TEIL II GEHEIMNISVOLLE WILDNIS
Kapitel 7: Weltweite Abenteuer
In meiner ersten kleinen farbigen Faltbroschüre für Abenteuerreisen hatte ich etwa ein Dutzend meist einwöchige Abenteuertouren im Angebot. Alle beinhalteten nur Ziele in Ecuador. Ausgangspunkt war mein bisheriger Wohnsitz Quito. Da war ich noch voll mit dem Fang und Versand von Wildtieren beschäftigt. Dennoch nahm ich mir Zeit, mit einigen Ausländern aus Europa und den USA, die von meiner neuen Tätigkeit erfahren hatten, die ersten Touren durchzuführen. Ich verdiente dabei und hatte großen Spaß, aber auch etliche Probleme. Einmal kam ich aus dem Dschungel der Jivaro-Indios zurück und fand im Haus nur meine beiden kleinen Söhne Markus und Richard sowie das Personal vor.
Ich fragte Marina, eines der Kindermädchen: „Wo ist meine Frau Jing?“ Marina: „Aber Senior Martin, sie ist doch im Krankenhaus.“ Ich: „Was heißt da Krankenhaus, sie war doch gesund, als ich mit einem Gast in den Urwald abreiste?“ Marina: „Sie hat doch ihr Kind geboren.“ Ich: „Blödsinn, sie ist im achten Monat schwanger, da fehlen noch einige Wochen bis zum berechneten Geburtstermin.“ Marina: „Es ist eine Frühgeburt mit Kaiserschnitt.“
Auch Markus und Richard kamen per Kaiserschnitt auf die Welt, da Jing eine zierliche schlanke Person war und eine natürliche Geburt nicht überleben konnte. Das fand ich natürlich erst heraus, als bei Markus die Wehen einsetzten. Beinahe wäre alles schiefgegangen. Hätte ich mit ihr in einer abgelegenen Gegend ohne Krankenhaus oder schnelle Transportmöglichkeit in eine größere Stadt gewohnt, wäre sie längst tot. Ich: „Hat sie alles gut überstanden und lebt das Baby?“ Marina: „Ja Senior Martin.“ Ich: „Was ist es denn nun, Mädchen oder Junge?“ Jing hatte nur Babykleider für ein Mädchen vorbereitet, auch schon einen Mädchennamen ausgesucht. Ich hatte aber auch einen Jungennamen parat. Marina: „Naturalmente un ninio“ (natürlich ein Bub).
Soll mir recht sein, dachte ich und legte mich erst mal schlafen, denn ich war nach dieser Urwaldtour furchtbar müde. Erst am nächsten Morgen fuhr ich ins Hospital, um Jing und Ramses, so sollte der Bub heißen, zu besuchen. Ich wurde sofort von allen Freunden und Angehörigen verspottet, weil mir der Urwald angeblich wichtiger wäre als die hochschwangere Ehefrau. Eigentlich sollte der Bub Edward Ramses heißen, aber noch lange nach der Geburt regten sich alle über den Namen Ramses auf. Diesen Ignoranten würde ich es zeigen und ließ die Geburtsurkunde berichtigen auf: Ramses Edward.
Rund ein Jahr nach der Geburt von Ramses war ich in München. Hier, sozusagen in der Mitte Europas, hatte ich für meine touristischen Pläne ein unternehmungslustiges, finanzkräftiges und weltoffenes Publikum. Ich musste nur die „Richtigen“ aus einem ergiebigen Markt herausfiltern. Der Reiseweltmeister Deutschland war dafür genau der richtige Standort. Hier war es gerade „in“, wenn junge Führungskräfte sich so einem Fitnessurlaub unterzogen und fortschrittlich, wenn Geografielehrer den Zenitalregen (und nicht Genitalregen wie das Korrekturprogramm meines Computers ihn schreiben will) aus eigener, am Amazonas erworbener, Praxis erklären konnten. Mit diesem unfreiwilligen Standortwechsel von Quito nach München tat sich für mich eine neue Dimension auf. Da alle Reisesparten wuchsen, expandierten natürlich auch meine Abenteuerreisen innerhalb kürzester Zeit.
Erst hatte ich nur Ecuador, das ich wie meine Westentasche kannte, auf dem Programm, dann Venezuela, Kolumbien, Peru und Bolivien. Später wurde mein „Chimborazo“-Traum plötzlich doch noch in etwas veränderter Form wahr. Es kamen noch die Philippinen, Papua-Neuguinea, das indonesische Irian Jaya, die Salomonen und Vanuatu hinzu. Das waren keine siebentägigen Touren mehr, sondern mindestens dreiwöchige Unternehmungen. Viele große touristische Veranstalter wollten an diesem von mir maßgebend geprägten neuen Trend „Abenteuerreise“ teilhaben. Vertraglich engagierten sie mich als Subunternehmer, und ich musste ab Zielflughafen die gesamte Organisation der von mir ausgearbeiteten Reisen übernehmen. Lokale Veranstalter vor Ort nutzten mir dabei überhaupt nicht. Ich brauchte keinen Bus mit fünfzig Sitzplätzen von lokalen Reiseveranstaltern, sondern geländegängige Fahrzeuge für durchschnittlich zehn Teilnehmer, dazu sichere motorisierte Einbäume, die uns über die Urwaldflüsse in die Dörfer der Eingeborenen bringen würden. Alternativ hatte ich verlässliche Buschpiloten zu engagieren. Im Zielgebiet musste ich auch Gästehütten errichten lassen und meine Indiofreunde motivieren, mit Freude auf die Blasrohrjagd zu gehen und den Besuchern Einblick in die Stammeskultur zu ermöglichen. Als Gegenleistung half ich den Indios, wo ich nur konnte. Manchmal flog ich kranke Indios, denen mit traditionellen Heilmethoden nicht geholfen werden konnte, auf meine Kosten ins nächste Hospital aus. So ging ich auch in Asien und Ozeanien vor. Mein Unternehmen wuchs und ich heuerte junge Völkerkundler als fachkundige Reiseleiter an. Sie hießen bei mir Expeditionsleiter, damit nicht zimperliche Damen mit Stöckelschuhen und Schminkkoffern solche anstrengenden Reisen antraten, oder Herren, die in jedem Indiodorf ein Bordell mit großer Bierbar à la Bangkok erwarteten.
