1. Einleitung
In demokratisch verfassten Staaten sollen politische Entscheidungen den Willen der Bürger widerspiegeln. Anders als in der Antike geschieht dies heute größtenteils aber nicht direkt, sondern vermittelt über intermediäre Institutionen. Ferner gibt es in der heutigen repräsentativen Demokratie meistens nicht nur eine politische Institution, in welche die Bürger durch Wahl ihre Repräsentanten entsenden, sondern mehrere, die im Zuge der Gewaltenteilung durch ihr Zusammenwirken die politischen Geschicke eines Staates lenken. Hierbei wählen die Bürger ihre Repräsentanten für einige Institutionen direkt (z. B. Parlamente, Präsidenten in präsidentiellen Demokratien), andere erhalten ihre politische Legitimation indirekt durch diese direkt gewählten Volksvertreter (z. B. Verfassungsgerichte, parlamentarische Regierungen). Daneben gibt es auch heute noch teilweise die Möglichkeit für die Bürger, durch direktdemokratische Verfahren wie Volksentscheide politische Entscheidungen direkt zu bestimmen, auch wenn dieses Mittel in allen Nationalstaaten außer der Schweiz recht beschränkt ist.
Die Institutionenordnung in unterschiedlichen Demokratien kann sehr verschieden ausfallen. Die Anzahl und Art der das politische Geschehen lenkenden Institutionen variiert, auch ihr gegenseitiges Zusammenwirken unterscheidet sich sowohl nach den formellen rechtlichen Vorgaben als auch nach dem wirklichen Geschehen. Hinzu kommt noch, dass in allen entwickelten Demokratien mehrere Parteien um die Besetzung der wichtigsten politischen Ämter konkurrieren. Wenn sich die parteiliche Besetzung wichtiger politischer Institutionen ändert, so kann dies Auswirkungen auf die politischen Entscheidungen haben.
Schon seit der Antike wird versucht, durch Typologisierungen Ordnung in die unterschiedlichen politischen Systeme zu bringen und zu erklären, welche Auswirkungen unterschiedliche Institutionenordnungen auf die politische Performanz eines Gemeinwesens haben. Bekannte Unterscheidungen verschiedener demokratischer Institutionenordnungen aus der modernen Politikwissenschaft sind die in Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien1 sowie die in präsidentielle und parlamentarische Demokratien2.
Eine wichtige Frage ist, wie verschiedene institutionelle Designs und unterschiedliche parteipolitische Besetzungen der Institutionen eher politische Veränderungen hemmen und somit eine statische Politik begünstigen, oder Veränderungen erleichtern. Ersteres führt zwar zu Erwartungssicherheit, verhindert aber ein schnelles, flexibles Reagieren auf Veränderungen, letzteres führt zu politischer Flexibilität, kann aber die Erwartungssicherheit aller Akteure aufgrund relativ leicht herbeizuführender Veränderungen untergraben3.
Eine Theorie, die behauptet, diese Frage zu beantworten und dabei gleichzeitig die oben erwähnten Typologien zu umfassen, ist die Vetospielertheorie von George Tsebelis4. Die Theorie beansprucht, erklären zu können, unter welchen Konstellationen von Vetospielern in einem politischen System ein Politikwechsel einfacher herbeizuführen ist. Ein Vetospieler ist dabei: „an individual or collective actor whose agreement is required for a policy decision“.5 Je mehr Vetospieler es gibt, je weiter diese ideologisch voneinander entfernt sind, und je kohärenter kollektive Vetospieler sind, desto wahrscheinlicher kommt es zu politischem Stillstand.6
Die Theorie wurde ursprünglich zur Erklärung von politischem Geschehen auf nationalstaatlicher Ebene entwickelt7. Allerdings gibt es keinen Grund, sie nicht auch auf die kommunale Ebene anzuwenden8. Denn auch hier verhält es sich so, dass verschiedene politische Institutionen (insbesondere der Bürgermeister und der Gemeinderat) im gemeinsamen Zusammenwirken, das mal eher kooperativ, mal eher konfliktiv ausfallen kann, Entscheidungen treffen und das Geschick ihrer Gemeinde lenken. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Ausgestaltung der kommunalen Institutionenordnung und die Stellung von Bürgermeister und Gemeinderäten im politischen Raum sowie deren parteiliche Zugehörigkeit (bzw. das Fehlen einer solchen) den politischen Prozess beeinflussen. Diese Frage soll in dieser Arbeit mithilfe der Vetospielertheorie beantwortet werden.
