eine Art, die mich etwas einschüchterte.
„Ja!“, antwortete ich leise und fragte mich, ob es eine gute Idee gewesen ist, vorbei gekommen zu sein.
„Das klingt aber nicht überzeugend!“, sagte sie energisch.
In dem Moment war ich mir sicher, dass es ein Fehler gewesen ist überhaupt an Übertragung zu denken. Ich war noch nicht bereit, diese Herausforderung anzunehmen; es beängstigte mich.
„Wenn du dich bei der ersten Schwierigkeit entmutigen lässt, dann wird es nichts mit Schreiben, noch weniger mit dem Übertragen“, sagte sie. Sanft wie eine große Schwester fügte hinzu: „Und schon gar nichts mit uns, denn ich darf es dir beibringen.“
Jetzt wollte ich fliehen – fliehen zu meinen verständnisvollen Freunden, wo ich mich in Sicherheit und Vertrautheit wiegen konnte. Aber ich war wie angeklebt, gefesselt an diesem Stuhl, vor dieser unheimlichen Frau. Sie fragte mich und ich erzählte ihr mein Vorhaben. Im Verlauf des Gesprächs veränderte sie sich, oder ich mich, oder meine Wahrnehmung. Sie war doch nicht so furchterregend wie ich dachte – im Gegenteil, sanft aber direkt.
Wieder wurde ich mit meinen Ängsten konfrontiert. Auch wenn ich dachte, ich hätte dieses Hindernis schon längst überwunden, musste ich feststellen, dass immer noch eine Prise ängstlicher Unsicherheit in mir lebte. Als ich dies erkannte, nahm meine Sicherheit zu, und das Gespräch wurde erbauend und erfolgreich.
Manu erklärte und zeigte mir die Techniken der Übertragung von Bildern und Sprache. Wir besuchten die Übertragungsräume und beobachteten die Künstler bei ihrer Arbeit. Die Möglichkeiten sind breitgefächert. Die Übertragung von der geistigen in die materielle Welt ist immer eine bewusste, das heißt, es gibt einen Grund, warum der geistige Bruder oder die Schwester Bilder, Sprache oder Musik an einen Empfänger auf der Erde übermittelt, meist aus Therapeutischen- oder Aufklärungszwecken. Im Gegensatz dazu, findet der Empfang bewusst oder unbewusst statt. Unbewusst hauptsächlich durch Menschen, die sich zum Malen, Schreiben oder zur Musik hingezogen fühlen, zumal ihre Intuition der Auslöser dafür ist; bewusst, durch Menschen, die die geistige Ebene des Lebens und den stattfindenden Austausch zwischen beide Welten anerkennen und sich bewusst als Mittler, als Bindeglied zur Verfügung stellen.
An manchen Tagen wurde das Übertragungsgerät eingeschaltet, und Manu zeigte mir die unterschiedlichen Formen des Empfangs. Auf dieser Ebene malte eine junge Frau ein Bild; eine Landschaft aus ihrer Erinnerung an einem schönen Sommertag in einem ihrer Leben auf der Erde. Auf dem Übertragungsgerät sahen wir, wie ein Maler vor seiner Leinwand stand und auf Inspiration wartete. Er überlegte, blätterte ein paar Zeitschriften, legte sie wieder auf dem Stapel. Er ging zurück zu seiner Leinwand, schloss die Augen, strich mit beiden Händen über das Gesicht. Plötzlich suchte er die Farben aus, stellte sie bereit und begann zu malen. Strich für Strich malte er das Bild, was neben uns auch gemalt wurde.
„Hier sehen wir ein Beispiel für einen unbewussten Empfang. Der Künstler wird von unserer Schwester inspiriert ihre Erinnerung zu malen, denn er selbst kennt diese Landschaft nicht“, erklärte Manu. „Im nächsten Beispiel zeige ich dir einen bewussten Empfang. Dafür müssen wir in die Schreibwerkstatt wechseln.“
Dort saßen einige Brüder und Schwestern und hielten Zettel in ihren Händen. Einige konzentrierten sich auf ihre Schwingungen; andere lasen ihre Notizen; noch andere übertrugen ihre Gedanken.
