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Übungen anhand von kurzen Prosatexten zur Inhaltsangabe, Erörterung und Textanalyse
- 48 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
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Übungen anhand von kurzen Prosatexten zur Inhaltsangabe, Erörterung und Textanalyse
Über dieses Buch
Charlotte Kreth stellt mit ihrer Sammlung diverser aktueller literarischer Kurztexte Material zum Üben von Inhaltsangabe, Erörterung und Textanalyse in Sek. I und II zur Verfügung - fertig zum Kopieren und mit Lösungsansätzen.
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Information
Jens Trippler: Der Anzug
Seine Mutter hatte nur drei Jahre die Dorfschule besuchen können, denn dann brauchte sie der Vater vollends auf dem Hof. Vieles über die Welt der Wissenschaft war ihr also verborgen geblieben. Einfache Briefe aber vermochte sie zu formulieren, sodass sie die wenige Korrespondenz ihrer Eltern damit bewältigte. Die Grundrechenarten beherrschte sie ebenfalls, und sie wusste, wann es Zeit zur Aussaat, zum Düngen und zur Ernte war. Auch erkannte sie einen Tag im Voraus den Zeitpunkt des Kalbens. Und falls der Tierarzt zur Hilfe geholt werden musste, weil es Komplikationen gab, hatte sie ihn bereits verständigt. Das Wichtigste jedoch, das sie das Leben lehrte, war die Erkenntnis, dass Kleider Leute machten. Eigentlich war es ihr Vater gewesen, der ihr diese Weisheit vermittelt hatte. Stets, wenn sie ihn zum Markt begleiten durfte, um das Wenige, das der Hof abwarf, mit möglichst großem Gewinn zu verkaufen, wies er sie an, sich die Haare zu kämmen, ihr Gesicht zu waschen und vor allem sich ihr bestes Kleid anzuziehen. „Der Mensch kauft lieber von dem, der hübsch anzusehen ist“, pflegte er ihr zu erklären und fügte abschließend hinzu: „Kleider machen Leute! Um das zu wissen, brauchst du keine Schule.“ Dann trat er mit ihr vor die Tür in seinem einzigen Anzug. Den hatte er nur zur Kirche an, die er, so wie es seine Zeit erlaubte, meistens an zwei Sonntagen im Monat besuchte. Bevor sie sich auf den langen Fußweg in die Stadt machten, musterte er sie ausgiebig und lächelte ihr schließlich zu. Ja, heute würden sie einen ganzen Sack voller Geld der Mutter heimbringen. Hierauf warf er sich seinen Beutel über die rechte Schulter und nahm ihre kleine Hand in seine linke. Zurück trug er sie meistens, weil sie zu erschöpft war.
Ihr ganzer Stolz war Ottmar. Nachdem der elterliche Hof verloren gegangen war und ihr Mann sie und den Kleinen daraufhin von einem auf den anderen Tag, ohne ein Wort zu sagen, verlassen hatte, bildete ihr Sohn nun den absoluten Mittelpunkt ihres schlichten Lebens. Nicht viel konnten sie sich vom Verdienst der Mutter leisten, aber sie kamen über die Runden. Unter dem Wenigen, das sie aus dem bescheidenen Vermächtnis ihrer Eltern hatte retten können, befand sich das alte Klavier der Großmutter. Obgleich es ziemlich verstimmt war und sie nur noch einige einfache Stücke spielen konnte, war das mütterliche Spiel Anreiz genug für Ottmar, ihr nachzueifern. Mit ekstatischer1 Begeisterung klimperte der Junge auf den Tasten und beherrschte nach kurzer Zeit alle Lieder, die er bei ihr gehört hatte. Ottmar schien Talent zu besitzen, so urteilte seine laienhafte Mutter richtig und stellte ihn dem Organisten der Dorfkirche vor, der die Annahme bestätigte und zu Klavierstunden in der Stadt riet. Vom Ersparten wurden die ersten zehn Stunden bezahlt und Ottmars Mutter hoffte, dass jene bei derartiger Begabung ausreichen würden. Doch Ottmar erwies sich als geistig träge. Verzweifelt und vergeblich hatte seine geduldige Lehrerin versucht, ihn in die geheimnisvolle Welt der Musiktheorie, angefangen beim einfachen Notenlesen, einzuführen. Zwar bescheinigte auch sie Ottmar Talent, trotzdem würde er seine Anlage ihres Erachtens ohne ein fundiertes Wissen von der Komplexität der Musik nie völlig und professionell ausnutzen können. Aber schließlich ging es der Mutter gleichwohl darum - und auch das hatte die Klavierlehrerin schnell erkannt - aus Ottmars Gabe Gewinn zu ziehen. Also verzichtete die kleine Familie ab sofort auf jegliche Art von Maßlosigkeit, um den Unterricht zu finanzieren.
