Die allein gelassenen
Jünger
Dann wurde er vor ihren Augen emporgehoben. Eine
Wolke nahm ihn auf, so dass sie ihn nicht mehr sehen
konnten. Als sie noch wie gebannt nach oben starrten
und hinter ihm hersahen, standen plötzlich zwei
weißgekleidete Männer neben ihnen. „Ihr Galiläer“,
sagten sie, „warum steht ihr hier und schaut nach
oben? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel
aufgenommen wurde, wird auf dieselbe Weise
wiederkommen, wie ihr ihn habt weggehen sehen!“ Darauf
kehrten sie vom Ölberg nach Jerusalem zurück. Das
ist ein Weg von etwa einer halben Stunde. Dort gingen
sie in das Obergemach des Hauses, wo sie von nun an
beisammenblieben. Es waren: Petrus, Johannes, Jakobus
und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und
Matthäus, Jakobus, der Sohn von Alphäus, und Simon, der
zur Partei der Zeloten gehört hatte, und schließlich Judas,
der Sohn von Jakobus. Auch die Frauen waren dabei und
Maria, die Mutter von Jesus, sowie seine Brüder. Sie alle
waren einmütig beieinander.
[APOSTELGESCHICHTE 1,9 -15]
Und was wird nun?“ fragte Nathanael in die Runde. Da saßen sie, die 11 Jünger und eine Anzahl von Freunden und Nachfolgern Jesu. Bis jetzt war Jesus der bestimmende Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Mehrere Jahre waren sie ihm gefolgt, waren mit ihm von Ort zu Ort gezogen, hatten Erstaunliches, aber auch Schockierendes miterlebt und seinen Reden an den verschiedensten Orten zugehört. Aber immer hatte er den Ton angegeben, hatte bestimmt, was zu tun oder zu sagen war, eben ihr Rabbi, ihr Lehrer und Anführer. Aber nun hatte er sie verlassen und hatte auch keinen Zweifel daran gelassen, dass ihr bisheriges Zusammenleben beendet war. Was sollte nun werden? Die Frage beschäftigte sie alle.
Schließlich meinte Petrus: „Eigentlich hat er uns eben doch genau gesagt, was wir nun tun sollen: Warten! Warten, auf das, was er uns versprochen hat.“
Sein Bruder Andreas war nicht ganz überzeugt: „Einfach nur dasitzen und warten? Das hört sich ziemlich langweilig an. Irgendwas müssen wir doch machen!“
„Nun, wir könnten doch zumindest Gott danken für all das, was wir in den letzten Tagen erlebt haben!“, schlug Levi vor.
„Sicher“, entgegnete Andreas, „das können wir ja morgen zur gewohnten Gebetszeit im Tempel tun.“ Die anderen nickten zustimmend.
Nur Johannes wiegte nachdenklich den Kopf: „Meint ihr wirklich, dafür müssten wir in den Tempel gehen? Also, ich habe Jesus mehrmals beim Gebet beobachtet, da war er aber nie im Tempel. Einmal haben wir ihn sogar auf einem abgelegenen Berg dabei überrascht. Und als er über das Beten zu uns redete, hat er was vom Abstellraum im Obergeschoss gesagt. Das klang doch wirklich nicht nach Tempel. Einen Priester hat er auch nie gebraucht, um ihn an seiner Stelle beten zu lassen.“ „Da hast du auch wieder Recht!“ stimmte ihm sein Bruder Jakobus bei. „Aber das hieße ja, dass wir einfach so zum Beten zusammenkommen können?“
Johannes nickte zustimmend. „Ich erinnere mich noch ganz genau, dass er gesagt hat: ‚wo zwei oder drei zusammen kommen in meinem Namen, da bin ich mit dabei.‘1 Das reicht doch, oder nicht?“ Zustimmendes Murmeln in der Runde. „Also, dann treffen wir uns einfach hier oder bei jemand anderem zuhause und beten miteinander. Wenn wir mit Gott wie mit unserem Vater reden können, dann brauchen wir dazu wirklich kein besonderes Gebäude. Aber wenn es vorgeschrieben ist, gehen wir wie üblich in den Tempel.“ Mit dem Vorschlag waren alle einverstanden.
