1. Artikel 146 des Grundgesetzes für die BRD
Unbestritten aber häufig ignoriert: Das Grundgesetz für die (alte) Bundesrepublik Deutschland wurde vom Parlamentarischen Rat im Jahre 1949 als Provisorium entwickelt und schließlich am 23.Mai 1949 mit Zustimmung der West-Alliierten verabschiedet.
Carlo Schmid betonte bereits am 1. Juli 1948, dass alles was mit diesem „Organisationsstatut“, zu schaffen war, „den Charakter eines Provisoriums haben“ mußte, solange „nicht das ganze Volk die Möglichkeit habe, gemeinsam den Staat aller Deutschen zu errichten. Heute können wir kein endgültiges ‚Deutsches Haus ´ bauen, sondern nur ein Notdach, das uns für die Zeit des Übergangs Schutz gewährt… Die Ministerpräsidenten stimmten meinen Überlegungen weitgehend zu, wonach nicht die Verfassung für einen Staat in Westdeutschland geschaffen werden dürfe, sondern lediglich ein Organisationsstatut für die drei Zonen umfassendes Verwaltungsgebiet Westdeutschland. Dieses Organisationsstatut solle den Namen ‚Grundgesetz´ erhalten und nicht von einer ‚Verfassungsgebenden Versammlung´ beschlossen werden, sondern von einem von den Landtagen der Länder zu beschickenden ‚Parlamentarischen Rat´. Das Besatzungsstatut, das die Alliierten planen, müsse schon vor Einberufung dieses Parlamentarischen Rates in Kraft gesetzt werden… “1
Bekanntlich fanden diese Grundaussagen ihren Niederschlag im Artikel 146 des GG 1949 der ursprünglich lautete: (Geltungsdauer des Grundgesetzes)
„Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Der „Alternativkommentar“2 bezeichnet diesen Artikel 146, als die Bereitschaft der BRD zur Selbstaufgabe. Unter Hinweis auf die Möglichkeit des Beitritts gemäß Art. 23 Satz 2 (alt) bietet der Art. 146 einen weiteren Weg, unter den im Art. 146 angegebenen Bedingungen um zu einer gesamtdeutschen Verfassung zu gelangen.3
Diese Formel von der „Bereitschaft zur Selbstaufgabe“ mit der Vorbedingung zu verknüpfen, dass das ganze deutsche Volk über eine Verfassung zu entscheiden hätte, ohne etwas zur inhaltlichen Gestaltung und den Weg dahin auszusagen, halte ich aus heutiger Sicht geradezu für töricht.4 Unabhängig davon, muß aber der Art. 146 GG für die BRD das Ziel, der Schaffung einer Gesamtdeutschen Verfassung, perspektivisch beachtet bleiben.
Dem provisorischen „Charakter des Grundgesetzes stehen der Inanspruchnahme des Art. 23 für die Vereinigung nicht entgegen. Andererseits schließt dieser Artikel nicht zwingend die spätere Erarbeitung einen neuen Verfassung nach der Herstellung der staatlichen Einheit aus; er macht eine solche Ablösung aber nicht erforderlich und läßt damit die definitive Beibehaltung des GG zu“, heißt es in einer Aufzeichnung des Bundesinnenministeriums vom 27.Februar 1990. 5 An anderer Stelle heißt es: Die „Vollendung der Einheit Deutschlands“ nach Artikel 146 GG für die BRD „greift auf das Selbstbestimmungsrecht des gesamten Staatsvolkes des fortbestehenden Deutschen Reichs zurück.“6
Für den Weg nach Artikel 146 könnte nach Ansicht des Bundesinnenministeriums sprechen:
- Eine Akzeptanzerhöhung einer Verfassung;
- „die Einbringung eines in demokratischer Legitimation bestätigten freiheitlichen Ideengutes der friedlichen DDR-Revolution in einen neuen Verfassungstext.“7
Als gegenteilige Gründe werden im Wesentlichen Zeitfaktoren, die für den künftigen Verfassungsinhalt, lange Wartezeit bis zur Verabschiedung, Rolle der Alliierten bei der Verabschiedung (!) benannt. Schließlich wird „ein wesentlich längerer Abschluß des Wiedervereinigsprozesses dabei Gefahr des Verlust der für den Einigungungsprozeß günstigen Eigendynamik“ prognostiziert.
Nach fast 25 Jahren des Anschlusses der DDR an die BRD muß festgestellt werden, dass diese Prognose nicht zutraf, wie vieles nicht. In diesem Zeitraum wäre es möglich und machbar gewesen, eine Gesamtdeutsche Verfassung unter den Bedingungen des Artikels 146 GG für die BRD zu erarbeiten.
Für den Anschluss lieferte der BRD-Verhandlungsführer Wolfgang Schäuble zum Einigungsvertrag die „glaubhafteste Begründung“, indem er in internen Ost-CDU-Kreis bemerkte:
„Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundespublik, nicht um die umgekehrte Veranstaltung. Wir haben ein gutes Grundgesetz, das sich bewährt hat. Wir tun alles für euch. Ihr seid herzlich willkommen. Wir wollen nicht kaltschnäuzig über eure Wünsche und Interessen hinweggehen. Aber hier findet nicht die Vereinigung gleicher Staaten statt. Wir fangen nicht ganz vorn bei gleichberechtigten Ausgangspositionen an. Es gibt das Grundgesetz, und es gibt die Bundesrepublik Deutschland. Laßt uns von der Voraussetzung ausgehen, daß ihr vierzig Jahre lang von beiden ausgeschlossen wart. Jetzt habt ihr einen Anspruch auf Teilnahme, und wir nehmen darauf Rücksicht.“8
Eingedenk dieser Schäuble‘schen Anschlussbegründung gehe ich davon aus, dass über den Art. 146 GG im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Anschlussprotokolls, Einigungsvertrag genannt, wenn überhaupt, fast ausschließlich darüber debattiert wurde, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland möglichst in seiner Grundsubstanz unangetastet zu lassen.9
Lothar de Maiziere, letzter Ministerpräsident der DDR führt aus, dass noch vor seiner Regierungserklärung am 19. April 1990 zwei hochrangige Regierungsbeamte aus Bonn bei ihm auftauchten, „um bestimmte Passagen im Entwurf meiner Rede, wie sie meinten, zu glätten. Mir missfiel diese zensierende und belehrende Art. Ich betonte, dass ich wohl bereit sei, mir abweichende Standpunkte anzuhören, nicht jedoch, mir diese vorschreiben zu lassen“10
Unverzüglich nach Abschluß des Einigungsvertrages wurde das GG für die BRD zum sechsunddreißigsten Mal, am 23. September 1990 in seiner Präambel, im Artikel 146 und weiteren vier Artikeln, geändert.
Der hier interessierende Art. 146 erhielt folgende Fassung (Stand: November 2012): (Geltungsdauer des Grundgesetzes)
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Im Handwörterbuch zur deutschen Einheit wird diese neue Variante des Artikels 146 von Georg Ress als „in einer seinem spezifisch wiedervereinigungsbezogenen Ansatz entkleideten Form“ gedeutet.12 „In welcher Form eine Verfassungsgebung im Sinne des Artikels 146 stattzufinden hat, normiert der Artikel nicht… Das Grundgesetz …legitimiert jedoch nur den Weg einer Willensbildung, der einen `gewissen Mindeststandard freiheitlich-demokratischer Garantien beim Zustandekommen der neuen gesamtdeutschen Verfassung´ gewährleistet.13
Die hervorgehobenen unbestimmten Rechtsbegriffe Vollendung der Einheit und Freiheit, die gleichzeitig die Änd...