Obgleich Ottmar Begriffe wie ‚andante‘2 und ‚allegro‘3 weiterhin nicht voneinander unterscheiden konnte, für ihn eine Viertel- noch immer wie eine Achtelnote aussah, machte sein Spiel rasante Fortschritte. Trotz seiner Defizite im theoretischen Bereich beherrschte er schon bald schwierigere Stücke und seine Lehrerin zeigte sich höchst zufrieden. Im Geheimen war sie verzaubert von ihrem Schüler. Noch nie zuvor hatte sie einen Jungen mit einer solchen Gabe unterrichten dürfen. Jedes Lied, das sie ihm zeigte, beherrschte er nach kürzester Zeit, manchmal sogar besser als sie selbst. „Er sollte unbedingt bei unserem jährlichen Weihnachtskonzert spielen“, sagte sie zu Ottmars Mutter. Dem skeptischen Blick fügte sie rasch und überzeugend hinzu, dass Ottmar zweifelsohne bereits so weit wäre. Nur allzu gern willigte seine Mutter daraufhin ein.
Am Abend vor dem Konzert rief Ottmars Mutter ihren Sohn vom Klavier, das in der kleinen Wohnstube stand und an dem er fleißig übte, zu sich ins Schlafzimmer. Sie befahl ihm, die Augen zu schließen, weil sie eine Überraschung für ihn hätte. „Ich möchte, dass du den hier morgen bei deinem Konzert trägst.“ Sie hielt ihm einen dunkelblauen Anzug hin, der zusammen mit einem weißen Hemd und der dazugehörenden schwarzen Fliege auf einem Bügel hing. Ottmars Begeisterung hielt sich deutlich in Grenzen, wenngleich ihm bewusst war, dass seine Mutter für all das wohl den letzten Rest des Ersparten ausgegeben hatte. „Ottmar, der Mensch hört nicht nur, er schaut auch und er sieht sich lieber etwas Hübsches an. Kleider machen Leute, merk dir das! Du wirst morgen nicht nur durch dein Spielen Eindruck schinden.“
Seine Mutter sollte recht behalten. Und obwohl Ottmar nur einer unter vielen Schülern bei jenem Weihnachtskonzert war, verzauberte seine Auslegung von „Es ist ein Ros entsprungen“4 das Publikum derart, dass sein Gewinn neben vielen Tränen und stehenden Ovationen5 ebenfalls die Geschäftskarte des Herrn Stolle, eines Klavierlehrers aus der Hauptstadt, war. Der hatte Ottmars Begabung nach den ersten Takten erkannt und bot dessen Mutter an, ihren Sohn kostenlos zu unterrichten. Aufgrund der großen Entfernung sollte Ottmar während der Woche im dortigen Musikinternat wohnen; auch dafür wollte Herr Stolle aufkommen.
Am Tag von Ottmars Abreise legte ihm seine Mutter den gewaschenen und frisch gebügelten Anzug aufs Bett. „Ich möchte, dass du heute deinen Anzug trägst. Du weißt ja, dass Kleider Leute machen. Es ist der erste Eindruck, der zählt.“ Und so hatte Ottmar seinen Anzug an, als er wenig später im Abteil saß. Der Fahrschein, den Herr Stolle ihnen per Express zugeschickt hatte, steckte in der Innentasche seines Jacketts. Es war das erste Mal, dass er Zug fuhr und für mehr als einen Tag von seiner Mutter getrennt sein würde. Deshalb betrachtete er traurig die Landschaft, die an ihm vorbeizog, und merkte, wie mit jedem Meter, den er sich von zu Hause entfernte, sein Heimweh wuchs. Es fiel ihm nicht schwer zu verstehen, wieso er nicht länger bei seiner alten Klavierlehrerin Unterricht nehmen konnte. Aber betrübt war er dennoch. Nur seiner Mutter zuliebe hatte er leise zugestimmt; und nur für sie trug er diesen Anzug, der an den Schultern zu eng und dessen Hose zu kurz war. Er wollte sorgfältig darauf achten, seinen Anzug nicht schmutzig werden zu lassen und ihn ihr so sauber, wie er jetzt war, bei seiner Rückkehr in knapp einer Woche vorführen.
