Auf der Suche nach des Rätsels Lösung
Bis das Rätsel Autismus ganz gelöst ist, dürfte wohl noch einige Zeit ins Land gehen; und dass es sich um ein Rätsel handeln muss, erkennt man, wenn man versucht, in Erfahrung zu bringen, wie häufig Autismus in der Bevölkerung vorkommt. Die Zahlen variierten nämlich von Quelle zu Quelle beträchtlich.
Auf den Internet-Seiten von spektrum.de13 wird die geschätzte Häufigkeit von Menschen mit Autismus mit 1:1000 bis 1:10000 angegeben.
Bei autismus.de14 wird die Häufigkeit mit 6 bis 7 pro 1000 beziffert - bezogen auf Untersuchungen in Europa, Kanada und USA.
Auf den Seiten von psychotherapie-rupp15 wird die Zahl autistischer Kinder unter Hinweis auf Schätzungen aus dem Jahr 2001 (Chakrabarti & Fombonne) mit 63 von 10000 angegeben.
Von etwa einer Verzehnfachung der Vorkommenshäufigkeit im Vergleich zu früheren Annahmen (10 bzw. 13 von 10000 Personen laut Studien von 1988, 116 Personen von 10000 Personen laut einer Studie von 2006) ist auch bei autismus-kultur.de16 die Rede.
Ähnliche Angaben liefern auch die Seiten von neuologen-und-psychiater-im-netz.de17 (früher 4 bis 5 von 10000, heute etwa 1
Prozent, also 100 von 10000).
Doch damit nicht genug! Wikipedia setzt sogar noch eins drauf:
„[...]Eine Analyse von 11.091 Interviews von 2014 durch das National Center for Health Statistics der USA ergab eine Häufigkeit (Lebenszeitprävalenz) des ASS von 2,24 % in der Altersgruppe 3-17 Jahre, 3,29 % bei Jungen und 1,15 % bei Mädchen.[...]" 18
Von 1 von 10000 bis 2,24 von 100 ist alles dabei. Wäre der zweite Wert zutreffend, fänden sich unter 10000 Menschen immerhin 224 Autisten, mindestens 223 davon würden bei Zugrundelegung des ersten Wertes jedoch als nichtautistisch eingestuft. In Anbetracht dieser enormen Streuung, nimmt es kaum Wunder, dass die Erforschung der Ursachen des Phänomens Autismus noch nicht sonderlich weit fortgeschritten ist. Wie soll man etwas ergründen, von dem so unklar ist, wie weit es nun tatsächlich verbreitet ist?
In einem aber sind sich alle Quellen, die ich bisher zu diesem Thema angezapft habe, einig. Autismus kommt bei Jungen/Männern häufiger vor als bei Mädchen/Frauen. Dazu nochmal Wikipedia:
„[...]Eine Übersicht von 2015 zeigte, dass die Zahlen zur Geschlechterverteilung wegen methodischer Schwierigkeiten stark variierten. Das Verhältnis männlich-weiblich betrage jedoch mindestens 2:1 bis 3:1, was auf einen biologischen Faktor in dieser Frage hindeute. [...]“ 19
Dem Thema Geschlechterverteilung und Autismus widmet sich auch ein Eintrag bei autismus-verstehen.de. Darin wird mit Verweis auf neuere Schätzungen das Verhältnis männlicher/weiblicher Autisten wie folgt angegeben:
„[...]Verhältnis 6-8 Jungen : 1 Mädchen; „wahre“ Verteilung eher bei 4:1 oder gar 2,5:1?[...]“20
Fazit:
- Jungen/Männer sind allem Anschein nach häufiger von Autismus betroffen als Mädchen/Frauen wobei der Unterschied kleiner zu werden scheint
- Autismus wird heute generell häufiger diagnostiziert als früher
Sind dies nun aber unumstürzliche Beweise oder nur Momentaufnahmen, die nur den gegenwärtigen Stand der Forschung wiedergeben und somit Interpretationsspielräume offenlassen? Möglich wäre zum Beispiel, dass sich Autismus bei Vertretern des weiblichen Geschlechts nur anders – weniger offensichtlich – äußert. Möglich auch, dass der Anstieg der Diagnosen nicht unbedingt 1:1 mit einem möglichen Anstieg dieser sogenannten Störung einhergeht. Und vor allem: was ist die Ursache? Wann und wie entsteht Autismus überhaupt – Prozess oder eher Ereignis, vor- oder nachgeburtlich oder sowohl als auch? Steile Thesen gibt es zuhauf: Impfungen im Kleinkindesalter (Masern-Röteln-Mumps) wurden und werden ebenso diskutiert wie die mangelnde Zuwendung, die bei Kindern von Kühlschrankeltern zur Herausbildung der typischen Verhaltensweisen führen. Könnten sogar Geschehnisse, die sich weit vor der Geburt eines Menschen ereigneten, als Ursache dafür infrage kommen, dass eben dieser Mensch Autist ist? Tritt Autismus doch häufiger auf als früher und ist die erhöhte radioaktive Belastung infolge der Atombombentests die Ursache davon? Tatsächlich gibt es Überlegungen, die in diese Richtung gehen.21
Warum wird Autismus unter Vertretern des männlichen Geschlechts öfter diagnostiziert und warum scheint heute der Anteil weiblicher Autisten höher zu liegen als noch vor einigen Jahren? Dazu hätte ich auch eine steile These anzubieten: Eine mögliche Antwort könnte sein, dass Autismus überhaupt nicht oder kaum häufiger auftritt als früher, sondern dass sich die Kriterien verschoben haben, oder anders ausgedrückt, dass der Abstand vom Durchschnitt, ab dem jemand als Autist eingestuft wird, kleiner geworden ist. Vielleicht sind Jungs von Haus aus einen Tick autistischer als Mädchen, etwa wie in folgender Graphik dargestellt.
