Im Himmel, 1994, Michael ist 35 Jahre alt
Gabriel saß auf einer Wolkenbank an einem Ort, der Bibliothek genannt wurde. Es war kein begrenzter Raum, wie es Räume auf Erden sind, sondern der Platz im Himmel, wo alle Bände der Akasha, dem himmlischen Gedächtnis, aufbewahrt werden. Gabriel wartete auf Luther.
*Ich komme von einem der Posten und konnte nicht gleich fort.*
*Ist schon recht, Bruder Martin, mir wird die Zeit nicht lange bei all dieser Arbeit.* Und er deutete auf die Bände, die sich zu seinen Füßen stapelten.
*Ich habe dich gebeten, zu mir zu kommen, weil ich keinen Einblick mehr in das habe, was auf Erden vor sich geht. Jeder erzählt mir etwas Anderes, lauter Einzelheiten, die ich nicht zusammenfügen kann. Ich bitte dich daher, mir einen zusammenhängenden Bericht über das, was geschehen ist, zu geben.*
*Nachdem wir bei unserer letzten Generalversammlung beschlossen hatten, dass es Zeit sei, Michael seinen Leidensweg gehen zu lassen, haben meine Berater und ich einen Plan ausgearbeitet. Wir hatten beschlossen, dass Michaels Leiden darin bestehen sollte, unschuldig verurteilt zu werden und ins Gefängnis zu kommen. Da man heute in Amerika niemanden mehr ans Kreuz schlägt, ist wohl das ärgste Leid, das einem Menschen widerfahren kann, unschuldig schuldig gesprochen zu werden. Und das geschieht in Amerika so oft, dass es niemandem auffallen würde.
Der Zeitpunkt war gut gewählt, denn Michael hat seine Aufgabe als Prediger voll erfüllt, er hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen. Abgesehen von diesen Spottgeschichten in der Skandalpresse ist er allgemein anerkannt und beliebt. Sein Sturz sollte aus der schwindelnden Höhe seines Ruhms erfolgen.
Um seine Verurteilung zu betreiben, mussten wir eine Straftat aussuchen, der er beschuldigt werden sollte. Das war der schwierigste Teil unseres Plans, da sein Leben so untadelig ist: kein Alkohol, keine Drogen, er fährt fast nie selbst mit dem Auto; Mord, Raub, Erpressung, Einbruch und ähnliche Delikte kamen so und so nicht in Frage, er ist nun einmal von den Zeugen Jehovas zu einem Musterknaben getrimmt worden und war immer treu in der Befolgung ihrer Lehren.*
*Verzeih mir, Martin, wenn du das so sagst, dann scheint mir das ein wenig oberflächlich. Michael hat einen tiefen Glauben an Gott.
Ich will damit sagen, sein tugendhaftes Verhalten ist natürlich auch anerzogen, doch sein ganzes Wesen ist von Natur aus lauter. Schon alleine seine Sanftmut würde ihm nie erlauben, etwas zu tun, was jemand anderem schaden oder ihn verletzen könnte.*
*Ja, seine Seele ist so schön, wie es nur die Seele eines Engels sein kann.*
Die beiden Himmelsfürsten verharrten in Schweigen und dachten an die unendlich vielen guten Taten, die der Himmelsbote in ihrem Namen vollbracht hatte.
*Nun aber erzähl weiter.*
*Wir haben daher die amerikanischen Strafgesetze sehr eingehend studiert und sind auf ein Delikt gestoßen, das sich Kindesmissbrauch nennt. Da Michael dauernd von Kindern umgeben ist, haben wir an diesem Punkt angesetzt. Seine unschuldigen Spiele mit den Kindern kann man leicht so interpretieren, dass er sie für sexuelle Übergriffe ausnutzt. Wer war denn schon dabei?
Man müsste nur eine Maschinerie in Gang bringen, ein Gerücht in die Welt setzen und abwarten. Wir erkannten auch schnell, dass die Weltpresse die Rolle der Pharisäer übernehmen würde, indem sie Gerüchte aufbauschen und Hass schüren.
Wir haben unter den vielen Familien, die mit Michael befreundet und oft in Neverland zu Gast sind, eine ausgesucht, von der wir sicher sein konnten, dass sie leicht zu lenken sein würde. Der Vater, Evan Chandler, ist ein ziemlich mieser Typ, immer in Geldschwierigkeiten, habgierig, hinterhältig, neidisch. Alles Eigenschaften, auf die wir bauen konnten, wenn wir ihn als unser Werkzeug benutzten. Er hat einen kleinen Sohn, Jordan, um den er sich überhaupt nicht kümmert, er hat ihn dessen Mutter mit Freuden überlassen, als das Paar geschieden wurde. Die Mutter verbringt mit ihren beiden Kindern, Jordan und Lily, viel Zeit auf Neverland, denn die Kinder hängen sehr an Michael und auch er liebt die beiden sehr.
Das war die Ausgangsposition.