Auf seine neuen Zimmergenossen machte der Anzug nicht den gewünschten Eindruck. Nachdem Herr Stolle, der Ottmar vorgestellt hatte, aus dem Raum gegangen war, den Ottmar sich mit drei anderen Jungen seines Alters teilen sollte, fingen die lauthals an zu lachen. „Wer hat dir denn den ausgesucht? Ist das der letzte Schrei auf dem Land?“, prusteten sie los. Als Ottmar heulend auf den Flur hinauslief, schrien sie ihm hinterher, er wäre ein Kleinkind und Waschlappen. Das laute, drohende Schimpfen von Herrn Stolle ließ sie schließlich schweigen, doch änderte dies nichts an Ottmars Status: Er galt nunmehr als Landei, mimosenhaft und nicht gesellschaftsfähig. Sein naives Auftreten und die Begriffsstutzigkeit im Unterricht verstärkten lediglich die Ansicht seiner Klassenkameraden. Selbst als sie Ottmar das erste Mal spielen hörten, behielten sie ihre Meinung bei. Sie fanden seine Interpretationen plump, geistlos und unmodern. Hörbar tuschelten sie hinter seinem Rücken und machten sich über ihn lustig, wo immer sie es ohne die Gefahr von Strafe konnten.
Dicke Tränen vergoss Ottmar, als er seine Mutter am Ende der Woche wieder in den Arm nehmen durfte. Aber noch stärker weinte er an jedem Sonntagnachmittag der folgenden Jahre, wenn er zurück in die Hauptstadt fahren musste. Und jedes Mal trug er einen Anzug. Nie hätte Ottmar es gewagt, sich dem Wunsch seiner Mutter zu widersetzen. Und so blieb er das Gespött seiner Mitschüler. Besonders da seine Mutter ihm stets neue Anzüge schenkte, sobald er aus einem herausgewachsen war. Und stets sahen die Anzüge gleich aus, waren lediglich eine etwas größere Kopie ihres Vorgängers.
Mit Genugtuung fühlte sich indessen Herr Stolle bestätigt. Er hatte sich nicht in Ottmar geirrt, der rasch Fortschritte machte. Im Bereich der Theorie war dieser noch immer schwach, würde es wahrscheinlich sein ganzes Leben lang bleiben, aber der Junge besaß offensichtlich das perfekte Gehör. Eine Gabe, so selten und von unschätzbarem Wert, dass alles andere unwichtig wurde, so meinten ebenfalls seine Lehrer. Dass die anderen Ottmar hänselten, verspotteten, über ihn lachten und Witze machten, ihn demütigten, beschimpften, beleidigten, seinen Nachtisch aßen, er völlig allein ohne Freunde unter lauter Feinden und deswegen todunglücklich war – all dies entging auch seinen Mentoren nicht, gehörte aber ihrer Ansicht nach zum Dasein eines Genies, das vom normalen Menschen nicht verstanden, deshalb gefürchtet und gepeinigt wurde. „Ottmar, was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker“, versprach Herr Stolle, als der Junge abermals weinend und seinen Kummer klagend zu seinem Erzieher gerannt war. „Sie haben Angst vor dir, weil du anders bist. Und da sie ihre Angst verbergen wollen, versuchen sie dich zu schikanieren. Die Zeit wird kommen, Ottmar, dass du sie auslachen wirst, weil sie in der Gosse versunken sind, aber du zum Stern geworden bist. Vertrau mir!“ Was hätte Ottmar auch sonst tun können?
Inzwischen hatten Herr Stolle und seine Mutter einen schriftlichen Vertrag aufgesetzt, in dem Ersterer sich verpflichtete, für die komplette Ausbildung Ottmars finanziell aufzukommen. Letztere müsste im Gegenzug das gesamte Geld zurückzahlen, sollte Ottmar die Schule abbrechen. Die Mutter erinnerte Ottmar jedes Wochenende daran. Ferner wies sie ihn darauf hin, dass dies ihr beider Ruin bedeutete, er dann ins Heim gehen müsste und sie im Zuchthaus oder im Bordell enden würde.
Bald zeigte sich, dass Herr Stolles Vorhersage stimmte. Das Opernhaus der Hauptstadt hatte zum jährlichen Konzert aller Nachwuchspianisten des Landes aufgerufen. Der Gewinner wurde von einem internationalen Kuratorium6 gewählt und erhielt als Preis ein Stipendium für das spätere Studium an einer renommierten7 Hochschule für Musik. Von seiner Schule wurden nur Ottmar und ein Klassenkamerad eingeladen. Den zwei Jungen war bewusst, wie viel vom Ergebnis des Wettbewerbs abhing. Auch sein unmittelbarer Rivale stammte aus bescheidenen Verhältnissen und war gleichermaßen abhängig von der Gunst und Hilfe Stolles. Eine Woche vor der Veranstaltung rief dieser die Jungen zu sich. „Es ist mir völlig einerlei, wer von euch beiden gewinnt. Wichtig ist allein, dass ihr den Sieg erlangt. Für den Ruf dieser Schule ist der Triumph von immenser Bedeutung und er entscheidet zudem darüber, ob Knaben wie ihr auch zukünftig von mir unterstützt werden können. Ich hoffe, ihr seid euch darüber im Klaren, was das heißt!“ Ottmar wusste nicht wirklich, was Herr Stolle meinte, aber im Innern ahnte er die Botschaft der Worte und kannte die Wichtigkeit des ersten Platzes für seine Zukunft und die der Mutter. Er übte wie ein Besessener. Nachts, wenn er vor Aufregung nicht schlafen konnte, schlich er sich an einen der Flügel in den Übungssälen und spielte immer und immer wieder das Stück, das Herr Stolle für ihn ausgesucht hatte. Er probte die verschiedensten Interpretationen und fand doch keine, die er als gut genug akzeptierte, um gewinnen zu können.