Manu wandte sich zu einem Bruder, der eine leuchtende Robe trug, und fragte ihn, ob wir bei seiner Übertragung dabei sein könnten. Mit seiner Zustimmung schaltete sie das Gerät ein, so dass wir Empfänger und Sender beobachten konnten.
Auf dem Monitor sah ich eine schlafende Frau.
„Es ist Nacht auf der Erde“, sagte Manu, „die beste Zeit für unsere dortige Schwester die Botschaft unseres hiesigen Bruders zu empfangen, denn sie wird vom Verstand nicht beeinflusst. Schau was jetzt passiert.“
Der hiesige Bruder rief sie leise: „Schwester, ich bin es; ich möchte dir etwas sagen. Kannst du es aufschreiben?“
Die schlafende Frau auf dem Monitor drehte sich hin und her im Bett. Im Halbschlaf und ohne alle Sinne geweckt zu haben, stand sie auf, nahm Papier und Stift, setzte sich an den Tisch und schrieb. Als die Übertragung abgeschlossen war, ging sie zu Bett und schlief weiter.
„Das ist aber auch ein Beispiel von einer unbewussten Übertragung, oder?“, fragte ich.
„Nein, es ist eine bewusste“, antwortete Manu und fügte hinzu:
„Beide Partner sind einen Kompromiss eingegangen, dass die Übertragung derart stattfindet. Frei von externen Einflüssen, kann die Frau die Worte des Senders deutlicher empfangen und aufschreiben.“
„Aber warum kann sie die Botschaft nicht am Morgen aufschreiben, wenn sie natürlich wach wird?“
„Weil sie befürchtet, Teile zu vergessen, oder unter dem Einfluss des Verstandes, falsch darzustellen. Hier haben wir wieder einen Fall von Selbstzweifel. Im wachen Zustand ist die Schwester noch nicht soweit, dass sie zwischen ihren und fremden Gedanken unterscheiden kann. Je enger die Bindung und das Vertrauen zu ihrem geistigen Bruder und Lehrer, desto besser lernt sie zu unterscheiden. Wenn es soweit ist, wird sie selbst entscheiden, wann und wie die Übertragung stattfinden kann.“
Die Erfahrungen in der Kunstwerkstatt waren Ziele, die ich mir gestellt hatte und erreichen wollte. Doch zunächst musste ich lernen, meine Gedanken ordentlich aufzuschreiben, nicht sprunghaft sondern fließend, damit man mich auf der Erde verstehen kann.
Im geistigen Raum ist die Geschwindigkeit der Kommunikation um ein Vielfaches höher als auf einer materiellen Welt. Sie findet statt indem Sprache und Bilder kombiniert werden. Gegenstände werden hauptsächlich in Bildern gesprochen. Zum Beispiel, wenn ich sagen will: „stell das Glas auf dem Tisch“, erscheint im Kopf meines Gesprächspartners ein Bild, welches dies darstellt. So werden kurze Sätze schneller und unmissverständlich ausgesprochen. Nun musste ich lernen zurück zu schalten und die gesprochene Sprache einzusetzen. Ich übte überall und zu jeder möglichen Zeit.
Die zweite große Hürde war, alle Mitglieder meiner irdischen Familie auf ihre Empfangsbereitschaft zu prüfen. Ich war bereit, alles zu lernen und aus dieser Sicht heraus war ich mir so sicher, dass mein Wunsch in Erfüllung gehen würde, dass ich die Bereitschaft anderer nicht bedacht hatte. Auf der Suche nach dem passenden Empfänger musste ich feststellen, dass keiner geeignet war. Sie empfingen durchaus meine Botschaft, doch hatten nicht das Vertrauen sich selbst zu glauben, dass sie von mir war. Am leichtesten fand der Empfang statt, wenn der Körper ruhte und die Seele frei von Einflüssen des Verstandes war. Wir konnten uns sogar unterhalten, und ich freute mich sehr darüber. Doch, wenn die Nacht vorüber ging, wurde alles als ein schöner Traum abgewertet und nicht mehr darüber nachgedacht. Ich war richtig frustriert mit dem Ergebnis der Experimente, doch übte fleißig weiter.
