VII Norden – Winter – Wintersonnenwende
VII 1. Der Norden
Die Beschreibungen der vier Himmelsrichtungen sind in der germanischen Mythologie recht vielfältig, aber zugleich auch sehr schlüssig – insbesondere die Beschreibung des Nordens.
VII 1. a) Gylfis Vision
In dieser Zusammenfassung der germanischen Mythologie liegt im Süden das „Feuer-Land“ Muspelheim und ihm gegenüber, also im Norden das „Eis-Land“ Niflheim.
Da sprach Jafnhar: „Manches Zeitalter vor der Erde Schöpfung war Niflheim entstanden; in dessen Mitte liegt der Brunnen, Hwergelmir genannt. Daraus entspringen die Flüsse mit Namen Swöl, Gunnthra, Fiorm, Fimbul, Thul, Slid und Hrid, Sylg und Ylg, Wid, Leiptr; Giöll ist der nächste beim Höllentor.“
Da sprach Thridi: „Vorher aber war im Süden eine Welt, Muspel geheißen: die ist hell und heiß, so daß sie flammt und brennt und allen unzugänglich ist, die da nicht heimisch sind und keine Wohnung da haben.“
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Gangleri frug: „Was begab sich, bevor die Geschlechter wurden und Menschenvolk sich ausbreitete?“
Har antwortete: „Als die Fluten, welche Eliwagar heißen, soweit von ihrem Ursprung kamen, daß der Giftstrom in ihnen erstarrte wie der Sinter, der aus dem Feuer fällt, ward er in Eis verwandelt. Und da dies Eis stille stand und stockte, da fiel der Dunst darüber, der von dem Gifte kam und gefror zu Eis, und so legte eine Eislage sich über die andere bis in Ginnungagap.“
Da sprach Jafnhar: „Die Seite von Ginnungagap, welche nach Norden gerichtet ist, füllte sich an mit einem schweren Haufen Eis und Schnee und darin herrschte Sturm und Ungewitter; aber der südliche Teil von Ginnungagap war milde von den Feuerfunken, die aus Muspelheim herüberflogen.“
Da sprach Thridi: „So wie die Kälte von Niflheim kam und alles Ungestüm, so war die Seite, die nach Muspelheim sah, warm und licht, und Ginnungagap dort so lau wie windlose Luft, und als die Glut auch dem Reif begegnete also daß er schmolz und sich in Tropfen auflöste, da erhielten die Tropfen Leben durch die Kraft dessen, der die Hitze sandte. Da entstand ein Menschengebild, das Ymir genannt ward; aber die Hrimthursen nennen ihn Örgelmir, und von ihm kommt das Geschlecht der Hrimthursen.“
Dieser an das chinesische Yin und Yang erinnernde Urgegensatz von Feuer und Eis könnte ursprünglich das warme Diesseits und das kalte Jenseits gewesen sein.
VII 1. b) Gylfis Vision
In Niflheim im eisigen Norden befindet sich auch das Jenseits einschließlich des Jenseitsbrunnens des Tyr-Riesen Mimir.
„Aber böse Menschen fahren zu Hel und danach gen Niflheim; das ist unten in der neunten Welt.“
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Da frug Gangleri: „Wo ist der Götter vornehmster und heiligster Aufenthalt?“
Har antwortete: „Das ist bei der Esche Yggdrasil: da sollen die Götter täglich Gericht halten.
Da frug Gangleri: „Was ist von diesem Ort zu berichten?“
Da antwortete Jafnhar: „Diese Esche ist der größte und beste von allen Bäumen: seine Zweige breiten sich über die ganze Welt und reichen hinauf über den Himmel.
Drei Wurzeln halten den Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen: die eine zu den Asen, die andere zu den Hrimthursen, wo vormals Ginnungagap war; die dritte steht über Niflheim, und unter dieser Wurzel ist Hwergelmir und Nidhögg nagt von unten an ihr.
Bei der andern Wurzel hingegen, welche sich zu den Hrimthursen erstreckt, ist Mimirs Brunnen, worin Weisheit und Verstand verborgen sind. Der Eigner des Brunnens heißt Mimir, und ist voller Weisheit, weil er täglich von dem Brunnen aus dem Giallarhorn trinkt. Einst kam Allvater dahin und verlangte einen Trunk aus dem Brunnen, erhielt ihn aber nicht eher, bis er sein Auge zum Pfand setzte.“
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„Loki hatte noch andere Kinder. Angurboda hieß ein Riesenweib in Jötunheim: mit der zeugte Loki drei Kinder: das erste war der Fenriswolf, das andere Jörmungand, die Midgardschlange, das dritte war Hel.
Als aber die Götter erfuhren, daß diese drei Geschwister in Jötunheim erzogen würden, und durch Weissagung erkannten, daß ihnen von diesen Geschwistern Verrat und großes Unheil bevorstehe, indem sie Böses von Mutter-, aber noch schlimmeres von Vaterswegen von ihnen erwarten zu müssen glaubten, schickte Allvater die Götter, daß sie diese Kinder nähmen und zu ihm brächten.
