1 STALINS SIEGESARRANGEMENT ZUM 9. MAI 1945 UND ERSTE KOMMENTIERUNG DER TEILUNGEN
Am 9. Mai 1945 hielt Stalin eine Ansprache an das Volk. Es war eine kurze Siegeserklärung. Die wichtigste Passage lautet:
„Die großen Opfer, die wir für die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Heimatlandes gebracht haben, die unermesslichen Entbehrungen und Leiden, die unser Volk während des Krieges zu erdulden hatte, die auf dem Altar des Vaterlandes dargebrachte angespannte Arbeit im Hinterland und an der Front sind nicht vergeblich gewesen, sondern durch den vollen Sieg über den Feind gekrönt worden. Der jahrhundertelange Kampf der slawischen Völker um ihre Existenz und Unabhängigkeit hat mit dem Sieg über die deutschen Okkupanten und die deutsche Tyrannei geendet.
Von nun an wird das große Banner der Völkerfreiheit und des Völkerfriedens über Europa wehen.
Vor drei Jahren verkündete Hitler vor aller Welt, dass die Zerstückelung der Sowjetunion, die Losreißung des Kaukasus, der Ukraine, Bjelorußlands, der baltischen Länder und anderer Sowjetgebiete zu seiner Aufgabe gehört. Er erklärte unumwunden: ‚Wir werden Rußland vernichten, dass es sich niemals mehr erheben kann.‘ Das war vor drei Jahren. Die wahnwitzigen Ideen Hitlers sollten jedoch nicht in Erfüllung gehen – im Verlaufe des Krieges sind sie wie Spreu im Winde verweht. Was in Wirklichkeit herauskam, ist das gerade Gegenteil dessen, wovon die Hitlerleute faselten. Deutschland ist aufs Haupt geschlagen. Die deutschen Truppen kapitulieren. Die Sowjetunion feiert den Sieg, wenn sie sich auch nicht anschickt, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten.“2
In dieser Ansprache hat zwar der letzte Satz zu allerhand Spekulationen in der Forschung Anlass gegeben,3 aber ein anderer, der größere Aufmerksamkeit verdient hätte, ist übergangen worden und hat, soweit das zu überblicken ist, nur bei GOLO MANN Beachtung gefunden, als er 1966 seine „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ von 1958 um ein völligneu geschriebenes 12. Kapitel über Deutschland nach 1945 und die deutsche Teilung erweiterte und im Fischer-Verlag veröffentlichte. Er bezieht sich darin auf Stalins Aussage über den „jahrhundertelange[n] Kampf der slawischen Völker um ihre Existenz und Unabhängigkeit“4 und hält damit die „Potsdamer Beschlüsse“ vom 2. August 1945 für irreversibel. Die neuen Grenzen, so folgert er, konnten dauerhaft sein, „so sehr sie den ‚Fernen Ursprüngen‘ der Geschichte von 500 Jahren widersprachen“.5 Er geht in diesem Zusammenhang auch auf die Oder-Neiße-Linie ein, die von polnischer Seite deren „wiedergewonnene Gebiete“ westlich begrenzte. Die dafür vorgebrachten historischen Argumente hält er für „närrisch“. Zusammenfassend hält er fest, dass der „Traum der Achtundvierziger6, der Traum von der ‚imperialen Mission‘, der überspannte Bogen zerrissen“ sei. „Ein furchtbarer Gegenschlag hatte die getroffen, die sich zu Herren über Osteuropa hatten machen wollen. Keine komplizierten Grenzstreitereien mehr wie 1919, keine Volksabstimmungen, kein Schutz von ‚Minderheiten‘, sie hatten zu verschwinden.“7
