Was die Wörter flüstern
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Was die Wörter flüstern

Hommage an die Sprache 2. verbesserte Auflage

  1. 112 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Was die Wörter flüstern

Hommage an die Sprache 2. verbesserte Auflage

Über dieses Buch

Durch die oft Jahrtausende alte Geschichte eines Wortes kann man tief in sein Wesen hineinhorchen, kann man seine innere Welt der Sinne und Sinnlichkeit hören… man kann seine Aura spüren…In verschiedenen Abhandlungen habe ich wiederholt behauptet, dass oft die Sprache klüger ist als der Sprecher – das ist meine Überzeugung! Folglich kann ich dieses Buch nicht anders als eine Hommage an die Sprache verstehen – besonders an die Deutsche Sprache!

Häufig gestellte Fragen

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Information

II – ERWEITERTE GEFLÜSTER

Illusion, Konfusion

Das Wort Illusion hat schwerwiegende und denkwürdige Bedeutungen: trügerische Hoffnung, Selbsttäuschung, idealisierte, falsche Vorstellung von der Wirklichkeit. Natürlich durch dasselbe Wort ist auch „Täuschung von Raum und Tiefe in Bildern, Theater und Film“ oder „Zauberkunststücke, die oft im Zirkus zu sehen sind“ zu verstehen. Die letzteren, amüsanten, unterhaltsamen oder witzigen Bedeutungen ziehen wir nicht in Betracht. Die Herkunft des Wortes Illusion ist das lateinische lūdus (Spiel). Auch wenn am Anfang lūdus eine ernsthafte Angelegenheit bezeichnete – u.a. die religiösen „Spiele“ zur Ehrung der Toten – hat man später unter diesem Wort eher etwas Lustiges verstanden: Posse treiben, spielen, täuschen. Illūdere, wovon illūsio kommt, bedeutet täuschen, betrügen, verspotten. Es ist zu merken, dass die „schwerwiegenden und denkwürdigen“ Bedeutungen des heutigen Wortes Illusion im lateinischen illūsio kaum ablesbar sind.
Wie allgemein bekannt bedeutet Konfusion Verwirrung, Verworrenheit, etwas, das durcheinander gebracht ist – auch nicht gerade amüsant. Herkunft: das lateinische Wort fundō (schmelzen, zerstreuen), wovon con-fundō (ineinander-gießen/schmelzen, verwechseln) und con-fūsiō (Verwechslung, Konfusion) entstanden.
Neuere Erkenntnisse der Wissenschaft (Neuropsychologie) veranlassen zu der Annahme, dass die Illusion eng verbunden mit der Konfusion ist. Hier, sehr verkürzt, „der Mechanismus“ dieses Zusammenhangs: Bevor man eine Entscheidung trifft (z.B. einen Kredit aufzunehmen, oder eine Serie von Kriegen anzufangen, um Herrscher über die ganze Welt zu werden – spielt keine Rolle welche!), wird mit Hilfe der Vernunft die Situation konkret und logisch analysiert. Dabei werden Aussichten, Vorteile, Nachteile, Risiken usw. aufgelistet. Alle diese Aspekte werden möglichst getreu der Wahrheit nach deren „Gewicht“, sprich Wichtigkeit, bewertet. So entsteht