Adornos Kerngedanke
Die Dialektik der Aufklärung
Entscheidend für den Kerngedanken von Adorno war zweifellos die Erfahrung des Faschismus und des Holocaust. Bei seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in das völlig zerstörte Nachkriegsdeutschland beschäftigten Adorno deshalb zunächst zwei große Fragen. Erstens: Wie können wir verhindern, dass sich Ausschwitz und der Faschismus wiederholen?
Zweitens: Wie konnte es dazu kommen, dass nach Jahrhunderten der Aufklärung und des Humanismus gleich in drei europäischen Ländern – in Spanien, Italien und Deutschland – totalitäre Führer und Parteien an die Macht kamen?
Bereits im Exil hatte Adorno sozialpsychologische Forschungen unternommen, die er in Deutschland fortsetzte. Diese wurden unter dem Titel Studien zum autoritären Charakter publiziert. Das Ergebnis ließ aufhorchen: Zwei Drittel der Deutschen, so die Auswertung der Interviews, stehen auch nach der Erfahrung des Nationalsozialismus der Demokratie noch skeptisch gegenüber. Die Hälfte lehnt sogar jede Mitschuld an den Gräueltaten des Dritten Reiches ab. Und: ein Großteil der Befragten gab Antworten, die zumindest indirekt auf eine ausgeprägte Obrigkeitshörigkeit hindeuten.
Für Adorno waren diese empirischen Befunde jedoch nicht entscheidend. Sie zeigten nur Fakten, die er ohnehin vermutet hatte. Seine große philosophische Frage lautete: Wie konnte es nach Rousseau, Voltaire, Montesquieu, Leibniz, Kant, Hume, Locke und anderen Aufklärern noch einmal zu einer solchen Barbarei kommen?
Seine Antwort wurde zum Ausgangspunkt der gesamten Kritischen Theorie. Die Aufklärung und die moderne Wissenschaft, so Adorno, haben zwar die Menschen vom Aberglauben befreit, doch etablierten sie an seiner Stelle eine rein instrumentelle Welterklärung, die nicht minder gefährlich ist. Denn die rein technokratisch instrumentelle Welterklärung birgt die Gefahr, am Ende auch wieder in einen Irrationalismus umzuschlagen. Schuld daran ist die spezifische Ausrichtung der Forschung und Wissenschaft auf die unmittelbare Anwendbarkeit:
Machbarkeit ist das oberste Gebot der modernen Wissenschaft. Die Wissenschaftler, so Adorno, wollen die Welt und die Dinge nicht nur rational analysieren und verstehen, sondern immer auch kontrollieren. Mit jedem neu dazugewonnenen Wissen wird die Natur neu gestaltet, beherrscht und manipuliert. Damit hat die Wissenschaft automatisch etwas Diktatorisches an sich.
So war beispielsweise auch Darwins wissenschaftliche Entdeckung der Evolutionstheorie zunächst zwar ein aufklärerischer Akt der Befreiung vom biblischen Schöpfungsmythos. Doch schon bald wurde seine Entdeckung einer fatalen Anwendung und Machbarkeit zugeführt. Mit der Hypothese von der natürlichen Selektion im Tierreich hat Darwin, ohne dies wahrscheilich selbst intendiert zu haben, den Nährboden für die darauf folgende Selektionshypothese in der menschlichen Evolution geschaffen.
Bereits ein halbes Jahrhundert vor Hitler übertrug der britische Wissenschaftler Herbert Spencer die Lehre von der natürlichen Auslese auf die Menschheit und begründete den Sozialdarwinismus. Er prägte den Begriff vom „Survival of the fittest“ und erklärte den Kampf zwischen Völkern, Rassen und Nationen zu einem Natur-Prozess. Darwins „Natürliche Auslese“ war auf einmal nicht mehr nur ein Spiel der Natur von Mutation und Selektion, sondern wurde als gezielter Kampf der Rassen in den Bereich menschlicher Machbarkeit geholt. Während des Nationalsozialismus forschte dann ein ganzes Heer von Wissenschaftlern, Professoren, Ärzten und Genetikern an neu eingerichteten Lehrstühlen für Rassekunde. Sie sammelten anatomische Daten, angefangen von der Vermessung von Schädeln und Gesichtszügen bis hin zu Körpergröße, Hautpigmentierung und geistigen Fähigkeiten. Das Ergebnis ist bekannt.
