Handlungsebene Schüler
Beziehungsdidaktik
Ich schmeiß dich nicht raus!
Wie eine Inklusion von Schülern mit sozialen und emotionalen Förderbedarf möglich ist.
Als Inklusionsdidaktik eignet sich sehr gut die Beziehungsdidaktik. Aber wie schaffe ich eine Beziehung als Grundlage der Didaktik bei beziehungsschwierigen Schülern?
Einen Schüler zu unterrichten, ihm beim Lernen zu helfen und dabei gleichzeitig etwas über ihn zu lernen, ist ein Prozess, der eine Bereitschaft zur Beziehung zwischen Lehrer und Schüler voraussetzt und gleichzeitig eine Intensivierung der Beziehung bewirkt.
Schulisches Lernen ist immer Beziehungslernen und eine positiv gestaltete Beziehung ist förderlicher als eine Zwangsbeziehung. Aus diesem Grund muss eine nur konfrontative und autoritäre Didaktik weichen, da wir unter Zwang nicht nachhaltig lernen und Stress Lernprozesse behindert.
Viel zu lange galt in der Pädagogik: „Ein grober Klotz bedarf einen groben Keil.“ Und so ist wohl auch die Liste vom Lehrer Johann Jakob Häberle aus Oberschwaben zu verstehen, der im Jahr 1820 aufschrieb, wie oft und mit welcher Methode er im Laufe seines 51-jährigen Berufslebens geprügelt hat. Alle drei Jahre brauchte der Pädagoge eine neue Bibel, weil sie bei den Schlägen regelmäßig zerfetzte.
Häberles Liste:
911 527 Stockschläge; 124 010 Rutenhiebe; 136 715 Handschmisse; 115 800 Kopfnüsse; 10 989 Linealklapse; 12 763 Schläge mit der Bibel; 10 235 Maulschellen; 7905 Ohrfeigen; 3001 den Sack tragen; 777 auf Erbsen knien lassen; 612 auf Holzscheiten knien lassen.
Sicherlich empfand Häberle dies nicht als ungerecht, sondern als die passende Antwort auf Unterrichtsstörungen und Verhaltensauffällig-keiten.
Die Beziehungsdidaktik weiß um die Vorbildfunktion des Lehrers. Wenn ein Schüler respektvolles Verhalten noch nicht gelernt hat und wir uns ebenso respektlos verhalten, welches Vorbild geben wir?
Es ist die Verantwortung des Lehrers die Grundlagen für dieses gemeinsame Lernen bereitzustellen. Er ist verantwortlich für den Versuch die Beziehung in Gang zu setzten.
Doch wie schafft man eine Beziehung zu Schülern, die selten tragfähige Beziehungen erlebt haben und gelernt haben vorsichtig zu sein?
Um eine gute Beziehung aufzubauen, muss ich mein Gegenüber kennenlernen. Häufig haben wir falsche Vorstellungen und Erwartungshaltungen und diese führen dann später dazu, dass Beziehungen scheitern. Grundlegend ist deshalb die gegenseitige Kennenlernphase, in der sich zum einen entscheidet, ob wir wichtig für unser Gegenüber sind und ob wir vertrauenswürdig erscheinen.
2.1 Kennenlernphase
Die Kennenlernphase dient der Abklärung von wesentlichen Fragen:
Wer bist du? Wer bin ich/ sind wir?
Woher kommst du? Woher komme ich / kommen wir?
Wohin willst du? Wohin will ich/ wollen wir?
Welche Hilfe brauchst du?
Wie hilfst du uns?
Diese Kennenlernphase beginnt mit dem Aufnahmegespräch. Viel zu oft machen wir uns ein Bild von jemanden über die Schülerakte. Aber jeder Schüler verdient eine faire Chance, sowie einen Neubeginn und viele Informationen in Schülerakten führen dazu, dass wir Vorurteile haben. Umgekehrt wollen sie sich als Person und auch als Schule vorstellen und wünschen nicht, dass man sie nur vom Hören-sagen kennt und der Schüler sie in eine Schulblade drängt.
Die Kennenlernphase dauert oft Wochen und sollte nicht als ein statisches Element verstanden werden, dass nach dem Aufnahmegespräch beendet ist. Die Kennenlernphase ist für viele Schüler sehr irritierend, viele haben nie erfahren, dass die Schule sich für sie interessiert. Auch, dass die Schule nachfragt und nicht aus der Akte einfach Informationen entnimmt oder blind hineininterpretiert ist für viele ungewöhnlich.
2007 wurde ich Klassenlehrer der Jahrgangsstufe 7. Ich hatte zuvor mein Referendariat beendet und hatte im Anschluss zusammen mit dem Schulsozialarbeiter eine Krisenintervention in der Schule aufgebaut. Die Arbeit in der Krisenintervention war mir so wichtig geworden, dass ich eigentlich nicht mehr als Klassenlehrer arbeiten wollte. Aber da wir einen Lehrermangel hatten, erschien es notwendig, dass ich nun auch eine Klasse übernehme. Da ich nicht wirklich den klassischen Schulunterricht machen wollte, traf ich mit dem Kollegen aus der Parallelklasse eine Vereinbarung. Er bekam alle leistungsstarken Schüler, mit denen er nach den Richtlinien der Hauptschule stark abschlussbezogen arbeiten konnte und ich bekam vermehrt die Schülergruppe, die ein besonders differenziertes Lernangebot brauchte. Ziel war es, neben dem klassischen Schulunterricht, viele Maßnahmen aus der Erlebnispädagogik und der Krisenintervention zu nutzen, um die Schüler zum Lernen zu motivieren.
