Nicht umsonst nähern wir uns dem Verständnis dieses wahren, dauerhaften Genießens eines wichtigen Gefühls da, wo man es immer schon mit einem lange dauernden festlichen Mahl verbunden hat, beim „Gastmahl” des Sokrates z. B., wie es Platon beschreibt und beim „Abendmahl”, wie es im Neuen Testament berichtet wird. In beiden Fällen wird kräftig Wein getrunken, man labt sich, es sind genießerische Männergesellschaften, die jeweils zusammengekommen sind. Einige Herren aus der künstlerischen und geistigen Elite Athens einschließlich Sokrates haben gerade zum Besten gegeben, was sie über das Thema Liebe zu sagen haben.124 Es geht um die Liebe für die schönen Knaben, etwas, das – von der übrigen Gesellschaft des antiken Griechenlands nicht grundsätzlich gutgeheißen wurde – jedoch zum Kulturgut dieser Elite gehört.125 Zumindest versteht man, wenn man von Liebe redet, darunter nicht nur die zwischen Mann und Frau, und auch nicht nur die von und zu Müttern und Göttern, sondern auch die zu den athletischen und geistvollen Jünglingen. In dem Moment nämlich, als die älteren Herren ihre Reden zum Thema Liebe beendet haben, kommt der bekannteste dieser Jünglinge, Alkibiades, in angetrunkener Stimmung zur Tür herein.
Sokrates erblickend bricht er ins große Gefühl aus, in die positive Übertragung, die er für ihn hat und schwingt eine Lobrede auf ihn. Doch wie ein echter Psychoanalytiker, der nichts anderes sucht, als den Anspruch auf den Trieb, aufs unbewusste Begehren zurückzuführen, sagt Sokrates zu Alkibiades: Du lobst mich mit deiner Rede doch nur, damit ich dir hier den Platz neben dem schönen, jungen Dichter Agathon freimache, und mit dieser Deutung trifft er tatsächlich ins Schwarze. Das große, wichtige Gefühl des Alkibiades erleidet zwar eine Erschütterung, Verwirrung, bekommt aber eben dadurch auch wieder neuen Auftrieb in der Frage: wer ist denn nun dieser in der Liebe so kundige Weise, dieser Liebes-Allwisser, dieser universale Liebes-Lehrer wirklich? Sein Rätsel fasziniert mich, und deswegen werde ich ihn weiter lieben müssen, werde in der positiven Übertragung bleiben müssen, bis sie eines Tages ganz aufgelöst ist, weil ich ihre Hintergründe in der Tiefe meiner Seele durchschaut habe.
Verfährt nicht Jesus beim Abendmahl genauso? Erst gibt es das große, wichtige Gefühl, das wahre Genießen, indem alle zusammen sind und das Passah-Fest feiern. Es gibt Wein, es wird gut gegessen und es gibt Liebeshandlungen: Johannes liegt bei Jesus auf der Brust, vorher noch hat Jesus allen liebevoll die Füße gewaschen und trockengerieben, und man redet über die großen Dinge. Es herrscht rege Gruppendynamik, wobei die Teilnehmer dieser psychoanalytischen Gruppe sich wie üblich untereinander streiten, wer dem „Meister wohl am nächsten steht“.126 Immer hat er die Frauen bevorzugt, krakeelen einige!127, 128 Man ist also noch nicht sehr weit gekommen im analytischen Prozess, die guten Jünger haben vom Ödipuskomplex so gut wie noch nichts verstanden. Im Ödipuskomplex will man nicht nur immer der Vorderste und am meisten Geliebte sein, man will notfalls den, der den Platz des Vordersten repräsentiert (im Ödipusmythos der Vater Laios) ans Messer liefern, um an das Alle der Liebe heranzukommen.129 Das heißt, man stürzt vom großen, wichtigen Gefühl, von der positiven Übertragung, auch leicht in die negative Übertragung, ins unbewusste Phantasma des Vatermordes und des Mutterinzestes.
