1. Vorgeschichte
1.1 Die Einführung der Kernphysik an der ETH in Zürich
Die 1930er Jahre waren durch eine stürmische Entwicklung der Physik des Atomkerns gekennzeichnet. Die Entdeckung des Neutrons (die Fachausdrücke sind im Glossar im Anhang erklärt) durch James Chadwick im Jahr 1932 und die erstmalige Herstellung radioaktiver Isotope durch Frédéric und Irène Joliot-Curie 1933 führten zum Modell eines aus Neutronen und Protonen zusammengesetzten Kerns, auf dem eine systematische Forschung aufgebaut werden konnte. Paul Scherrer, der damals das Physikalische Instituts der ETH leitete, war von der neuen Forschungsrichtung fasziniert. Er erkannte schon früh ihre Zukunftsmöglichkeiten und beschloss, sie an seinem Institut einzuführen. Mit diesem Entscheid begann an der ETH eine in Europa herausragende Weiterentwicklung der Kernphysik.
Die kernphysikalischen Experimente folgten alle dem Schema, dass bestimmte Materialien mit schnellen Teilchen – zum Beispiel Protonen oder Deuteronen (schwere Wasserstoffkerne) – beschossen wurden. Die meist positiv geladenen Projektile mussten auf eine genügend hohe Energie beschleunigt werden, sodass sie trotz der elektrostatischen Abstossung mit den ebenfalls positiv geladenen Atomkernen kollidieren und dabei eine Reaktion auslösen konnten. Die Untersuchung der Reaktionen und ihrer Produkte ermöglichte es, neue Erkenntnisse in der Kernphysik zu gewinnen.
Instrumente für die kernphysikalische Forschung waren also Teilchenbeschleuniger. Diese waren im wesentlichen Hochspannungsgeneratoren. Sie errichteten ein starkes elektrisches Feld, welches geladene Teilchen beschleunigte. Das Mass für die dabei erzielte Teilchenenergie war das Elektronenvolt (siehe Glossar).
Im Lauf der Jahre baute die ETH verschiedene derartige Einrichtungen. Die Erfahrungen zeigten bald, dass mit zunehmender Energie der Projektile mehr und komplexere Kernreaktionen erzeugt wurden, die wiederum mehr auszuwertende Informationen hergaben. Anfänglich erbrachten die Beschleuniger noch keine hohen Teilchenenergien. An der ETH war ab 1936 ein sogenanntes Kanalstrahlrohr im Gebrauch, welches bis zu 140 Kilovolt erzeugte. 1938 baute Hermann Wäffler auf Anregung von Paul Scherrer, der für die nötigen Mittel sorgte, im Physikgebäude an der Gloriastrasse auf zwei Stockwerken einen Bandgenerator nach van de Graaff, den er 1940 in Betrieb nehmen konnte. Dieser lieferte eine Beschleunigungsspannung von 800 Kilovolt. Wäffler und seine Kollegen nützten diese Anlage zehn Jahre lang vor allem für Messungen des Kern-Photoeffekts.
Die Landesausstellung von 1939 veranlasste das Physikalische Institut der ETH zusammen mit der Zürcher Firma Micafil, eine Anlage zur Erzeugung einer Hochspannung mittels Gleichstrom herzustellen, den sogenannten Tensator (Bild 1). Dieser beruhte auf dem Prinzip von Cockroft und Walton und benützte die vom Schweizer Physiker Heinrich Greinacher entwickelte Schaltung für die Spannungsvervielfachung. Er wurde an der „Landi“ ausgestellt und anschliessend in einer der von früheren Versuchen verbliebenen Kavernen beim Physikgebäude untergebracht. Federführend bei dieser Maschine war Werner Zünti. Der Tensator erreichte eine Spannung von rund 700 Kilovolt und wurde bis in die 1960er Jahre vor allem als Neutronengenerator verwendet.
Bild 1: Micafil-Tensator an der ETH
Bei den erwähnten Anlagen ging es um die Beschleunigung von Teilchen mit einer konstanten hohen Gleichspannung. Starteten die Teilchen bei Null, wurden sie durch die Hochspannung direkt beschleunigt und verliessen die Beschleunigerstrecke mit der gewünschten Energie. Mit den vorhandenen technischen Möglichkeiten für die Hochspannung erreichten die Physiker in den 1930er Jahren mit 3 Megavolt eine vorläufige obere Grenze.
In den USA beschritt Ernest O. Lawrence, zusammen mit seinem Mitarbeiter M. Stanley Livingston, für die Erzeugung noch höherer Energien einen neuen Weg. Er baute anfangs der 1930er Jahre an der Universität Berkeley, Kalifornien, das erste Zyklotron. Mit der Weiterentwicklung der ersten Maschine erreichte er für Deuteronen bereits Energien von 6.3 MeV. Dies eröffnete weltweit neue Forschungsmöglichkeiten. Lawrence stellte damit viele zuvor unbekannte radioaktive Isotope der bekannten Elemente und zum Teil sogar vollkommen neue Elemente her. Mit einem noch leistungsfähigeren Zyklotron konnte er 1941 erstmals die aus der kosmischen Strahlung bekannten Mesonen erzeugen. Später beschäftigte er sich mit medizinischen und biologischen Anwendungen des Zyklotrons.