Es tat sich für mich nun eine ganz neue Welt auf. Ich hatte es nicht mehr mit wilden Tieren zu tun, sondern mit einer ganz anderen Art von Lebewesen, den Menschen. Wenn man mit so einer menschlichen „Minihorde“ mehrere Wochen Tag und Nacht auf engstem Raum zusammenlebt und gemeinsam die exotische Umwelt erlebt, lange dunkle Tropenabende im Gespräch verbringt, sich nur beim Vornamen kennt und nach Reiseende wieder in seinen Lebensbereich zurückkehrt, dann offenbart sich das Wesen Mensch mit all seinen Höhen und Tiefen. Ich begann eine Entdeckungsreise voller Überraschungen. Dabei konnte ich tief in die menschliche Natur meiner Gäste eindringen. Heute weiß ich, dass ich unbewusst all diese Abenteurer dazu brachte, ihr Innerstes zu öffnen. Dieses Wissen brauchte ich, weil ich zum Verständnis der Naturvölker auch unsere Denkweisen als Vergleich heranziehen musste. Es ging mir nicht nur darum, herauszufinden, was wir modernen Zivilisationsmenschen von diesen fast noch steinzeitlich lebenden Gruppen lernen konnten, sondern auch Verbindendes und Gemeinsames - so verschieden es auch auf den ersten Blick erschien - zu suchen. Was ich da herausfand, zeigte, dass der Mensch nur als soziales Wesen existieren kann, und dass eine heile Partnerschaft unabdingbar ist. Ob jung oder alt, letztendlich lief alles auf Liebeslust und -frust hinaus. Bei uns und in allen Wohlstandsländern verhungert keiner mehr, der tägliche Überlebenskampf der Naturvölker ist für uns kein Thema, zumindest in Friedenszeiten. Was die Menschen, wenn sie nicht vom Hunger bedroht sind, wirklich bewegt, sind alle Fragen und Probleme, die mit unserer Sexualität und unseren Partnerschaftsbeziehungen zu tun haben. Für Hungrige dagegen wird Sex zu Nebensache.
Immer wieder habe ich die besuchten Naturvölker unter dem Aspekt, was kann ich von ihnen abschauen, analysiert. Es war viel, ja sehr viel und aufgeschrieben würde es ein stattliches Buch ergeben. Besonders profitierte ich in Sachen Kindeserziehung und gesunder salz- und zuckerarmer Ernährung. Beeindruckt hat mich auch die praktizierte Basisdemokratie. Fragen der Moral und Methoden der Bestrafung untersuchte ich auch und lernte, wie angenehm es ist, einfach zu leben und ohne Einschränkungen doch auf so vieles zu verzichten, was uns als unabdingbar eingeredet wird.
Ich konnte nun Tag für Tag meine Forschungen vorantreiben. Falls der Rumvorrat reichte, tauten meine Reiseteilnehmer so richtig auf. Einer nach dem anderen erzählte von seinen intimsten Seelenqualen, unglücklichen Lieben, unerfüllten Begierden.
Bei den Kopfjägern am Amazonas musste ich sogar den betuchten Bulli, so lautete sein Spitzname, lange vor Expeditionsende ausfliegen. Er behauptete, eine schmerzliche Nierenbeckenentzündung zu haben. Ich chartere ein Kleinflugzeug und hatte riesige organisatorische Probleme. Er war mit drei Freunden unterwegs. Sie waren recht ungestüm, wohl noch in einer Art Faschingsstimmung, denn sie gehörten dem Kölner Karnevalsverein „Rote Funken“ an. Nach Abreise von Bulli stellte ich sie zur Rede und sagte:
„Ich glaube nicht an Bullis schwere Erkrankung, etwas stimmt nicht.“
Die „Roten Funken“ lachten und rückten mit der Wahrheit raus: Bulli, langjährig verheirateter Familienvater mit Kindern, hatte sich kurz vor dieser Abenteuerreise eine junge Studentin als Geliebte zugelegt. Er richtete ihr eine Wohnung ein, versorgte sie reichlich mit Taschengeld und hier im Urwald drehte er in rasender Eifersucht durch. Er wollte deshalb sofort zurück, um dann in Deutschland nicht ins eheliche Heim zu fahren, sondern um seine Freundin - möglichst in flagranti – zu überraschen.
„So ein Schmarren“, sagte ich, „woher diese plötzliche Eifersucht?“
Rote Funken: „Daran bist du selbst schuld, weil du immer an den Abenden von so tollen Liebesabenteuern berichtest. Das hat ihn um den Verstand gebracht.“
Ich: „Wüsste nicht, um welche Abenteuer es da geht.“
Rote Funken: „Na zum Beispiel das von dem Kölner Polizisten Cony, der gleich nach Ankunft der Gruppe, von Quito aus seine Frau - beide waren noch nicht so lang verheiratet - anrufen wollte. Du sagtest, dass dies gar nicht so einfach war, alles lief über die Telefonvermittlung des Hotels; und das am Abend, also in der Zeit zwischen Mitternacht und Morgengra...