Wir haben dem Vater einen Zeitungsartikel in die Hände gespielt, in dem über die steigende Zahl von Anzeigen wegen Kindesmissbrauch die Rede war. Darin stand auch, dass die Gesetzeslage solche Anzeigen begünstigt. Jährlich werden unzählige derartige Beschuldigungen in die Welt gesetzt, von denen sich neunzig Prozent als unbegründet herausstellen. Anschuldigungen dieser Art sind ein wirksames Mittel, um jemanden zu diskriminieren, sie sind bei Streitigkeiten um das Sorgerecht von Kindern sehr beliebt.
Wir hatten uns nicht verrechnet, denn Evan Chandler kam sofort auf die richtige Idee. Er setzte sich mit ein paar zwielichtigen Anwälten zusammen und wenn du einmal Zeit hast, hör dir die Aufzeichnungen an, dann lernst du etwas über die Niedrigkeit der menschlichen Natur.
Chandler, plötzlich der liebende Vater, erreichte durch versteckte Anspielungen, dass die Mutter in Panik geriet und Jordan zu seinem Vater ziehen ließ. Dieser begann, seinen Sohn mit Fragen zu löchern, was denn auf Neverland so alles passierte. Er machte das sehr geschickt, sodass der Junge sehr bald begriff, um was es ging.
Und natürlich sagte er seinem Vater klar und deutlich, dass er von Michael nie sexuell berührt worden war.
Doch Chandler ließ nicht locker: Er ging zu einem Psychiater und schilderte mit reichlicher Fantasie, was dem Kind alles widerfahren war und der Arzt, ohne mit Jordan auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben, stellte ein Gutachten aus, in dem er den Verdacht aussprach, dass es zu einem sexuellen Übergriff gekommen sein könnte, was ein wirklich finsteres Bild auf die Arbeitsweise sogenannter Professionisten wirft.
Das Gutachten war in sich nichtssagend, aber Chandler hatte dadurch erfahren, wie leicht es in dieser Materie war, durch eine reine Behauptung einen begründeten Verdacht zu erwecken. Was er brauchte, war irgendein Anhaltspunkt aus dem Mund seines Sohnes.
Bei einer Zahnbehandlung in der eigenen Praxis, denn Evan Chandler ist Dentist, veranlasste er seinen Assistenten, Jordan Sodium Amytal zu spritzen. Das war der reinste Wahnsinn. Die Droge ist viel zu stark für ein Kind. Sie wird zum Beispiel bei Verhören des Geheimdienstes verwendet, um jemandem Dinge zu entlocken, die er lieber verschweigen will. Als Jordan aus der Narkose erwachte, stellte ihm der Vater gezielte Fragen und das Kind antwortete so ungeschickt, dass man es nur in einer Weise verstehen konnte: Er war von Michael sexuell missbraucht worden.
Nun hatte der Vater, was er wollte, aber er tat nicht, was wir erwartet hatten: nämlich zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Er setzte sich mit Michaels Leuten in Verbindung und forderte zwanzig Millionen Dollar für seine Gegenleistung, die Aussage seines Kindes für immer in der Versenkung verschwinden zu lassen.
Das war reine Erpressung.
Hätte Michael dem zugestimmt, wäre unser ganzer Plan ins Wasser gefallen und wir hätten uns etwas Anderes ausdenken müssen. Zu unserer großen Erleichterung hat Michael eine derartige Zahlung rundweg abgelehnt, weil er doch wusste, dass er unschuldig war.
Evan Chandler war natürlich wütend, denn er hatte fest mit dem Geld gerechnet und war nun auf Rache aus. Er sprach mit allen möglichen Leuten und deutete an, dass er Michael fertig machen wolle. “Er wird nie wieder auch nur eine Schallplatte verkaufen.” Einige dieser Gespräche wurden sogar auf Band aufgenommen und in einer Zeitung veröffentlicht, doch zu unserem Glück hat das niemanden interessiert.