Bild 2: M. Stanley Livingston und Ernest O. Lawrence vor dem 27-Inch-Zyklotron am alten Radiation Laboratory der Universität Berkeley, Kalifornien, 1934
Lawrence war auf die Idee des Zyklotrons gekommen, nachdem er die 1928 publizierte Arbeit von Rolf Wideröe über einen Linearbeschleuniger gelesen hatte. Er realisierte, dass in einem homogenen Magnetfeld die Umlauffrequenz der Teilchen unabhängig ist von ihrer Energie (Isochronie). Damit können mit einer konstanten Frequenz der Hochspannung kontinuierlich alle Teilchen beschleunigt werden, die gleichzeitig durch die Beschleunigungsstrecke fliegen, unabhängig von ihrer radialen Position. Dies führt zu einem kontinuierlichen Strahl und damit zu einer viel grösseren Intensität als bei einem gepulsten Strahl wie z.B. beim später entwickelten Synchrotron.
Das neue Beschleunigerprinzip fand weltweit grosses Interesse. In Europa begannen Ende der 1930er Jahre verschiedene Institute mit dem Bau von Zyklotronen. Auch Paul Scherrer, der derartige Entwicklungen mit wachem Interesse verfolgte, wünschte ein solches Instrument für die ETH.
Die Hauptkomponenten des Zyklotrons, nämlich ein grosser Elektromagnet und ein starker Hochfrequenzsender, waren teuer. Ihre Herstellung erforderte zudem Professionalität, was einen Eigenbau ausschloss. Ausserdem konnte eine derartige Anlage wegen des Strahlenschutzes nicht in bestehenden Institutsräumen untergebracht werden, sondern brauchte ein eigenes Gebäude.
Das Zyklotron
Das klassische Zyklotron besteht aus einem grossen Elektromagneten, zwischen dessen Polen sich eine flache, runde Vakuumkammer befindet. Im Innern der Kammer hängen zwei hohle, halbkreisförmige Metallkammern, die wegen ihrer D-ähnlichen Form „Dee“ oder Duanden genannt werden. Zwischen den Kammern befindet sich der Beschleunigungsspalt. Am äusseren Rand der Kammer ist ein Ablenkkondensator (Septum) angebracht, der zur Herausführung (Extraktion) des Teilchenstrahls in Richtung auf ein bestimmtes Ziel dient.
Die Ionen – beispielsweise Protonen – werden mit geringer Energie aus ihrer Quelle in eine der Kammern injiziert. Das Magnetfeld leitet sie auf eine kreisförmige Bahn. Da die Ionen bei jeder Durchquerung des Spalts beschleunigt werden, nimmt ihr Bahnradius im Magnetfeld zu. Daraus resultiert eine spiralförmige Bahn, die vom Zentrum bis zum äusseren Rand führt. Das elektrische Feld im Spalt wird durch eine hochfrequente Wechselspannung von Grössenordnung 100’000 Volt erzeugt. Die Frequenz der Hochspannung muss der Bahnumlauffrequenz der Ionen oder einem Vielfachen entsprechen, damit diese beim Durchlaufen des Spalts immer mit der passenden Phase der Hochfrequenz übereinstimmen und somit beschleunigt (statt gebremst) werden.
Pro Umlauf werden beim klassischen Zyklotron somit jeweils zwei Beschleunigungsstrecken wirksam. Wegen der Mehrfachnutzung der Beschleunigungsstrecken sind Kreisbeschleuniger (Zyklotrone, Synchrotrone) effizienter als Linearbeschleuniger und zudem viel kompakter.
Bild 3: Schema eines Zyklotrons (Aufsicht auf die Mittelebene) mit den zum Rand hin abnehmenden Abständen zwischen den Teilchenbahnen sowie der Extraktion des Strahls mittels eines gekrümmten Plattenkondensators.
Wie Hermann Wäffler in seiner Geschichte über die Kernphysik an der ETH schreibt, waren die Voraussetzungen günstig, um anfangs der 1940er Jahre ein derartiges Grossprojekt zu starten. Mittlerweile waren im Beschleunigerbau Erfahrungen gesammelt worden, welche die Aussichten auf eine Lösung der mit dem Projekt verbundenen technischen Probleme erhöhten. Zudem hatte die ETH die Anstellungsbedingungen am Physikalischen Institut verbessert, und da der inzwischen ausgebrochene Krieg eine wissenschaftliche Karriere im Ausland auf unbestimmte Zeit verunmöglichte, waren junge Physiker bereit, sich auf längere Zeit für den Bau eines ETH-Zyklotrons zu engagieren
Allerdings fehlten die Mittel für das Projekt. Scherrer beschloss daher, durch eine Reihe von Vorträgen Persönlichkeiten aus der Wirtschaft als Donatoren zu gewinnen. Der Erfolg war dank Scherrers hoch entwickelter Kunst der allgemein verständlichen Darstellung physikalischer Vorgänge überwältigend. Das Institut erhielt namhafte Zuwendungen für den Fonds zum Bau des Zyklotrons. Walter Boveri, der Delegierte des Verwaltungsrats der BBC, ein Freund und Gönner von Scherrer, unterstützte das Projekt tatkräftig: Die Firma übernahm den Bau des Hochfrequenzsenders und stellte zudem Fachpersonal zum Aufbau der Anlage am Institut zur Verfügung. Die Maschinenfabrik Oerlikon führte Konstruktion und Bau des 40 Tonnen schweren Elektromagneten durch.