Es geht beim letzten Abendmahl nämlich um Liebesverrat und Erotomanie.130 Und eben weil es auch darum geht, gibt es die Geschichte mit Judas. Es ist lächerlich zu glauben, ein realer Judas habe einen bereits alles vorherwissenden göttlichen Jesus verraten. Entweder weiß Jesus nicht alles, oder der Judasverrat ist eine Allegorie, also nicht auf der realen, sondern mehr symbolischen Ebene zu sehen. P. Lapide weist auf Übersetzungsfehler hin,131 S. Ben-Chorin dagegen darauf, dass es sich bei dem „Verrat des Judas” um das jüdische Ritual der „vier Söhne der Haggada” gehandelt habe, wobei einer eben der „Böse” sein muss132. Das ist zumindest noch plausibler, als die extrem paradoxe theologische Auffassung, dass Judas „eine göttliche Erwählung ist, die seine Verwerfung `überragt, überstrahlt, kontrolliert und regiert`”!133 Das ist doch wirklich eine verrückte theologische Akrobatik! Auch andere Autoren haben versucht, Judas als den Guten hinzustellen, der nur den Bösen spielen muss. Auch Missionare in Papua-Neuguinea machten eine ähnliche Erfahrung: die Geschichten von Jesus fanden sie nicht interessant, aber von Judas waren sie begeistert. In ihrer Kultur galt der Trickreichste und Hinterlistigste als der Größte.
Und so müsste es schon ein schizoider Gott sein, der das tut, nämlich einen befördern, indem man ihn vernichtet! Kurz, wir sind viel besser beraten, wenn wir die ganze Sache auffassen als das Drama der positiven und negativen Übertragung, in der man aus einem unbewussten Komplex heraus seinen Analytiker liebt oder verflucht und im letzteren Fall meistens auch die Analyse abbricht. In der Gruppendynamik des letzten Abendmahls ist also ein Höhepunkt erreicht und Jesus muss handeln, er muss eine analytische Deutung geben, die das Problem löst. Dabei bemerkt er frühzeitig, dass Judas in einer negativen Übertragung zu ihm steht. Jesus analysiert ihm diese negative Übertragung, indem er davon redet, dass im Ödipuskomplex immer einer der Vater-Mörder sein muss.134 Einer muss der Ödipus sein, der den Laios umbringt – unbewusst. Und jeder empört sich: „Ich bin es doch nicht, der so einen Komplex hat?“ So verhält es sich bei jedem Mann und in einer Gruppenanalyse erweist sich dann einer als besonders betroffen. Es kommt zu einem „acting out“, d. h. zu einer psychischen Ersatzhandlung. Judas geht empört und betroffen weg. Schließlich haben ja alle einen Ödipuskomplex, aber ihn ärgert es am meisten. Wenn die negative Übertragung ausagiert wird, kann es auch den Analytiker treffen. Rein historische Deutungen sehen in Judas einen Zeloten (politischen Eiferer), der von Jesus und dessen Jenseitsreich enttäuscht Selbstmord beging. Aber derartige Deutungen treffen nicht ins Herz der Psychohistorie.
Offensichtlich gelingt es Jesus also nicht, das Problem der negativen Übertragung völlig zu lösen. Er muss Judas gehen lassen. Wer seine Analyse aus dieser negativen therapeutischen Reaktion heraus abbricht, redet draußen oft schlecht über seinen Analytiker. Er verwechselt die aus seiner eigenen negativen Kindheitserfahrung stammenden Bedeutungen, die er auf den Analytiker übertragen hat, mit der realen Person desselben. Andererseits kann es aber auch am Analytiker liegen, z. B. an dessen zu voreiligen Deutungen. Vor dem historischen Hintergrund, dass Jesus scheinbar das Judentum in seiner sehr ‚aktiven‘ Form der Therapie erneuern wollte und Judas mit den Sadduzäern befreundet war und eine Befreiung von den Römern erhoffte, kann man leicht verstehen, dass der Abfall eines Schülers zu erheblichen Problemen führt. Hat nicht der Abfall seines Lieblingsschülers C. G. Jung Freud selbst ebensolche Probleme verschafft?
Tatsächlich finden wir anlässlich mehrerer Vorfälle im NT, dass etwa die Hälfte der Juden Jesus folgte, die andere gegen ihn war. Diese Ich-Spaltung konnte gerade der aus dem jüdischen Mutterland stammende Judas nur schwer aushalten. Seinen Selbstmord begeht er aus Verzweiflung darüber, dass ihm eine wirkliche Lösung des Grundproblems, ob Jesus wirklich der fundierteste Therapeut seiner Zeit war, nicht gelungen ist. Insofern ist Judas vielleicht sogar der bemerkenswerteste seiner Schüler, der am tiefsten an diesen Konflikten gelitten hat. Übrigens zeigt sich hier sehr deutlich, dass meine Argumentation auf der Ebene der Signifikanten, des wirklichen Narrativs, das einzig Wahre ist. Denn natürlich können wir alles, fast alles als reinen Mythos, nachträgliche Verfälschungen etc. abtun. Wir können uns aber auch nur an die Buchstaben klammern.