eine Skala der Wichtigkeiten und Prioritäten, nach welcher die Entscheidung getroffen wird, oder nicht. Anatomisch und physiologisch ist bewiesen, dass in diesem Bewertungsprozess nicht nur die Vernunft am Werke ist, sondern, unter vielen anderen, auch emotionale Impulse, die unvermeidlich im Unterbewusstsein mitwirken. Diese markieren positiv oder negativ, entsprechend der persönlichen Neigungen oder Abneigungen, einige Aspekte der gegebenen Situation. Die Wichtigkeiten und Prioritäten, die die Vernunft ohne jeglichen Einfluss, nur gemäß der Wahrheit, festgelegt hätte, sind jetzt modifiziert. Die Entscheidung, die auf dieser Basis getroffen wird, ist, was das Gelingen betrifft, illusorisch –weil sie nicht mehr nur an der Wahrheit orientiert ist. Der Entscheidende ist Opfer einer Illusion. Die Quelle dieser Illusion ist eine Konfusion, eine Verwechslung der richtigen Prioritäten, die durch reine Vernunft festgelegt werden sollten, mit den Prioritäten, die unter dem Einfluss der emotionalen Impulse festgelegt worden sind. Die Konfusion erzeugt die Illusion.
Die Wahrheit finden, verstehen und respektieren, sind die bedeutsamsten menschlichen Tätigkeiten. Die Wahrheit kennen ist Grundbedingung und zugleich Treibkraft für den Fortschritt und die Zivilisation. Man kann sagen: Der Mensch ist der Wahrheit verpflichtet und – warum nicht? – er ist mit der Wahrheit auf ewig verlobt. Wenn der Mensch Opfer einer Konfusion oder gar einer davon entstandenen Illusion ist, scheidet er sich von seiner Verlobten – der Wahrheit. Früher oder später wird die törichte Untreue mit Sicherheit bezahlt. Denn die betrogene Verlobte-Wahrheit präsentiert dem, der inbrünstig an Illusion geglaubt hat, die Rechnung: die Desillusion. Dem Sich-täuschen folgt immer das Enttäuscht-sein! Die Desillusion-Rechnung ist oft sehr hoch: von Pleiten und kaputtgegangenem Privatleben bis hin zu Imperien die zusammenstürzen oder zerstörten Ländern. Ja, die Wahrheit ist eine anspruchsvolle Braut! Ihre Feinde sind, neben der Lüge, die Konfusion und die Illusion.
Das sind die schwerwiegenden und denkwürdigen Bedeutungen dieser Wörter. Die Griechen in der Antike haben die Illusion in diesem Sinne verstanden. Um das Phänomen Illusion zu bezeichnen, wendeten sie abgeleitete Wörter von planáomai (umherirren, sich von dem Weg entfernen) an, die mal den Betrüger, mal denjenigen, der von dem guten Weg sich entfernt oder den, der das Volk irreführt, bedeuteten. Noch mehr: Für die Illusion benutzten die Griechen auch Wörter von der Familie mátaios (unbegründete, unüberlegte, sinnlose Aktionen, oder verrückte, sündhafte, sogar kriminelle Menschen). Als leidenschaftliche Wahrheitsanbeter, haben die Griechen die Gefährlichkeit des Phänomens Illusion am besten und am frühesten verstanden.