Die Klasse bestand zunächst aus acht Schülern, die alle bisher keine guten Schulerfahrungen gemacht hatten. Täglich gab es eine Vielzahl von massiven Unterrichtsstörungen: Aggressionen, Wut und Tränen waren an der Tagesordnung. Unterrichtszeiten lagen zunächst täglich bei wenigen Minuten. Die Unterrichtszeit konnte ausgebaut werden durch Malen und „Wir sitzen halbwegs ruhig am Tisch oder wenigstens auf dem Stuhl und hören eine Geschichte die Herr Dohmen vorliest, solange es spannend ist“.
Die meisten Schüler zeigten massive externalisierte Störungsbilder, nur Kevin war eigentlich immer ruhig. Kevin arbeitete dafür in der Regel nicht. Er saß entweder den ganzen Tag auf dem Stuhl und schwieg oder er legte den Kopf auf den Tisch. Nur manchmal stand er auf und lachte und erzählte mir lustige Geschichten, die ihm durch den Kopf gingen. In diesen Zeiten spürte ich, dass Kevin mich mochte, aber arbeiten war einfach nicht sein Ding und deshalb ließ er es und ich konnte zunächst machen was ich wollte.
2.1.1 Wer bist du?
Diese Frage ist oft sehr schwer zu beantworten. Häufig wissen Schüler sie nicht konkret zu beantworten oder wissen nur die negativen und kritischen Punkte. Geben sie dem Schüler Zeit über die Frage nachzudenken, setzen Sie ihn aber nicht unter Druck.
Wenn ein Schüler nur Negatives nennen kann, deuten sie es für ihn um in etwas Positives.
Beispiel: „Ich bin Tom und ich bin von meiner alten Schule geflogen, weil ich jemanden geschlagen habe. Ich habe kein Bock auf Schule und am liebsten möchte ich einfach nur in Ruhe gelassen werden.“
„Ok, Tom. Du willst Ruhe und Schule ist gerade nicht so dein Thema, vielleicht auch weil du schon schlechte Erfahrung mit Schule gemacht hast.“
Wer bin ich / sind wir?
Wer etwas von anderen erfahren möchte, sollte nicht nur neugierig fragen und aushorchen, sondern er sollte selber etwas bieten. Überzeugend ist es, wenn man nicht nur Positives sagt, sondern auch den Mut hat, etwas Kritisches über sich selbst zu sagen. Diese Offenheit in Bezug auf Schwächen ist für viele Schüler neu. Obwohl die Schüler wissen, dass die Schule nicht perfekt ist, rechnen sie nicht damit, dass die Lehrer dies zu geben würden. Diese Überraschung schafft oft schon ein Stück vertrauen.
Beispiel: Wir sind eine Förderschule. Wir wollen eigentlich, dass sich bei uns alle wohl fühlen und eine faire Chance bekommen. Eigentlich sind hier die meisten ganz zufrieden, aber wir haben einen schlechten Ruf in der Stadt, an dem müssen wir noch arbeiten.
Für die Schüler war meine Erscheinung häufig schwer einzuschätzen. Zum einen hatte ich lange Haare zum Zopf gebunden und zum anderen machte ich katholischen Religionsunterricht. Beides damals absolute Außenseiterthemen. Durch das laute Radio morgens in meinem Auto wussten die Schüler, dass ich Punkmusik hörte. Punks gab es an der Schule jedoch nicht. Somit war klar, ich bin ein langhaariger Hippie, der „Zeckenmusik“ mag.
Es geht in diesem Anfangsstadium nicht darum, besonders viele Gemeinsamkeiten zu finden oder auf die Unterschiede hinzuweisen bzw. sie zu verstecken. Es geht nur um eine ehrliche Statusbestimmung. Es wird Klarheit darüber geschaffen, wer wo steht. „Den Schüler dort abholen, wo er steht“, ist ein in der Pädagogik weit verbreiteter Begriff. Doch viel zu oft gibt es nur Vermutungen, wo ein Schüler steht, so dass es schwer wird, ihn abzuholen.
2.1.2 Woher kommst du? (Frage nach dem Ursprung seiner Werte)
Die Frage woher ein Schüler kommt, ist für ihn schwer zu verstehen. Häufig verstehen sie die Frage besser, wenn ein Umweg eingeschlagen wird.
Beispiel: Ich habe die Aufnäher auf deiner Tasche gesehen und deine Piercings natürlich auch. Darf ich fragen, hörst du Punk-Musik? Oder aus welcher Richtung kommt deine Einstellung?
Woher komme ich / woher kommen wir?
Oft denken Schüler alle Schulen seien in ihrer Einstellung gleich, da alles über die Schulaufsicht oder das Ministerium geregelt wird.
Beispiel: Uns gibt es erst seit zwanzig Jahren. Viele Kollegen sind relativ jung. Wir haben erst vor einiger Zeit unser Leitbild überarbeitet und uns ist die Mitgestaltung durch die Schüler wichtig.
Die Gegenwart ist durch die Vergangenheit besser zu verstehen. Stehen wir auf der Straße zwischen zwei Orten, weiß niemand woher wir kommen und wohin wir gehen. Es macht aber einen Unterschied ob wir in einer Hin- oder Wegbewegung sind. Die Erkenntnis woher jemand kommt, verrät oft viel über mögliche innere Motive und Ziele.
Kevin hatte bislang eine eher schlechte Schulentwicklung gemacht. Er bekam zunächst sonderpädagogische Förderun...