Mit dem aufkommenden Rassenwahn schlug die ursprüngliche Rationalität der Wissenschaft endgültig in einen menschenverachtenden Irrationalismus um. Im Gefolge von Darwins noch rational begründeter Hypothese vom Ursprung der Arten und ihrer Entwicklung durch natürliche Selektion, erhebt sich nach und nach unter dem Deckmantel der Wissenschaft der irrationale Mythos vom genetisch höher stehenden Arier, der sich gegen alle andere Rassen durchsetzen wird:
Adorno zeigt diese Dialektik des Umschlagens von Wissenschaft in Mythos am Beispiel der Horde. Die Horde der Steinzeit und ihre Mitglieder fühlen sich durch mythologische Erzählungen und Symbole miteinander verbunden, indem sich beispielsweise alle mit einem gemeinsamen Totemtier identifizieren.
Die Mitglieder einer Horde der Neuzeit fühlen sich verbunden, weil die Wissenschaft ihnen rational erklärt, dass sie zur selben genetisch verwandten Spezies oder Volksgemeinschaft gehören. De facto aber unterscheiden sie sich nur wenig. Auch die Individuen der modernen Horde verfallen nämlich am Ende der Aufklärung wieder einem neuen Aberglauben – einem wissenschaftlichen Aberglauben. Dies ist aber nach Adorno kein bloßer Rückfall in die Barbarei, sondern hat eine eigene Qualität, die in der Logik der Aufklärung selbst zu suchen ist:
Die guten Vorsätze der Aufklärung, also in diesem Fall der Ruf nach Egalität, Entfaltung der Gleichheit und Brüderlichkeit werden hier von Adorno als Wegbereiter des Totalitarismus interpretiert. Sie konnten zusammen mit den Ergebnissen der Lehrstühle für Rassekunde sehr einfach als Basis der repressiven Gleichschaltung aller Bürger missbraucht werden. Denn wer das Regime kritisiert hat, hat die genetisch definierte egalitäre Horde verlassen und war damit automatisch ein Volksfeind, der sich außerhalb oder sogar über die egalitäre und brüderliche Volksgemeinschaft stellen wollte.
Aufklärung ist ursprünglich angetreten, um die Naturwüchsigkeit der Gesellschaft und den Naturzwang zu kritisieren und an ihrer Stelle die Kraft der Vernunft zu setzen. Doch stattdessen hat sie am Ende nur den mythologisch religiösen Naturzwang durch einen rational pseudowissenschaftlichen ersetzt:
Auch nach dem Faschismus und dem zweiten Weltkrieg haben Wissenschaft und Technik die Menschen letztlich nicht wirklich befreit, sondern in eine neue Maschinerie eingebunden. Inzwischen, so Adorno, halten viele den Kapitalismus sogar für ein naturwüchsiges System. So werden Profitinteressen und Egoismus von der Wissenschaft als notwendige Naturtriebe angesehen, die für Erfindergeist, Wirtschaftswachstum und die Erschließung von neuen Ressourcen unentbehrlich sind. Wissenschaftliche Bücher wie der Weltbestseller Das egoistische Gen erklären die Naturwüchsigkeit des globalen bürgerlichen Besitzindividualismus.
Hinzu kommt das Problem des „technologischen Schleiers“. Da unsere Welt zunehmend von Technik durchdrungen ist, legt sich ein Schleier über ihre ursprüngliche Funktion als bloßes Werkzeug. Sie bekommt ein Eigenleben.
Die technischen Hilfsmittel werden fetischiert und verleiten die Menschen zu Allmachtphantasien:
Letztlich, so Adorno, ist die Aufklärung und mit ihr die gesamte Technikentwicklung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Statt den Menschen zu befreien, hat sie ihn in neue bedrohliche Abhängigkeiten gebracht.
Die Selbstunterdrückung durch die Vernunft am Beispiel des Odysseus
Als Beispiel für diesen dialektischen Prozess führt Adorno den antiken Helden Odysseus an. Dieser verkörpert die Dialektik der Aufklärung sinnbildlich in seiner eigenen Person. Odysseus zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass er schlau und listig ist. Im Unterschied zu den anderen griechischen Helden, wie zum Beispiel Achilles oder Herkules, die ihrer Kraft und ihrem Mut vertrauen, setzt Odysseus ausschließlich auf seine Vernunft. Damit verkörpert er inmitten der mythischen Welt der Antike erstmals den modernen rationalen Typus und erweist sich, so Adorno, als
Odysseu...