Nun stellt sich die Frage, wo man die Grenze zieht, ab der ein Mensch als Autist eingestuft wird. Je strenger die Kriterien, desto größer ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern. In der nächsten Graphik symbolisiert die gestrichelte Linie die Grenze, ab der Autismus diagnostiziert wird, alle rechts davon liegenden Personen wären davon betroffen.
Das könnte etwa einem Verhältnis von 4:1 entsprechen.
Sollten nun, aus welchen Gründen auch immer, veränderte Kriterien eingeführt werden, verschiebt sich automatisch auch das Verhältnis (m/w):
Nun wären fast die Hälfte der Männer, aber auch eine stattliche Zahl an Frauen von Autismus betroffen, das Verhältnis dürfte irgendwo bei 2:1 liegen.
Würde man spaßeshalber die Kriterien so definieren, dass die meisten Menschen von Autismus betroffen wären, ergäbe sich etwa folgende Darstellung:
Plötzlich wären die meisten Frauen und fast alle Männer Autisten, was einem Verhältnis von 1:1 schon recht nahe kommt.
Sie glauben, solch krasse Diagnosekriterien könnten niemals eingeführt werden? Okay, ganz so extreme vielleicht nicht, aber unterschätzen Sie die wirtschaftlichen Interessen, die hinter Diagnosen im allgemeinen stecken können, nicht. Kennen Sie Ihren Cholesterinspiegel? Ist er vielleicht zu hoch? Dann teilen Sie dieses Schicksal mit der überwältigenden Mehrheit ihrer Zeitgenossen. Hier wurden die Kriterien so definiert, dass etwa 80 Prozent aller Deutschen im Alter zwischen 35 und 65 einen "zu hohen" Cholesterinspiegel aufweisen. Dem Absatz cholesterinsenkender Präparate dürfte dieser Umstand jedenfalls nicht schaden.22
Eine häufig hervorgebrachte These ist die, dass Autisten einfach nur extrem männliche Gehirne haben. Auf den Internetseiten von pharmazeutische-zeitung.de wird diesbezüglich auf die Studien von Simon Baron-Cohen und seinem Team hingewiesen, deren Ergebnisse in diese Richtung zu deuten scheinen.23
Bei aponet.de24 finden sich ebenfalls Hinweise auf Studien, die auf eine Vermännlichung der Gehirne von Autistinnen hinweisen. Bei männlichen Autisten konnte demzufolge aber keine Veränderung der Gehirnanatomie festgestellt werden. Als weiteres interessantes Ergebnis ist zu erwähnen, dass sich Autismus bei Frauen auf andere Gehirnregionen auswirkt als bei Männern. Demnach könne es nicht ausschließlich ein extrem männliches Gehirn sein, dass bei dessen Träger oder Trägerin mit autistischen Verhaltensweisen einhergeht.
Ungeachtet der angeführten Forschungsergebnisse und deren Interpretationen hat die These, dass Autisten einfach nur extrem männliche Gehirne haben, einen Haken: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Autismus und Epilepsie. In ihrem Buch Welcome to your brain25 schreiben die Autoren Sandra Aamodt und Samuel Wang, dass der Anteil von Autisten, die auch unter Epilepsie leiden, bei 30 Prozent liegt, während in der Gesamtbevölkerung nur ein Prozent an dieser Erkrankung leiden. Desweiteren beschreiben die Autoren Epilepsie als eine Erkrankung der Erregbarkeit des Gehirns, die auftritt, wenn das Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung gestört ist.
Auch bezüglich der Häufung von Epilepsie unter Autisten variieren die Angaben von Quelle zu Quelle. Bei epikurier.de26 wird sie mit bis zu 15 bis 20 Prozent, bei autismus-kultur.de27 und Christian Schanze28 mit 5 bis 40 Prozent beziffert.
Sollten Autisten einfach nur extrem männliche Gehirne haben, so müssten Männer eigentlich viel häufiger unter Epilepsie leiden als Frauen, was jedoch offenkundig nicht der Fall ist.
Zwillingsstudien - des Rätsels Lösung?
Einen vielversprechenden Ansatz, der uns der Lösung des Rätsels ein gutes Stück näher zu bringen verspricht, sind Studien an Zwillingen. Aamodt und Wang29...