Als sie aber zu ihm kamen, warf er die Schlange in die tiefe See, welche alle Länder umgibt, wo die Schlange zu solcher Größe erwuchs, daß sie mitten im Meer um alle Länder liegt und sich in den Schwanz beißt. Die Hel aber warf er hinab nach Niflheim und gab ihr Gewalt über neun Welten, daß sie denen Wohnungen anwiese, die zu ihr gesendet würden: solchen nämlich, die vor Alter oder an Krankheiten starben.“
VII 1. c) Hrafnkell-Saga
Die Germanen warteten mit Hinrichtungen stets bis zur Mittagszeit. Dies könnte damit zusammenhängen, daß man davon ausging, daß des nachts getötete Männer in das dunkle Niflheim im Norden gelangten und am getötete Männer in das helle Muspelheim im Süden.
Da ergriffen sie Hrafnkell und seine Männer und banden ihre Hände rückwärts zusammen. Hierauf erbrachen sie den Außenbau und zogen die Seile von den Haken herunter; dann nahmen sie ihre Messer und stachen Löcher in die Kniekehlen der Gefesselten, zogen hindurch die Seile, warfen diese über die Stange und banden dergestalt acht zusammen.
Da sprach Thorgeirr: „So bist Du nun, Hrafnkell in die Lage gekommen, welche Du verdient hast, und es mochte Dir wohl unwahrscheinlich geschienen haben, daß Du solche Schmach von einem Manne erleiden solltest, wie Dir jetzt zuteil geworden ist. Aber was willst Du, Thorkell, jetzt tun? Hier bei Hrafnkell sitzen und ihn und die seinigen bewachen, oder Dich mit Samr auf Pfeilschußweite vom Hofe entfernen und auf einem steinigen Hügel, wo weder Acker noch Wiese ist, das Exekutionsgericht vollziehen?“
Dies sollte zu der Zeit geschehen, wenn die Sonne gerade im Süden stünde.
Thorkell antwortete: „Ich will hier bei Hrafnkell sitzen; dies scheint mir weniger beschwerlich.“
VII 1. d) Saga über Thorstein Viking-Sohn
Die Wikinger vermieden es, einen Mann in der Nacht zu töten.
VII 1. e) Saga über Thorstein Viking-Sohn
Inzwischen gelang es ihnen, Thorstein mit Schilden zu umgeben und ihn gefangenzunehmen. Aber es war schon beinahe Nacht, sodaß sie fanden, daß es schon zu spät sei, um ihn zu töten, sodaß man Fesseln an seine Füße legte und seine Hände mit einer Bogensehne band. Zwölf Männer hielten die Nacht über Wacht rings um ihn.
VII 1. f) Die Vision der Seherin
In diesem sehr alten Lied wird die Halle der Hel näher beschrieben. Ihre Lage im Norden wird hier etwas unpräzise mit „nordwärts gerichtete Türen“ angegeben – von der Hel aus kann man nie die Sonne sehen …
Einen Saal seh ich, der Sonne fern
Am Leichen-Strand, die Türen sind nordwärts gekehrt.
Gifttropfen fallen durch die Fenster nieder;
Mit Schlangenrücken ist der Saal gedeckt.
Im starrenden Strome stehn da und waten
Meuchelmörder und Meineidige
(Und die andrer Liebsten ins Ohr geraunt).
Da saugt Nidhögg die entseelten Leiber,
Der Menschenwürger: wißt ihr, was das bedeutet?
VII 1. g) Wegtam-Lied
In diesem Lied reitet Odin zu „Hels Haus“ in die Unterwelt, die hier „Niflheim“ genannt wird.
Auf stand Odin der Allerschaffer,
Und schwang den Sattel auf Sleipnirs Rücken.
Nach Nifelheim hernieder ritt er;
Da kam aus Hels Haus ein Hund ihm entgegen,
Blutbefleckt vorn an der Brust,
Kiefer und Rachen klaffend zum Biß,
So ging er entgegen mit gähnendem Schlund
Dem Vater der Lieder und bellte laut.
Fort ritt Odin, die Erde dröhnte,
Er kam zu dem hohen Hause der Hel.
Da ritt Odin ans östliche Tor,
Wo er der Wala wußte den Hügel.
Das Wecklied begann er der Weisen zu singen,
(Nach Norden schauend schlug er mit dem Stabe,
Sprach die Beschwörung Bescheid erheischend)
Bis gezwungen sie aufstand Unheil verkündend.
Die Toten beschwor man offenbar nach Norden gewand – folglich mußte man sie wohl im Norden vermuten. Dazu paßt auch, daß die Türen der Hügelgräber im Süden lagen – man ging also in Richtung Norden in das Hügelgrab hinein und somit auch in das Jenseits.
VII 1. h) Gylfis Vision
Auch in diesem Jenseit...