Chandler ging wieder zu einem Psychiater, diesmal in Begleitung seines Sohnes, und das Kind wiederholte, was es nach der Narkose gesagt hatte. Der Arzt tat seine Pflicht und machte eine Anzeige bei der Polizei. Damit war unser Plan voll aufgegangen.*
*Wie war es möglich, dass Jordan dem Psychiater eine Unwahrheit gesagt hat?*
*Mein lieber Gabriel, der Druck des Vaters war groß, aber auch wir haben unsere Scherflein dazu beigetragen. Das ist das Gute bei religiösen Menschen, wenn man Moral und das Gebot, seinen Eltern zu gehorchen, richtig mischt, dann bekommt man, was man will.*
*Und wie ging es weiter?*
*Der Vater erschien bei einer Behörde, die sich um die Belange von Kindern und Familien kümmert und machte dort eine Aussage. Er gab Einzelheiten zu Protokoll, die sein Sohn nie gesagt hatte und erging sich in erfundenen schmutzigen Details. Und wir sorgten dafür, dass eine Kopie dieser Aussage an die Presse verkauft wurde.*
*Das ist ja teuflisch!*
*Das kann man wohl sagen, denn die Nachricht davon ging innerhalb von Stunden um die Welt und natürlich wurden Chandlers reine Erfindungen als etwas dargestellt, was Michael wirklich getan hatte. Obwohl das Dokument illegal an die Öffentlichkeit gelangt war, wurde es zur Gänze im Fernsehen gezeigt, und jedermann konnte mit eigenen Augen lesen, welche Schandtaten Michael angeblich begangen hatte.*
*Ich verstehe schon, dass das alles euer Plan war und leider auch notwendig ist, doch hat es da keine Gegenstimmen oder Proteste gegeben? Die Presse ist doch sonst nicht so einmütig, oder irre ich mich?*
*Lieber Gabriel, du musst eines bedenken: Satan weiß inzwischen natürlich, dass wir derzeit einen Gesandten auf Erden haben. Aber er weiß nicht, dass wir seinen Leidensweg vorbereiten. Er glaubt, es sei der Moment gekommen, unseren Boten zu vernichten und er hat ein ganzes Heer von Helfern auf die Erde geschickt. Jeder Journalist hat einen Aufpasser, damit er gar nicht auf den Gedanken kommt, sich zu fragen, ob das, was er schreibt oder im Fernsehen berichtet, der Wahrheit entspricht. Das Spiel ist so leicht, dass es einem die Angstschauer über den Rücken laufen lässt. Man hat Kindesmissbrauch in einem Atemzug mit der Ermordung von Kindern erwähnt, nur um anzudeuten, welches Monster Michael ist. Je schlechter die Nachrichten über Michael, desto größer der Umsatz bei Zeitungen und Fernsehen. Für die Presse ist das das größte Geschäft ihres Lebens. Wenn ihnen die Nachrichten ausgehen, dann erfinden sie welche, so einfach ist das.*
*Und was geschah mit dem armen Kind, Jordan?*
*Der Vater hielt ihn versteckt. Als Jordan begriff, was seinem lieben Freund Michael angetan wurde, wollte er seine Aussage widerrufen. Da hat ihn sein Vater geschlagen und ihm die Freiheit entzogen, wenn man es juristisch betrachtet. Jordan ist das Menschenkind, das wir opfern mussten. Wir dachten nur nicht, dass es so schlimm würde, weil wir mit einer derartigen Reaktion der Medien einfach nicht rechnen konnten. Jordan wird nichts geschehen und sein Leid wird natürlich belohnt werden.*
*Und die Polizei? Sie ist für den Plan doch viel wichtiger als die Presse!*
*Normalerweise legen sie derartige Anzeigen ganz zuunterst in den Aktenberg, weil sie aus Erfahrung wissen, dass die meisten ohnehin unbegründet sind. Da es sich aber um Michael Jackson handelte, veranstalteten sie gleich am nächsten Tag mit einem Heer von Beamten eine Hausdurchsuchung auf Neverland.*
*Haben aber nichts gefunden, davon habe ich schon gehört.*
*Du hättest das sehen sollen: Diese hartgesottenen Männer mussten sich stundenlang Videos über Mickey Maus, Peter Pan und Alice im Wunderland ansehen. Michaels Bibliothek umfasst Tausende von Bänden, jeden einzelnen haben sie aufgeschlagen. Sechzehn Computer gibt es in diesem Anwesen, alle wurden überprüft. Und das viele Spielzeug!
Kaum waren die Polizeiautos in Neverland eingefahren, als sich die Nachricht davon schon verbreitete. Und die Kommentare dazu: Wenn es eine Hausdurchsuchung gibt, dann doch nur, wenn es etwas zu finden gibt. Dabei war das Merkwürdigste, dass zu diesem Zeitpunkt noch niemand der ach so klugen Journalisten einen Zusammenhang zwischen Chandlers Behauptung des Kindesmissbrauchs und der Hausdurchsuchung in Neverland herstellte. Das geschah erst, als ein Mann namens Pellicano am nächsten Tag eine Pressekonferenz abhielt, bei der er offiziell mitteilte, dass gegen Michael eine Anzeige wegen Kindesmissbrauchs erstattet wurde. Nun fiel auch bei den Dümmsten der Groschen: Anzeige heißt Polizei, und das heißt wiederum Hausdurchsuchung.
Pellicano ist ein Privatdetektiv und wird von Michael bezahlt. Er hatte keinen Auftrag, eine Pressekonferenz zu geben. Sein Motiv war, dass er sich bei der beginnenden Hexenjagd auf die Seite der Guten stellen wollte, denn er hat so viel Dreck am Stecken, dass er mit dieser Aktion seinen eigenen Kopf retten wollte. Uns kam das allerdings sehr gelegen, denn nun brach die wahre Hölle los. Michael wurde als ein Monster hingestellt, das man vernichten musste.*
*Und Michael? Wie hat er überhaupt auf all das reagiert, wo war er denn damals, als der Medienrummel losbrach?*
*Wir haben seitdem viele Tränen hier oben vergossen. Unseren geliebten Sohn so leiden zu sehen, bricht uns die Herzen. Aber wir wissen, dass es sein muss und helfen ihm, wo wir können, damit er nicht daran zerbricht, damit er die Stärke aufbringt, um seinen Leidensweg um der Menschheit willen durchzustehen. Er hat noch nie an Selbstmo...