Aber Andreas bewegte anscheinend noch eine weitere Frage: „Und was machen wir am Sabbat? Zuhause in Kapernaum würde ich in die Synagoge gehen. Dort gibt es sicher eine Menge Leute, die sich gerne an Jesus erinnern und uns zustimmen würden, wenn wir von ihm erzählen. Aber hier in Jerusalem? Einfach in irgendeine Synagoge gehen und dort davon reden, dass Jesus für uns gestorben und auferstanden ist? Es hat sich doch längst herumgesprochen, dass Jesus als Gotteslästerer hingerichtet wurde. Die würden uns schnellstens rauswerfen, wenn nicht noch Schlimmeres tun!“
„Daran hab ich noch gar nicht gedacht“, gab Petrus zu.
Bartolomäus hatte die rettende Idee: „Wie wäre es denn, wenn wir unsere eigene Synagoge aufmachen? Das kann uns niemand verbieten. Die meisten großen Rabbis haben doch auch ihre eigenen Synagogen gegründet. Also gründen wir eine Jesus-Synagoge! Und ich bin sicher, wenn die Menschen erst einmal begreifen, was Jesus für uns bedeutet, werden sich uns noch viele Leute anschließen.“ Die meisten der Anwesenden fanden, das sei tatsächlich eine brauchbare Idee, das sollten sie mal ausprobieren.
Nur Thomas hatte noch Bedenken: „Und wo, bitte schön, sollen wir uns treffen? Hier in diesen Raum passen wir jetzt schon kaum noch alle rein. Wenn noch mehr Leute dazu kommen, brauchen wir ein größeres Gebäude. Aber woher sollen wir das Geld dafür nehmen?“
Der praktisch veranlagte Bartolomäus hatte wieder einen Vorschlag: „Als Jesus mit uns in Jerusalem war, hat er doch meistens in den offenen Hallen, die um den Tempelvorhof herum sind, gelehrt. Auch andere Rabbis treffen sich dort mit ihren Schülern. Platz ist da genug, und es gibt, soweit ich weiß, keine Vorschriften, die Versammlungen im Vorhof verbieten. Also treffen wir uns einfach dort. Außerdem ist dort alles offen, also können auch andere Leute dazukommen und hören, was wir zu sagen haben. Was meint ihr, das wäre doch eine Möglichkeit, oder?“
Petrus brauchte nicht lange zu überlegen: „Die Idee ist gut! Ich denke, so können wir es vorläufig machen. Und wenn wirklich mit der Zeit noch jede Menge andere Leute zu uns stoßen, werden wir auch das Geld für ein eigenes Gebäude auftreiben können.“ Alle waren einverstanden, nur Andreas war noch nicht ganz überzeugt: „Aber wir haben doch keinen Rabbi mehr, seit Jesus zum Vater gegangen ist. Wer soll dann unsere Synagoge leiten?“
Petrus machte eine wegwerfende Handbewegung und meinte: „Hast du schon vergessen, was Jesus uns vor kurzem aufgetragen hat, ‚Geht hin und verkündigt überall die gute Botschaft von mir!‘2 Dazu brauchen wir doch keinen Rabbi. Außerdem waren wir drei Jahre lang Schüler beim besten Bibellehrer, den es je gegeben hat. Ich denke, das gibt uns wirklich das Recht, eine Versammlung zu leiten und das weiterzugeben, was wir von ihm gelernt haben.“ Das überzeugte auch Andreas, und es wurde einstimmig beschlossen, am nächsten Sabbat in der sogenannten ‚Halle Salomos‘ im Tempelvorhof zusammenzukommen.