Die meisten übrigen Komponenten konnten am Physikalischen Institut entworfen und gefertigt werden, wobei zum Teil neue Wege beschritten wurden. Federführend waren dabei die Doktoranden Peter Preiswerk, Pierre Marmier und Jean-Pierre Blaser. Die ETH finanzierte den Bau des Zyklotrongebäudes. Dieses bestand aus einem quadratischen Raum von 240 Quadratmetern Grundfläche und drei Metern Innenhöhe. Des Strahlenschutzes wegen wurde es drei Meter tief ins Erdreich eingelassen und durch einen unterirdischen Gang mit dem Institutsgebäude verbunden.
Bild 4: Das ETH-Zyklotron
Das ETH-Zyklotron (Bild 4) ermöglichte Kernreaktionen mit Protonen und Deuteronen und war für eine Energie von 15 MeV projektiert. Bei der Inbetriebnahme zeigte sich ein unerwarteter und nicht verstandener Effekt. Der Umlaufsinn der Teilchen in der Zyklotronkammer hätte symmetrisch sein und somit beide Richtungen erlauben sollen. Er war jedoch asymmetrisch und entsprach nicht der Konstruktion der Maschine, sodass sich der Strahl nicht auslenken liess. Vorerst konnten nur Proben im Innern der Kammer bestrahlt werden. Da es nicht gelang, diese Asymmetrie zu verstehen und zu beseitigen – damals gab es noch keine Computer! –, mussten die Physiker die Anlage umbauen, indem sie die Zyklotronkammer wendeten. Hierauf liess sich der Teilchenstrahl extrahieren.
Das ETH-Zyklotron diente von 1944 bis 1964 ausschliesslich der Beschleunigung von Protonen. Es zeigte sich nämlich, dass die bei Protonenreaktionen auftretenden Phänomene zu so vielseitigen und interessanten Fragestellungen Anlass gaben, dass die Zyklotron-Arbeitsgruppen damit voll ausgelastet waren.
Als sich die Nutzungsmöglichkeiten des ETH-Zyklotrons langsam erschöpften, war die Zeit gekommen, um sich über eine leistungsfähigere kernphysikalische Anlage Gedanken zu machen. Zu diesem Zweck gründete Scherrer eine Zyklotronplanungsgruppe (siehe Abschnitt 2.1).
1.2 Der Schritt zur Hochenergiephysik: Die Gründung des CERN in Genf
Die Forschungsergebnisse der 1930er und 1940er Jahre in der Kernphysik ermutigten die Physiker, die Energie der beschleunigten Teilchen um Grössenordnungen zu steigern. Dieser Trend zur Hochenergiephysik ging übrigens, wie damals alle derartigen Entwicklungen, von den USA aus. Er brachte es mit sich, dass die Teilchenbeschleuniger immer grösser und technisch komplexer wurden. Nicht nur ihr Bau, sondern auch ihr späterer Betrieb wurden aufwendiger und stellten zunehmend professionelle Anforderungen. Diese überstiegen das Niveau von einzelnen Hochschulinstituten. Verschiedene Länder gründeten zu diesem Zweck daher nationale Forschungsinstitute. Für die Teilchenphysik bei höchsten Energien mit sehr grossen und teuren Maschinen zeichnete sich gar ein internationales Zusammengehen als sinnvoll ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Wissenschaft im meist kriegsversehrten Europa nicht mehr an der Weltspitze. Eine Anzahl von bekannten europäischen Wissenschaftern aus dem Bereich der Atom- und Kernphysik – darunter Louis de Broglie, Pierre Auger und Lew Kowarksi in Frankreich, Edoardo Amaldi in Italien und Niels Bohr in Dänemark – ergriffen daher die Initiative zur Gründung einer europäischen Organisation für Forschung in Kernphysik. Mit einem europäischen Forschungslabor würde einerseits die Zusammenarbeit zwischen den Forschern verschiedener Länder gefördert, und anderseits würden die Kosten der immer teureren kernphysikalischen Apparaturen gemeinsam getragen.
Im Rahmen einer UNESCO-Konferenz von 1951 in Paris unterzeichneten elf europäische Länder ein Abkommen zur Gründung eines „Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire“ (CERN). Der Rat nahm seine Planungsarbeit auf. Bereits an der dritten Sitzung (Bild 5) – die übrigens von ...