I Mythologische Priester in der germanischen Überlieferung
In den Mythen der Germanen treten mehrere Götter auf, die bei genauerem Hinsehen Priester und Priesterinnen sein könnten, die in den Bereich der Götter versetzt worden sind.
Dies sind Atli, Fimafeng, Eldir, Franmar, Thialfi, Hermodr, Skirnir, Byggvir und Otr sowie Gna, Beyla, Röskwa und die neun „Dienerinnen“ der Freya-Menglöd.
Am ehesten kann noch Hönir als ein Priester-Gott, d.h. als ein Gott mit Priester-Funktion, angesehen werden, obwohl auch er den Eindruck macht, als ob er ein „vergöttlichter Priester“ sei.
Da es über Hönir eine umfassendere Überlieferung gibt, ist er in einem einzelnen Band dargestellt worden (Band 18).
I 1. Atli, der Priester des Tyr
Atli ist der Gesandte und Zauberer des Königs Hiörvard. Er tritt in den Helgi-Liedern auf. Da „Helgi“ („Heiler“, „Heiliger“) einer der Beinamen des ehemaligen Sonnengott-Göttervaters Tyr ist, ist es gut denkbar, daß auch Atli aus den Mythen des Tyr stammt.
I 1. a) Der Name „Atli“
Der Name „Atli“ bedeutet „Vater“. Der bekannteste Träger dieses Namens ist vermutlich der Hunnenkönig Attila.
I 1. b) Das Lied über Helgi Hjörward-Sohn
Atli ist in diesem Lied der Sohn eines Jarls (Grafen) des Königs Hiörvard.
Hiörward hieß ein König, der hatte drei Frauen. Eine hieß Alfhild und der beiden Sohn Hedin; die andere hieß Säreid und der beiden Sohn Humlung; die dritte hieß Sinriöd und der beiden Sohn Hymling.
Ein König mit drei Frauen wird kein normaler König zu sein – es besteht der Verdacht, daß es sich bei ihm um eine Sagen-Version des ehemaligen Göttervaters Tyr handelt. Die „3“ und vor allem der dreifach dargestellte Vorgang sind die germanische Methode, einen zyklischen Vorgang und insbesondere den Sonnenlauf darzustellen (siehe „3“ in Band 47 und „Wiederzeugung“ in Band 51).
Für die Vermutung, daß dieses Lied auf die Tyr-Mythen zurückgeht, spricht auch, daß Hiörward zwei Söhne hat, die in den Sagas und Liedern der zu einer Saga-Gestalt umgedeutete Göttervater sind: Hedin und Helgi. Helgi wird später geboren; zu „Hedin“ siehe die Saga über Hedin und Högni (in Band 39 dieser Reihe).
Hiörward hatte gelobt, die Frau zu ehelichen, die er die schönste wüßte. Da hörte er, daß König Swafnir eine allerschönste Tochter hätte, Sigurlinn geheißen.
Der Name „Svaf(nir)“ bedeutet „Schläfer“ und im übertragenen Sinne auch „Toter“. Im Fiölswin-Lied ist er ein Riese und der Vater der Freya-Menglöd:„Menglada heißt sie, die Mutter zeugte sie mit Swaf, Thorins Sohn.“ Auch König Svaf ist daher wohl aus einer Übertragung des ehemaligen Göttervaters in die Saga entstanden.
Dazu paßt auch die „schönste Tochter“: Die Muttergöttin wurde bei der Patriarchalisierung in die Tochter des Göttervaters umgewandelt, woraus dann in der Sage die „schönste Königstochter“ wurde.
Idmund hieß sein Jarl. Atli, dessen Sohn, fuhr zu dem König, um Sigurlinn zu freien. Er blieb einen Winter lang bei König Swafnir.
Dies Form der Brautwerbung war damals zwar weit verbreitet, aber sie erinnert auch an das Skirnir-Lied, in dem Freyrs Diener/Priester für seinen Herrn die schöne Jenseitsgöttin-Riesin Gerdr freit.
Franmar hieß da ein Jarl, der Pfleger Sigurlinns, und dessen Tochter Alof. Der Jarl riet, daß die Maid verweigert würde: da fuhr Atli heim.
