1 Sigmund Freud, sexuelle Freiheit und Sozialreform
Wenn ich mein Leben neu beginnen müßte, würde ich mich lieber der Parapsychologie als der Psychoanalyse widmen.
Sigmund Freud in einem Brief an Hereward Carrington, 192120
Die Vermählung von Sigmund Freuds Lehre, sexueller Freizügigkeit und sozialer Reform in Amerika fand im Oktober 1895 statt. Die Braut trug rot, und ihr Name war Emma Goldman.21 Tatsächlich war sie die erste amerikanische Touristin, die Freud entdeckte. Sie lernte Geburtshilfe im hochangesehenen Wiener Stadtkrankenhaus – demselben Krankenhaus, in dem Freud seine medizinische Ausbildung zehn Jahre zuvor abgeschlossen hatte –, als sie einige Vorlesungen eines wie sie ihn nannte „herausragenden jungen Professors“22 studierte. Damals trug sie noch nicht den subversiven Spitznamen Red Emmaam, der sie zur meist berüchtigten Frau Amerikas machte und der Anlass für ihre Deportation nach Russland war. Obwohl sie es vorzog, unter einem Decknamen zu reisen, war sie den Autoritäten hinlänglich bekannt.
Mit nur 26 Jahren war Goldman bereits eine Leitfigur der flügge werdenden amerikanischen Anarchiebewegung. Konvertiert wurde sie während des Haymarket-Square-Massakers, bei dem 1886 eine Bombe sieben Polizisten im Verlauf eines Chicagoer Arbeitskampfes tötete. Acht Anarchisten wurden überführt und zum Tode verurteilt. Als am 11. November 1887 vier von ihnen gehängt wurden, besann sich Goldman darauf, dass „etwas Neues und Wunderbares in meiner Seele geboren wurde … die Bestimmung, sich dem Andenken meiner märtyrerhaften Kameraden zu widmen, mir ihre Gesinnung zu eigen zu machen …“.23
Genau das tat sie. Sie nahm sich den Anarchisten Alexander Berkman zum Liebhaber und half ihm, die Ermordung Henry Clay Fricks zu planen. 1892 war der Vorsitzende des Carnegie-Steel-Gremiums in eine verbissene Auseinandersetzung mit der Amalgamated Association of Iron and Steel Workersan in Homestead, Pennsylvania, verwickelt. Goldman stimmte offenbar mit Berkmans Ansicht überein, dass „der Mord an einem Tyrannen … keinesfalls als Töten angesehen werden kann“.25 Um Geld für den Kauf von Berkmans Waffe zu verdienen, ging sie als Prostituierte auf die Straße und half ihm auch, die Sprengstoffe zu testen, mit denen er sich nach dem Mord an Frick selbst umbringen wollte. Berkman schoss tatsächlich auf Frick und stach mit einer geschliffenen Feile auf ihn ein, doch der Anschlag schlug fehl. Sein anschließender Selbstmordversuch wurde vereitelt und er zu 22 Jahren Haft verurteilt. Es war stark anzunehmen, dass Goldman das Verbrechen unterstützt hatte, aber es fehlte ein eindeutiger Beweis, mit dem man hätte Anklage erheben können.
1893 setzte Emma Goldman ihre anarchistischen Aktivitäten fort und wurde bei einer Arbeiterkundgebung am New Yorker Union Square verhaftet und wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt. Sie wurde schuldig gesprochen und zu einem Jahr Haft im Blackwell Prisonao verurteilt, wo sie, ohne dafür ausgebildet worden zu sein, als Krankenschwester arbeitete. Nach ihrer Entlassung führte sie diese Erfahrung nach Wien, um an der dortigen Hebammenschulung teilzunehmen und erkannte, dass sie Mittel brauchte, um ihre Bemühungen hinsichtlich einer Arbeiterrevolution fortzusetzen.
Die Anziehungskraft von Freud und seiner Theorie auf Goldman war unmittelbar und umfassend. „Es war Freud“, erinnerte sie sich, „der mir zum ersten Mal Homosexualität verständlich machte.“26 Noch wichtiger aber war, dass Freud erklärte wie unterdrückte Sexualität zu Neurasthenieap, Frigidität, Depression und zur intellektuellen Unterlegenheit von Frauen führt. „Zum ersten Mal wurde mir die volle Tragweite unterdrückter Sexualität und deren Einfluss auf das menschliche Denken und Handeln bewusst“, schrieb sie. Freud „half mir, mich selbst und meine Bedürfnisse zu verstehen.“27 Goldman brauchte ein solches Verständnis, denn trotz ihrer berüchtigten Befürwortung der freien Liebe litt sie unter einer großen Ambivalenz in ihren körperlichen Beziehungen mit Männern: „Ich fühlte mich immer zwischen zwei Feuern“, schrieb sie später. „Deren Verlockung blieb groß, aber es war immer mit gewalttätiger Abscheu vermischt.“28 Freuds Theorie stellte sowohl Trost als auch eine Erklärung für ihre Gefühle bereit.