„Wenn kein Familienmitglied mich wahrnimmt, wird bestimmt ein Mitglied der Kirchengemeinde es tun“, dachte ich voller Hoffnung. Doch die Zeit verging und keiner wurde gefunden, der meine Gedanken nicht als seine verstand.
Eines Tages kam Manu mit strahlenden Augen und breitem Grinsen im Gesicht.
„Ich habe jemand gefunden!“, jubelte sie. „Es ist deine Nichte in Deutschland!“, fügte sie hinzu und tänzelte um mich herum.
In diesem Moment konnte ich nichts mit ihrer Aussage anfangen, und schon gar nicht ihre überschwängliche Freude verstehen.
Sie erklärte, sie habe ihre Spürsinne verstärkt eingesetzt und erfahren, dass meine Nichte A. sich zu einer Frau mit gutem Verständnis für die geistige Welt entwickelt hat. Zu ihrer Entwicklung gehört auch die bewusste Kommunikation mit der anderen Ebene des Lebens, auf die sie derweil intensiv vorbereitet wird.
„Mach nicht so ein Gesicht! Ich dachte, du würdest dich mindestens genauso freuen wie ich“, sagte Manu etwas irritiert. „Sie hat noch einiges zu lernen, aber ich vertraue meinen höheren Brüdern und Schwestern, die sich ihrer Ausbildung widmen. Wir müssen nur etwas Geduld haben. Du übst hier, und sie dort; und bald werden wir euch verbinden.“
Manu’s Freude konnte ich nicht verstehen, zumal mein Vorhaben sich schwieriger gestaltete als je gedacht. Es kam alles anders als geplant, und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich es überhaupt noch wollte. In meiner Vorstellung war alles sehr einfach. Ich dachte, ich schreibe meine Gedanken auf, beschreibe die Welt in der ich lebe und flüstere sie ins Ohr eines meiner Lieben. So würde ich ihnen einen Einblick in die geistige Welt schenken. Im Grunde wollte ich ihnen nur sagen, dass ich ein reges Leben nach meinem Tod führe und nicht einfach auf eine Wolke schwebe und mich langweile oder im Feuer der Hölle schmore.
Nun befand ich mich mittendrin, mit einer hochmotivierten Manu an meiner Seite, die mich ermutigte nicht aufzugeben.
„Es ist alles zu kompliziert“, sagte ich enttäuscht.
„Von wegen kompliziert!“, erwiderte sie. „Es ist lediglich eine organisatorische Herausforderung. Wozu sind wir hier, wenn nicht um Herausforderungen anzunehmen?“ fragte sie mich ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Ich schaute sie nur an und schüttelte abwehrend den Kopf, doch Manu blieb hartnäckig.
An diesem Tag verließ ich die Kunstwerkstatt voller Zweifel, und doch staunte ich über die Windungen des Lebens auf allen Ebenen – der geistigen und der materiellen.
„Wenn ich diesen Wunsch nicht hätte, würde ich A. nicht wieder begegnen“, dachte ich. „Auch nicht, wenn sich in meiner Familie jemand fände, der meine Botschaft empfangen könnte.“
Schon wieder überraschte mich das Lebenspuzzle mit einem weiteren passenden Teilchen. Langsam konnte ich erahnen, was der Plan Gottes bedeutet. Wir Menschen sind wie kleine Küken, die das individuelle lebensgebende Ei gesprengt haben, als wir geistig geboren wurden. Unsere Lebensaufgabe ist jedes auch so kleine Teilchen der Schale zu finden und zusammenzuführen. Jedes einzelne Stückchen gibt uns ein Teil unserer göttlichen Einzigartigkeit zurück; und am Ende erreichen wir die Vollkommenheit. So gestaltet sich unser Weg ins vollkommene Licht, in dem wir die Teilchen unserer Einzigartigkeit finden und zusammensetzen.
Mir wurde deutlich, wie die geistige und die materielle Welt voneinander abhängig ist. Ohne...