Hier erscheinen Atli und Franmar als Gegenspieler bei der Werbung um die „schönste Frau“. Es besteht somit der Verdacht, daß es sich bei ihnen um Tyr und Loki handeln könnte, die sich in einem endlosen Zyklus um die Göttin Freya streiten, ohne die sie nicht wieder geboren werden können. Durch diesen Streit und durch die durch ihn bewirkte abwechselnde Herrschaft des Sommergottes Tyr und des Wintergottes Loki entstehen die Jahreszeiten.
Atli Jarls-Sohn stand eines Tages an einem Wald: Da saß ein Vogel oben in den Zweigen über ihm und hatte zugehört, da seine Mannen die Frauen die schönsten nannten, die Hiörward hatte. Der Vogel zwitscherte und Atli lauschte, was er sagte.
Atli, der um Sigurlind gefreit hatte, war offenbar zauberkundig, da er die Vogelsprache verstand. Das Verstehen der Vogelsprache ist ein Bild für die Fähigkeit, mit den Ahnen in deren Gestalt als Seelenvögeln zu sprechen, also für die Fähigkeit ins Jenseits zu reisen oder ein Utiseta (Herbeirufung der Toten) durchzuführen.
Er sang:
„Sähest Du Sigurlinn, Swafnirs Tochter,
Die schönste Maid in Munarheim?
Und hier behagen doch Hiörwards Frauen
Deinen Leuten in Glasislundr.“
„Glasir-Wald“ ist allgemein ein Heiliger Hain und speziell der Hain bzw. Baum neben Odins Walhalla – der Weltenbaum. Die „Glasir-Ebene“ wird in mehreren Mythen und Sagas als der Wohnort des Tyr-Gudmund angegeben (siehe „Gudmund“ in Band 5). Dieser Ort bestätigt die Annahme, daß dieses Lied auf die Tyr-Mythen zurückgeht.
Atli ist offensichtlich ins Jenseits gereist, was die Deutung des Königs Svafnir als Tyr und Sigurlinn als Göttin bestätigt. Sigurlinn ist wahrscheinlich aus der Göttin Freya heraus entstanden, die manchmal auch als Walküre auftritt.
Atli:
„Willst Du mit Atli, Idmunds Sohn,
Vielkluger Vogel, Ferneres reden?“
Der Vogel:
„Ja, wenn der Edling mir opfern wollte;
Doch wähl' ich, was ich will aus des Königs Wohnung.“
Ein Vogel auf dem Weltenbaum mit Anspruch auf ein Opfer klingt nach dem Adler-Seelenvogel des Tyr auf dem Weltenbaum, der u.a. im „Haustlöng“ und in der „Skaldskaparmal“ als der Adler des Tyr-Thiazi von Odin, Hönir und Loki Opfergaben erhält.
Atli:
„Wenn Du Hiörward nicht kiesest noch seine Kinder,
Noch des Fürsten schöne Frauen.
Kiese keine von des Königs Bräuten:
Laß uns wohl handeln, das ist Freundes Weise.“
Der Vogel:
„Einen Hof will ich haben und Heiligtümer,
Goldgehörnte Kühe aus des Königs Stall,
Wenn Sigurlinn ihm schläft im Arm
Und frei dem Fürsten folgt zum Haus.“
Einen Tempel („Hof“) und „Heiligtümer“ sowie Stieropfer stehen lediglich dem ehemaligen Göttervater Tyr zu. Atli spricht und verhandelt hier offenbar mit dem Seelenvogel des Tyr-Svafnir.
Er selber wird hier anscheinend zu dem Priester des Adler-Seelenvogels des Tyr und errichtet ihm einen Tempel.
Die goldgehörnten Kühe sind auch aus dem Lied über den Tyr-Riesen Thrym bekannt – sie gehörten offenbar einst zu dem Kult des Tyr.
Dies geschah, ehe Atli heimfuhr; als er aber nach Hause kam und der König ihn frug, sprach er:
„Wir hatten Arbeit und üblen Erfolg:
Unsre Rosse keuchten auf dem Kamm des Gebirgs,
Dann mußte man durch Moore waten;
Doch ward uns Swafnirs Tochter verweigert,
Die spangengeschmückte, die wir holen wollten.“
Der König bat, daß sie zum anderen Mal hinführen, und er fuhr selbst mit. Aber da sie auf den Berg kamen und hinblickten auf Swawaland, sahen sie großen...