Beides wird sehr früh an Grenzen stoßen. Betrachten wir das Ganze jedoch als psychoanalytischen Bericht, als Therapieaufzeichnungen, als eine sehr gut erzählte Geschichte mit erheblichem historischen Hintergrund, kommen wir am weitesten. Denn – im Endeffekt – geht es mir hier weder um reine Theologie noch um reine Geschichtswissenschaft oder Linguistik oder selbst die klassische Psychoanalyse, sondern um die Begründung eines neuen Therapieverfahrens, das exakt aus einer strukturellen Übereinstimmung der Jesusmethode mit der heutigen Psychoanalyse möglich wird. Und eben diese Methode zog Freud wie Jesus aus dem Gestammel, aus den Assoziationen der Leute um sie heraus. Wie Sokrates zu Alkibiades sagt Jesus in etwa zu Judas: „Du willst doch nur der Oberste von allen sein, du willst doch nur selbst meinen Posten haben, ok, geh, schau wie weit du damit kommst“!
Jesus muss sich also beim Abendmahl nun umso mehr um die anderen Jünger kümmern. Dazu benützt er die rituelle Verwendung von Brot und Wein, die sie im Seder-Mahl haben, und beschwört die Liebe. „Ihr sollt nicht um die Rangfolge streiten”, ihr sollt essen und trinken! „Esst mich, verinnerlicht mich”, euer Übertragungs-Objekt! Indem ihr euch im Essen des Brotes an mich als euer Übertragungsobjekt erinnert, indem ihr im Brot mich seht, mein Strahlt, das insofern euer Spricht wird, als ihr meine Worte dadurch nicht mehr vergessen könnt, werdet ihr alle meine Nachfolger! Denn das Strahlt / Spricht der Essenischen Lehre, dieses Essenischen Sederfestes wird die Jünger nicht verlassen. Wenn Judas diese Erneuerung, diese „Lichtung”, wie M. Heidegger es nannte, nicht mitmacht, wird er in der saduzzäischen „Finsternis” bleiben, 135 d. h. er wird einfach nicht analysierbar sein, er wird sein Glück auch so machen müssen, als Normopath, als Stinknormaler, als Spießer, der sich an die Mächtigen klammert oder sinnlos herumeifert. Ähnlicher Auffassung ist auch Drewermann.136 Und wenn Jesus sagt, „liebt, wie ich euch gezeigt habe, dass man liebt”, so meint er, dass man für diese Liebe eben durch die Neurose hindurch muss. Er meint, dass man sich als Begehrender erkennen soll, dass man diesem Begehren weitgehend, aber nicht völlig ausgeliefert ist, und man somit sein Begehren in sein eigenes Diesseits / Jenseits integrieren muss und ihm nicht ausweichen soll.
Das unbewusste Begehren betrifft auch die Frauen. Die Frauen, die Jesus die Füße massiert haben, wie Maria Magdalena. Diese Offenlegung hat Jesus doch gerade an seinen Jüngern wieder demonstriert! „Jetzt gebt doch euern Anspruch auf, der Beste sein zu wollen, ihr neidet mir doch nur meinen Bezug zu den Frauen, wo ich sie doch genau so liebe wie euch”. Denn auch das hätte er noch sagen können: „Ich glaube an das Genießen der Frau, insofern es mehr ist.“137 Mehr als was? Mehr als das phallische Genießen des Mannes, des einfachen Seins-Zustandes der männlich ontologischen Lust, auch mehr als das Genießen des revolutionären, zelotischen Denkens (auch wenn das schon nicht schlecht ist) oder der simplen Tradition, des Jüdischen als erstarrter Tradierung z. B. „Es gibt ein Genießen für die Frau, von dem vielleicht sie selbst nichts weiß, außer dass sie es empfindet - das, das weiß sie . . Warum nicht interpretieren . . . die Seite Gott als getragen durch den weiblichen Genuss“?137 Das wäre natürlich für einen Judas zu viel der Ironie, zu viel der Verwirrung gewesen.
Aber Jesus konnte dies schon so gemeint haben. Es gab viele Frauen, die mit ihm und den Jüngern durch die Lande zogen. Doch das weibliche Genießen! Jesus musste nicht und Freud konnte nicht Klarheit darüber finden! Freud verirrte sich geradezu darin. Bis heute gibt es keine ausreichend befriedigende Theorie der Weiblichkeit in Bezug auf das ih...