Andreas brachte noch einen neuen Gedanken ins Gespräch: „Ich muss öfter an den Donnerstag Abend denken, als wir zusammen mit Jesus die Passah-Mahlzeit eingenommen haben. Da hat er doch an einigen Stellen so seltsam den Ablauf geändert.3 Als er das Brot austeilte, sagte er: ‚Nehmt und esst, das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird’. Und dann beim zweiten Becher Wein sprach er davon, dass das sein Blut sei, das für viele vergossen wird und dass er damit den neuen Bund besiegelt. Ich kann nicht behaupten, dass ich das mit dem neuen Bund wirklich verstehe. Aber eines ist doch klar: er hat diese ganze schreckliche Tortur ganz bewusst auf sich genommen, damit wir mit Gott ins Reine kommen können. Das hat er dann sicher gemeint, als er sagte, dass sein Blut für viele vergossen wird.“
Johannes ergänzte: „Auch vorher hat er doch schon mehrmals solche Andeutungen gemacht. Erinnert ihr euch noch, als er damals von sich als dem guten Hirten gesprochen hat? ‚Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe’.“4
Blick von Jerusalem
auf den Ölberg
Petrus rief aufgeregt: „Genau, oder denkt an diese verrückte Rede, als er sagte, dass man sein Fleisch essen und sein Blut trinken müsse, wenn man das ewige Leben haben will.5 Was haben sich damals alle darüber aufgeregt – ich ja auch, ehrlich gesagt. Aber am Donnerstag Abend beim Passah-Abendessen ist er genau darauf wieder zurückgekommen.“
Jakobus fügte hinzu: „Und das mit seinem Blut, das für viele vergossen wird, hat er tatsächlich wörtlich gemeint.“
Petrus meinte nachdenklich: „Und dann hat er noch hinzugefügt: ‚Tut das zur Erinnerung an mich.’ Das heißt doch wohl, dass von jetzt ab das Passah für uns eine ganz neue Bedeutung bekommt. Sozusagen eine symbolische Weise, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken.“
Jetzt meldete sich auch Bartholomäus, der bis dahin schweigend zugehört hatte: „Warum sollten wir das eigentlich nur einmal im Jahr zum Passah-Fest tun? Wenn wir es nicht mehr zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten machen, sondern zur Erinnerung an Jesus und seinen Tod, sind wir doch nicht mehr an die Ordnung unserer Religion gebunden. Außerdem, die Erinnerung daran, dass Jesus für uns die Hinrichtung erduldet hat, um uns mit Gott zu versöhnen, die brauchen wir sicher mehr als einmal im Jahr!“
„Da hast du eigentlich Recht,“ stimmte Petrus zu, „wir könnten uns doch einfach von Zeit zu Zeit nach unseren Zusammenkünften im Tempel zu einem gemeinsamen Essen treffen und dann wie bei der Passah-Mahlzeit Brot und Wein herumreichen und dabei wiederholen, was Jesus dazu gesagt hat. Das würde uns immer wieder daran erinnern, was Jesus für uns bedeutet.“
„Schön und gut“, wandte Thomas ein, „aber in der Halle da am Tempel können wir doch nicht für so viele Leute ein Abendessen zubereiten. Außerdem würde das doch den anderen Leuten wirklich seltsam vorkommen.“
„Müssen wir ja auch nicht“, fiel ihm Petrus ins Wort. „Das können wir doch auch bei jemand zuhause machen. Das Passah-Mahl haben wir ja auch nicht im Tempel eingenommen. Bei einigen von uns wäre sicher Platz genug. Und wenn eine Wohnung nicht reicht, teilen wir uns einfach auf in verschiedene Häuser. Das Geld für das Essen können wir dann einfach zusammenlegen. Ich sehe da kein Problem.“ Die anderen fanden das auch, und so wurde auch dieser Vorschlag angenommen.
Daraufhin meinte Thomas nachdenklich: „Wenn ihr das so seht, dass Jesus an unserer Stelle gestorben ist, um für unsere Schuld zu bezahlen, dann hat das eigentlich doch die gleiche Bedeutung wie die Opfer im Tempel, oder liege ich da falsch?“
Nach einigem Schweigen stimmte ihm Johannes zu: „Du hast recht. Wie hat er doch beim Passah-Mahl gesagt ‚das ist mein Blut, das für euch vergossen wird‘6. Genau das ...