1 Nichtexistenzielle und existenzielle Bedrohungen
Bei Sicherheitsüberlegungen für die ganze Menschheit ist zu unterscheiden, ob eine Bedrohung existenziell ist, also das Ende der Menschheit bedeuten könnte, oder nicht. Existenzielle Bedrohungen können zum Aussterben der Menschheit führen. Die meisten Bedrohungen sind nicht existenziell, können aber von katastrophalem Ausmaß sein; man denke an die Pestzüge des Mittelalters. Ein solches Massensterben von Menschen ist nicht automatisch eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit. Dennoch gilt es so etwas zu verhindern.
Die Unterscheidung zwischen existenziellen und nichtexistenziellen Bedrohungen wird in diesem Buch nicht konsequent durchgehalten. Denn es ist nicht möglich, eine Bedrohung als eindeutig existenziell oder nichtexistenziell zu identifizieren. Dies hängt letztendlich vom Endeffekt ab, den die Bedrohung auf die Menschheit gehabt haben würde: Eine nichtexistenzielle Bedrohung könnte in Zukunft zu einer existenziellen Bedrohung werden. Und nach einer manifest gewordenen existenziellen Bedrohung gäbe es keinen Menschen mehr, der die Bedrohung abschließend als solche einordnen könnte.
Die Beschäftigung mit Bedrohungen – ob existenziell oder nicht – kann niemals allumfassend sein. Wir können im Vorhinein nicht wissen, ob eine wahrgenommene Bedrohung eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit ist. Dieses Unwissen ist uns bekannt.
Über die Unsicherheit des Sicherheitswissens
Der ehemalige Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten Donald Rumsfeld ist nicht nur für die Vorbereitung völkerrechtswidriger Angriffskriege gegen Afghanistan und den Irak bekannt, sondern hat durch seine Aussage auf einer Pressekonferenz vom 12.12.2002 eine rege erkenntnisphilosophische Debatte ausgelöst.
Rumsfeld wurde damit konfrontiert, dass es keine Anhaltspunkte für Massenvernichtungswaffen auf Seiten des ehemaligen US-Verbündeten, jedoch inzwischen verfeindeten irakischen Präsidenten Saddam Hussein gab. Mit seiner Erwiderung wich Rumsfeld der Frage aus. Daher ist der Vorwurf, er habe mit einer verwirrenden Antwort davon ablenken wollen, dass die Kriegsgründe für den vorherigen Angriffskrieg vorgeschoben waren, durchaus berechtigt. Dafür wurde seine Aussage als kondensierte Verdichtung einer philosophischen Debatte anerkannt [2]. Hier zunächst das Rumsfeld-Zitat im Original:
“[…] there are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns – the ones we don’t know we don’t know.” (Donald Rumsfeld)
Hier die wörtliche Übersetzung:
„Es gibt bekannte Bekannte, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt; das heißt, wir wissen, es gibt einige Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“
Oder als leicht modifizierte Übersetzung:
„Es gibt bekanntes Wissen, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekanntes Nicht-Wissen gibt; das heißt, wir wissen, es gibt einige Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekanntes Nicht-Wissen – es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“
In Rumsfeld Aussage sind drei Dimensionen enthalten:
- bekannte Bekannte (bekanntes Wissen)
- bekannte Unbekannte (bekanntes Nicht-Wissen); gewissermaßen bekannte Fragen mit unbekannter Antwort)
- unbekannte Unbekannte (unbekanntes Nicht-Wissen; unbekannte Fragen; Existenz der Frage nicht bekannt)
Eine weitere Dimension, die known-unknown-Konstellationen wurde von dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek nachgeliefert [3, 4]. Žižek verbreitete seine Aussage auf der Internetplattform Youtube:
“I think he [Rumsfeld] should have gone on. Making the next step to the fourth category, which is missing, which is not the known unknowns but the unknown knowns. Things we don’t know we know them. We know them they are part of your identity, they determine our activity, but we don’t know that we know them […] The tragedy of today’s American politics is that they are not aware of theses unknown knowns, which is why […] Americans don’t even control themselves.” (Slavoj Žižek)
Demnach besteht die vierte Konstellation aus den unbekannten Bekannten (unbekanntem Wissen), also aus Dingen, von denen wir nicht wissen (wollen), dass wir sie wissen, die also eigentlich bekannt sind, aber nicht eingestanden werden. Žižek verweist ausdrücklich auf das psychoanalytische Konzept des Unterbewussten.