Zunächst soll hier die Theorie von Tsebelis vorgestellt werden (Kapitel 2). Danach ist auf einige Kritikpunkte einzugehen (Kapitel 3). Wie sich zeigen wird, sind zwar einige Aspekte der Theorie zu hinterfragen, insgesamt bietet sie aber großes Erklärungspotential. Dies wird auch durch verschiedene empirische Studien bestätigt, von denen zwei anschließend kurz vorgestellt werden sollen (Kapitel 4). Dies soll zeigen, dass die Vetospielertheorie kein rein theoretisches Konstrukt ist, sondern auch praktisch anwendbar. Anschließend soll gezeigt werden, dass mit der Vetospielertheorie auch Einsichten über das kommunalpolitische System Baden-Württembergs gewonnen werden können (Kapitel 5). Den Abschluss bildet ein Resümee (Kapitel 6).
2. Die Vetospielertheorie von
George Tsebelis
Die Theorie beansprucht, die Frage zu beantworten, inwiefern die Institutionenordnung eines Staates und die Besetzung dieser Institutionen durch die Mitglieder unterschiedlicher politischer Parteien Auswirkungen auf die Fähigkeit dieses Staates haben, weitgreifende politische Reformen durchzuführen. Bestimmend hierfür ist nach Tsebelis die Konstellation der Vetospieler. Als Vetospieler zählen „individual or collective actors whose agreement is necessary for a change of the status quo“9. Jeder Akteur, ohne dessen Zustimmung keine politische Entscheidung möglich ist, gilt also als Vetospieler. Der Status quo meint die gegenwärtig gültigen rechtlichen Regelungen eines Staates, sowie die daraus resultierenden faktischen Verhältnisse10. Hierbei sind individuelle Vetospieler einzelne Individuen wie Präsidenten, kollektive Vetospieler Institutionen, die mehrere Individuen als Mitglieder haben, wie Parlamente. Bezüglich der Wirkung der Vetospieler auf die politische Reformfähigkeit eines Staates kommt die Theorie zu drei Hauptaussagen:
- Je mehr Vetospieler es gibt, desto unwahrscheinlicher wird ein Politikwechsel11.
- Je größer der ideologische Abstand zwischen den Vetospielern ist, desto unwahrscheinlicher wird ein Politikwechsel12.
- Je intern kohärenter ein kollektiver Vetospieler ist, desto unwahrscheinlicher wird ein Politikwechsel13.
Hier sollen zunächst die mathematischen Grundlagen der Theorie dargestellt werden, welche diese drei Thesen stützen. In einem nächsten Schritt soll das Ganze dann mit Inhalt gefüllt werden.
2.1 Die mathematischen Grundlagen der Theorie
Jeder Vetospieler14 nimmt mit seiner ideologischen Einstellung einen Idealpunkt in einem n-dimensionalen politischen Raum ein15. Hierbei steht jede Dimension für eine politische Fragestellung, beispielsweise für Rüstungspolitik, Umweltpolitik oder den Arbeitsmarkt. Je näher eine politische Alternative seinem Idealpunkt liegt, desto eher wird der Vetospieler sie befürworten. Der Punkt im politischen Raum, der für die gegenwärtigen Verhältnisse steht, ist der Status quo. Jeder Vetospieler hat eine kreisförmige Indifferenzkurve16 mit seinem Idealpunkt als Zentrum, dessen Peripherie den Status quo schneidet. Da jeder Punkt in diesem Kreis seinem Idealpunkt näher ist als der Satus quo, wird er einer Veränderung zu jedem Punkt innerhalb seiner Indifferenzkurve zustimmen. Die Akteure verhalten sich hier rational und sind nur an der Maximierung ihrer ideologischen Interessen interessiert17.
Damit mehrere Vet...