GOLO MANN hätte schon das sogenannte Londoner Zonenprotokoll vom 12. September 1944 und die späteren Fassungen gekannt haben können.8 Es hatte mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde zwischen 7. und 9. Mai 1945 Verbindlichkeit erlangt. Die Russen veröffentlichten es gegen alle Absprachen über die Geheimhaltung am 4. Juni 1945 wegen des Zusammentretens des alliierten Kontrollrates am 5. Juni in Berlin, um Druck auf die Amerikaner auszuüben, die am 25. April 1945, vierzehn Tage vor Kriegsende, mit ihren Truppen an der Elbe bei Torgau angekommen waren und sich im Juni noch in Thüringen und Sachsen aufhielten. Churchill war die Anwesenheit der Amerikaner in Mitteldeutschland zwar ganz gelegen, weil er den Sowjetrussen gegenüber gern ein Faustpfand für Verhandlungen in der Hand gehabt hätte und ihm offenbar an einem weiteren Vordringen der Russen in Mitteldeutschland nicht gelegen war.9 Die Amerikaner fühlten sich aber an die im Zonenprotokoll niedergelegten Vereinbarungen gebunden. So veröffentlichten auch die Londoner Times und die New York Times am 7. Juni 1945 mit einer genauen Kartenskizze das Zonenprotokoll, und die Amerikaner zogen sich Ende Juni 1945 aus Sachsen und Thüringen zurück, so dass die sowjetischen Truppen die geräumten Gebiete vereinbarungsgemäß in den ersten Julitagen 1945 ihrerseits besetzen konnten.10
Das Zonenprotokoll in der Fassung vom 12. September 1944 zeigt etwas Bemerkenswertes, dass nämlich außer der Westgrenze der künftigen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) noch keine Festlegungen vonseiten der Amerikaner und Briten getroffen waren,11 wem die Nordwestzone und wem die Südwestzone zugeteilt werden sollte. Eine Regelung darüber einschließlich der Beteiligung der Franzosen war weiteren Fassungen des Protokolls vorbehalten. Das heißt, dass zunächst nur die Sowjetunion genaue Vorstellungen von den Gebieten hatte, die sie auf der Grundlage der Reichsgrenzen von 1937 besetzen wollte:
„Das Territorium von Deutschland (einschließlich der Provinz Ostpreußen) gelegen östlich einer Linie, die gezogen wird von dem Punkt an der Lübecker Bucht, wo die Grenzen von Schleswig-Holstein und Mecklenburg sich treffen, entlang der westlichen Grenze von Mecklenburg zur Grenze der Provinz Hannover, von dort entlang der östlichen Grenze von Hannover zu der Grenze von Braunschweig, von dort entlang der westlichen Grenze der preußischen Provinz Sachsen zur westlichen Grenze von Anhalt, von dort entlang der westlichen Grenze Anhalt, von dort entlang der westlichen Grenze der preußischen Provinz Sachsen und der westlichen Grenze von Thüringen, bis wo die letztere die bayerische Grenze trifft, von dort ostwärts entlang der nördlichen Grenze von Bayern bis an die Grenze der Tschechoslowakei von 1937, wird von den Streitkräften der UdSSR besetzt werden, mit Ausnahme des Berlin-Gebietes, für das ein besonderes Besatzungssystem nachfolgend vorgesehen ist.“
Stalin hatte eine eigene Kommission unter Vorošilov einsetzen lassen, die im Kreml selbst zwischen September 1943 und Juni 1944 tagte. Es gab zwar noch weitere Kommissionen, aber nur die Ergebnisse der Vorošilov-Kommission wurden von ihm bestätigt. Aus dieser Kommission kam am 3. Februar 1944 der Vorschlag, die sowjetzonale Westgrenze in Schleswig-Holstein, und zwar in Heiligenhafen beginnen zu lassen und an Lübeck westlich vorbeizuführen: „(...) von Heiligenhafen (ausschließlich für die UdSSR) entlang der Mecklenburger Bucht bis Lübeck (ausschließlich für die UdSSR), weiter entlang der Westgrenze Mecklenburgs bis zur Elbe (...).“12
Die Briten widersprachen diesen Erwartungen, die für die Sowjetrussen einer Verankerung in Wagrien13, dem ehemaligen, um den Plöner See gelegenen nordwestlichsten Siedlungsgebiet der Slawen, entsprochen hätte, mit der Begründung, dass die von ihnen im Januar 1944 vorgelegte Karte irrtümlicherweise die Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg falsch wiedergegeben habe. Dem fügten sich die Russen und beschieden sich mit der mecklenburgischen Landesgrenze östlich von Lübeck am anderen Traveufer.