Die vier Dimensionen des Wissens lassen sich wie folgt in einer Vierfeldertafel kreuztabellieren (Tabelle 1).
Tabelle 1: Vierfeldertafel zur Darstellung von Bekanntheit vs. Nicht-Bekanntheit von Bekanntem vs. Unbekanntem
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Wissen |
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Wissen (Bekanntes) |
Unwissen (Unbekanntes) |
| Metawissen |
bekanntes |
bekanntes Wissen |
bekanntes Unwissen |
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unbekanntes |
unbekanntes Wissen |
unbekanntes Unwissen |
Gerade die nicht vorhergesagten Ereignisse sind es, die oftmals den Lauf der Dinge beeinflussen und die Weltgeschichte prägen, wie Nassim Taleb in seinem Buch der Schwarze Schwan ausführlich dargelegt hat [5].
Während ein Oxymoron den Widerspruch unabhängig von der Einstellung des Betrachters in sich trägt, können Widersprüche auch erst in Abhängigkeit von der Interpretation des Betrachters entstehen. Solche „Pseudooxymorons“ werden häufig mit propagandistischen Effekten in Nachrichten verwendet. Beispiel hierfür sind „humanitärer Kriegseinsatz“ oder „freundlicher Beschuss“. Derartige im Auge des Betrachters entstehende Widersprüche laden zu ironisch-humoristischen Überspitzungen ein, wie z.B. in den Pseudooxymorons „military intelligence“ oder „schöpferische Zerstörung“. Oder „nachhaltiges Wachstum“ und „Homo sapiens“ (weiser/vernünftiger Mensch); Pseudooxymorons, deren Absurdität in diesem Buch aufgezeigt werden soll.
2 Die Nichtnachhaltigkeit Nachhaltigen Wachstums
Al Bartlett war ein Physiker an der Universität Colorado in Boulder, der am 7. September 2013 im Alter von 90 Jahren starb. Bekannt geworden war er vor allem durch eine einstündige Vorlesung „Arithmetik, Bevölkerung und Energie“, die er seit 1969 bis zu seinem Tod insgesamt 1742 Mal gehalten hat. Jede dieser Vorlesungen begann er mit dem Satz: „Die größte Schwäche der Menschheit ist das Unvermögen, die Exponentialfunktion zu verstehen“ [6].
Stabiles Wachstum oder nachhaltiges Wachstum – das klingt erst mal gut und unproblematisch. Bartlett legt dann aber beeindruckend verständlich dar, was das überhaupt bedeutet. Um zu illustrieren, was ein stabiles prozentuales Wachstum von zum Beispiel 5 % bedeutet, gibt er dem Zuhörer eine einfache Faustformel zur Berechnung der Verdoppelungszeit der Ausgangsgröße an die Hand:
Verdoppelungszeit = 70/Wachstum in Prozent
Für unser Beispiel (Wachstum 5 % pro Jahr) beträgt die Verdoppelungszeit demnach 70/5 = 14 Jahre (70 ist in etwa der ln 2 x 100).
Stellen wir uns eine Kleinstadt mit 60.000 Einwohnern vor – das war die Größe von Boulder/Colorado im Jahr 1969, als Bartlett zum ersten Mal seine Vorlesung zum Unvermögen der Menschheit, die Exponentialfunktion zu verstehen, hielt. Das Bevölkerungswachstum der Stadt liege stabil bei 5 % pro Jahr. Mit obiger Faustformel haben wir die Verdoppelungszeit auf 14 Jahre berechnet. Hätte das jährliche Wachstum Boulders zu Lebzeiten Bartletts stabil bei 5 % gelegen, hätte sich die Bevölkerungszahl im Jahr 1983 auf 120.000 verdoppelt, wiederum 14 Jahre später, im Jahr 1997 auf 240.000 vervierfacht und schließlich im Jahr 2011 auf 480.000 verachtfacht. Dieses einfache Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass sich hinter „stabilem prozentualem Wachstum“ die Exponentialfunktion verbirgt. (In Wirklichkeit hatte Boulders im Jahr 2011 nur etwa 100.000 Einwohner.)
Die Erdbevölkerung lag im Jahr 1986 bei 5 Milliarden Menschen mit einer Wachstumsrate von 1,7 % (Verdoppelungszeit 70/1,7 = 41 Jahre); im Jahr 1999 bei 6 Milliarden Menschen mit einer Wachstumsrate von 1,3 % (Verdoppelungszeit 70/1,3 ...