Einen Tag vor dem Konzert übermannte ihn die Panik und er hatte einen Nervenzusammenbruch. Der herbeigerufene Arzt verordnete absolute Ruhe und eine erzwungene Bettlägerigkeit. Also sah Herr Stolle nur eine Möglichkeit, das bevorstehende Desaster abzuwenden.
Seine Mutter, die Herr Stolle eigens zum Konzert eingeladen hatte, brachte einen frischen Anzug mit. Allein ihre Anwesenheit sorgte in Ottmars junger Brust rasch für den erhofften Seelenfrieden, sodass der verloren gegangene Glauben an die eigenen Fähigkeiten bald zurückkehrte.
Ottmar spielte und gewann das Stipendium. Nach der Siegerehrung gingen die drei in ein nobles Restaurant und feierten Ottmars Gewinn. „Ottmar“, sagte seine Mutter nach dem Essen, als Herr Stolle sich kurz entschuldigt hatte, „ich bin richtig stolz auf dich! Dein Lied war wirklich wundervoll. Und wie gut du ausgeschaut hast in deinem neuen Anzug. Er ist bestimmt entscheidend gewesen. Deine Gegner waren nämlich auch sehr gut, aber keiner trug einen so vornehmen Anzug wie du. Und du weißt ja: Kleider machen Leute.“ Das wusste Ottmar tatsächlich. Wie sehr hatte er schließlich die letzten Monate darunter leiden müssen. Doch dies wollte er zukünftig ändern. Den Anzug würde er nicht mehr tragen – seine Mutter musste ja nichts davon erfahren, weil sie am folgenden Morgen wieder abreiste.
Aber da irrte Ottmar. Zu seiner Überraschung blieb seine Mutter auf Bitte und durch die Großzügigkeit von Herrn Stolle die gesamte nächste Woche in der Hauptstadt. Ottmar bekam zwei Tage frei. Er zeigte ihr das Internat und trug dabei seinen neuen Anzug. Schrieb er es zunächst der Anwesenheit seiner Mutter zu, so bemerkte er auch, als sie abgereist war, dass seine Schulkameraden ihn mit einem bis dahin unbekannten Respekt behandelten.
Kein einziger Schüler des Internats hatte seit über einem Jahrzehnt das Stipendium mehr gewonnen. Von nun an mussten sie Ottmars Genialität anerkennen und taten dies mit einer stillen Hochachtung. Jegliche Form der Bosheit und des Spotts waren mit einem Mal verschwunden. Zwar blieb Ottmar auch weiterhin der Außenseiter, der er seit seiner Ankunft im Internat gewesen war, doch schmerzte dieser Zustand fortan nicht mehr. Der neue Umgang der Klassenkameraden mit ihm wirkte gleichfalls so ermutigend auf sein Spiel, dass er binnen weniger Monate zu einem gefeierten Jungpianisten des Reiches avancierte. Etwa ein halbes Dutzend Konzerte gab er am Ende des Jahres, immer arrangiert von Herrn Stolle und im Anzug vorgetragen.
Mit der Zeit wurde sein Spiel dermaßen gefragt, dass Herr Stolle...
Inhaltsverzeichnis
- Titelseite
- Inhaltsverzeichnis
- Matthias Deuster: Die Tauben
- Sebastian Kühn: Der Rattenkäfig
- Yvonne Szymoniak: Der Eremit
- Willi Hagenguth: Der Mörder
- Jens Trippler: Der Anzug
- Hans H. Beese: Der Stotterer
- Martin Dräger: Eigentlich
- Stefanie Böhm: Der göttliche Fehler
- Julia Adler: Kleine Fabel
- Christian Ulm: Die Zündschnur
- Marc Dönitz: Hans
- Margret Giese: Auf der Pelzfarm
- Birgit Bever: Die Lebenslinie
- Frank Schade: Harmagedon
- Susanne Steinhagen: Sirenen
- Carsten Langemann: Unser aller
- Richard Kreth: Im Koma
- Lösungsansätze
- Impressum