JOCHEN LAUFER kommentiert 2009 den am 12. September 1944 im Londoner Zonenprotokoll niedergelegten Besatzungszonenentwurf, der eine Wirkung von 45 Jahren haben sollte, als „Pax Sovietica“:
„Die Regierungen in Washington und London akzeptierten damit, dass 42 Prozent des Reichsgebietes allein durch die Rote Armee besetzt werden würde, noch bevor eine endgültige Regelung der gemeinsamen Besetzung Berlins erreicht war! Die Sowjetunion musste dafür keinerlei Zugeständnisse auf anderen Gebieten leisten. Die Pax Sovietica – die sowjetische Friedensordnung – gründete sich auf das 1944 gegebene und von den Beteiligten wahrgenommene militärische Kräfteverhältnis innerhalb der Anti-Hitler-Koalition.“ 14
Dass das militärische Kräfteverhältnis ausschlaggebend sein würde, erklärt zwar die Machtkonstellation der Sieger auf deutschem Boden, aber nicht, was Stalin in seiner Siegesansprache am 9. Mai 1945 an das russische Volk formulierte, als er, der Georgier aus dem Kaukasus, sich zum Wortführer der slawischen Völker und Sieger über die „deutschen Okkupanten und die deutsche Tyrannei“ stilisierte.
LAUFER spricht von 42 Prozent des Reichsgebietes in den Grenzen von 1937. Er hat offenbar keinen Zugang mehr zu den Kommentaren, wie sie in der Geschichtsschreibung der 1950er Jahre zu finden sind, in abgeschwächter, aber undeutlicher Form auch bei GOLO MANN, und kann auch nichts mit Stalins Aussage über den „jahrhundertelangen Kampf der slawischen Völker“ anfangen. Eine Prozentangabe des Verlusts hätte den damaligen deutschen Autoren ganz fern gelegen, weil sie in der Größe des Gebietsverlustes etwas ganz anderes wahrnahmen.
So schrieb etwa der aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrte HUBERTUS PRINZ ZU LÖWENSTEIN-WERTHEIM-FREUDENBERG in seiner „Kleinen Deutschen Geschichte“ (1953/21957) über die sowjetzonalen Grenzziehungen im Westen:
„Sie verlaufen heute ungefähr da, wo sie vor 1000 Jahren lagen, ehe König Heinrich I. den heidnischen Magyarensturm aus Asien an der Unstrut zum Stehen brachte – eine furchtbare Mahnung für alle Völker Europas, sich in letzter Stunde auf ihren gemeinsamen Auftrag zu besinnen.“15
Ein anderer bekannter Historiker aus der Schweiz, WALTHER HOFER, schrieb 1957 in der Schlussbetrachtung seiner über Jahrzehnte aufgelegten Dokumentensammlung zum Nationalsozialismus:
„Nicht nur ganz Deutschland und halb Europa lagen in Trümmern, sondern das Erbe Bismarcks, die Einheit des Reiches wurde vertan, das Werk der preußischen Könige vernichtet, ja eine vielhundertjährige geschichtliche Entwicklung, nämlich die deutsche Kolonisation im Osten, rückgängig gemacht, die Soldaten der Sowjetunion stehen an der Elbe […]. Das Dritte Reich ist kein tausendjähriges Reich geworden, aber die zwölf Jahre seines Bestehens haben genügt, die geschichtliche Arbeit von tausend Jahren zu verschleudern.“16
In diesen beiden Stellungnahmen fällt auf, dass sowohl LÖWENSTEIN als auch HOFER die Westgrenze der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone und späteren Deutschen Demokratischen Republik weniger als eine innerdeutsche, sondern vielmehr als eine zwischen dem kommunistischen Russland als der siegreichen slawischen Nation und (West-)Deutschland ansahen.
Ein weiterer Historiker, HEINRICH WOLFRUM, Professor in Göttingen, schrieb 1956 in pädagogischer Absicht über den deutschen Osten, wobei seine Sichtweise der eines aus dem Osten vertriebenen oder geflüchteten, auf jeden Fall mit ihm sehr verbundenen Deutschen entspricht:
„Vor über tausend Jahren wurde unser Kontinent schon einmal von einer schicksalhaften Grenzlinie ähnlich dem heutigen sog. Eisernen Vorhang durchzogen, in derselben Richtung und sogar fast in denselben Gebieten! Allerdings bedeutete sie damals nicht einen Schnitt mitten durch Herz und Gebiet unseres Volkes und auch Europas wie heute, sondern sie war d...