Freuds Einfluss auf Goldman und ihre Befürwortung der freien Liebe trafen mit ihrem Aufenthalt in Wien zusammen: „Die Einfachheit, der Ernst und die Brillanz seines Verstandes“, erinnerte sie sich, „gaben einem zusammen das Gefühl, aus einem dunklen Keller ins helle Tageslicht geführt zu werden.“29 „Nur Leute mit verdorbenem Verstand könnten die Motive einer so großen und feinen Persönlichkeit wie Freud in Frage stellen oder schmutzig finden.“30 Als Freud 1909 für Vorlesungen an die Clark University kam, saß Emma Goldman in der ersten Reihe. Von einem Reporter des Boston Evening Transcript wurde sie als „plump, nüchtern, in keusches Weiß gekleidet“31 und mit einer roten Rose an der Taille beschrieben. Im Artikel wurde sie auch als „Satan“ bezeichnete, denn ihr schlechter Ruf als Verfechterin der freien Liebe und Anarchie hatte sich inzwischen weit herumgesprochen. In Goldmans Erinnerungen an Freud an der Clark University „ragte er heraus wie ein Riese unter Pygmäen“.32
1.1 Die freudsche Theorie
Die Vorlesungen, die ursprünglich Emma Goldmans Aufmerksamkeit auf Freud lenkten, fanden am Wiener Medizinischen Kolleg am 14., 21. und 28. Oktober 1892 statt. Verwunderlich war es nicht, dass sie nach ihrer Ankunft in der Stadt von Freud hörte, denn seine Sexualtheorie genoss wachsendes Ansehen. Ernest Jones, Freuds offizieller Biograph, bestritt, dass diese Reputation einer der Gründe war, warum Freud in den 1890er Jahren als Ehrenprofessor übergangen wurde.33 Aber ein anderer Kollege Freuds erinnerte sich, dass „in diesen Tagen alle anfingen zu lachen, wenn Freuds Name auf einer Wiener Versammlung erwähnte wurde, als ob man einen Witz erzählt hätte. [Freud] war der Mann, der Sex in allem sah. Das Gespräch in Gegenwart von Damen auf Freud zu lenken, galt als schlechter Geschmack. Sie erröteten, wenn sein Name fiel.“34
Freud war zu dieser Zeit ein 39-jähriger privat praktizierender Mediziner, der sich auf neurotische Fälle spezialisiert hatte. Eigentlich sah er nicht „Sex in allem“, doch er glaubte, dass sexueller Missbrauch von Kindern und Unterdrückung von Sexualität die Ursachen für Angstneurosen, Phobien, Obsessionen, Hysterie und Neurasthenien war. 1895 strich er besonders „freiwillige oder unfreiwillige Abstinenz, sexueller Verkehr mit unvollständiger Befriedigung [und] Coitus interruptus“35 als pathologische Faktoren heraus. Bis 1905 hatte er seine Theorie so erweitert, dass er die Ursache für alle Neurosen in sexuellen Problemen sah und argumentierte: „Somit schien die unvergleichliche Bedeutung sexueller Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen als unzweifelhaft festgestellt.“36 Er disputierte, dass „dieser Anteil [die Energie des Sexualtriebes] der einzig konstante und die wichtigste Energiequelle der Neurose ist“.37 In einer von seinen Anhängern oft zitierten Behauptung versicherte Freud: „Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose unmöglich.“38 Die logische Konsequenz einer solchen Theorie war, dass Neurosen weit weniger verbreitet wären, wenn das Sexualleben der Menschen weniger gehemmt und unterdrückt wäre. Freud selbst hielt sich zurück, Behauptungen in dieser Richtung öffentlich aufzustellen, aber privat erzählte er seinen Freunden: „Ich vertrete ein ungleich freieres Sexualleben …“39 Diese Botschaft war es, die Emma Goldman mit nach New York zurück- und in ihren Kampf für eine bessere Welt aufnahm.
Während der Vorlesungen in 1895 waren Freud und sein Mitarbeiter und enger Freund Wilhelm Fließ von Forschungen über die Beziehung von Sexualfunktionen und Neurosen in Anspruch genommen. Fließ war ein Berliner Hals-Nasen-Ohren-Spezialist, der glaubte, dass die „missbräuchliche ... Ausübung der Sexualfunktion“40 – insbesondere Masturbation, Coitus interruptus und der Gebrauch von Kondomen – Schäden im Nervensystem und ebenso im Nasengewebe anrichtete. Fließ lokalisierte bestimmte „Genitalpunkte“ in der Nase und glaubte, dass Neurosen, die durch den Missbrauch der Sexualorgane ...