Friedhof, Anfang, Ende

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt’s allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht (Johannes Evangelium, 12, 24). Botanisch vollkommen richtig! Doch wir haben alle Gründe, diesen Satz nicht als eine landwirtschaftliche Lektion, sondern als ein Gleichnis mit bedeutungsvoller Aussage zu betrachten – wie das so oft in den Heiligen Schriften der Fall ist. Da der Tod (des Weizenkorns) mit einem In-die-Erde-Fallen in Verbindung gebracht wird, besteht kein Zweifel, dass hier eigentlich an den Menschen – immer nach dem Tod be-erdigt! – gedacht ist. Mit Sicherheit ist in diesem Zitat über die Unsterblichkeit der Seele, über ein Leben nach dem Tod die Rede.
Für uns Menschen ist die Geburt der wichtigste Anfang, wie der Tod das wichtigste Ende ist. Zwischen den beiden Punkten erleben wir eine lange Kette von Anfängen und Enden: Kindheit, Ausbildung, Karriere, Arbeitsplätze, Wohnungen, manchmal Ehen, Krankheiten – alle haben einen Anfang und ein Ende. Das ist wohl bekannt und wahr! Dementsprechend zieht ein Anfang mit Notwendigkeit ein Ende nach sich. Richtig! – aber ungenügend. Denn wir machen oft einen Fehler: Wir stellen uns den Anfang und das Ende vor, als ob die jeweils am ersten und am letzten Punkt einer geraden Linie stünden. Eine oberflächliche Vorstellung, die eher grundschulmässig anmutet! Gerade das Zitat von Johannes lenkt die Aufmerksamkeit auf die Idee, dass nicht nur der Anfang ein Ende nach sich zieht, sondern auch das Ende einen neuen Anfang bedeutet. Die Wirklichkeit so verstanden als ununterbrochene Kette von Anfängen und Enden, wo einem Ende ein Anfang folgt, wird das Schema unserer Vorstellung nicht mehr eine Linie, sondern ein Kreis sein. Es entsteht die Idee der Zyklizität. Tatsächlich schon vor Sokrates haben die Philosophen (unter anderem Heraklit) verstanden, dass „alles fließt“, dass sich alles in ununterbrochener Umwandlung befindet, und so das Ende eines „Etwas“, sei es ein Ding oder ein Zustand, immer der Anfang von einem anderen „Etwas“ bedeutet. Auch die nüchterne moderne Physik behauptet durch den Energieerhaltungssatz im Grunde das Gleiche: „Die Gesamtenergie in einem geschlossenen System bleibt konstant“ – auch wenn verschiedene Energieformen umgewandelt werden, z.B. Bewegungsenergie in Wärme. Das heißt: dass das Ende (Erschöpfung) der Bewegungsenergie in einem gegebenen System nicht ihren endgültigen Verlust bedeutet, sondern die Entstehung – siehe Anfang! – der selben Menge an Wärmeenergie. Ähnlich ist auch der Massenerhaltungssatz in Chemie und Physik zu verstehen.
Viele Philosophen der Antike und der Neuzeit, aber auch Religionen, behaupten, dass nach dem wichtigsten Ende für den Menschen, dem Tod, ein Anfang stattfindet – Unsterblichkeit der Seele wird die Theorie genannt. Andere Lehren sprechen von der Reinkarnation der Seele nach dem großen Ende. Auch für die skeptisch, materialistischpragmatisch eingestellten Menschen, die nicht an ein Leben nach dem Tod glauben können/wollen, bedeutet dies endgültige Ende trotzdem einen Anfang – zumindest für die Hinterbliebenen, die ein Leben ohne den Verstorbenen beginnen müssen.
Der Weg von einem Anfang zu einem Ende ist viel einleuchtender und leichter nachzuvollziehen als der, von einem Ende hin zu einem neuen Anfang. Im ersten Fall könnte die Rede von einer Linie sein, denn selbst der Weg ist ein progressiver Verbrauch. Aber der Werdegang von einem Ende zu einem neuen Anfang ist eher eine delikate und anspruchsvolle Schnittstelle, da auch eine „Geburt“ stattfindet. Für alle Menschen ist die symbolische Schnittstelle zwischen deren wichtigstem Ende und einem noch unbekannten Anfang der Friedhof. Die Geschichte dieses Wortes – Friedhof – zeigt die Eigenschaften, die die anspruchsvolle Schnittstelle haben muss, um ein Ende in einen Anfang umwandeln zu können.
In germanischen Sprachen bedeutete das Wort frīda- „gepflegt, schön“. In Gotisch bedeutete das Wort freidjan „schonen“. Daraus entstanden die altdeutschen Wörter frei, freien, Freund, Friede und frīten (hegen, schonen, pflegen). Die Annäherung von frīten mit „hof“ erzeugte frīthof (eingefriedetes Grundstück). Später ist das Wort als Bezeichnung des Kirchhofs benutzt und an das Wort Friede angeglichen worden. Es entstand Friedhof, als „Immunitätsland“ verstanden, auf das die Beamten kein Angriffsrecht hatten (!).
In dem Wort Friedhof klingen unterschwellig Begriffe wie gepflegt und schön sein, hegen und schonen, Frieden – unterstützende Ortseigenschaften, nicht nur um Pietät gegenüber den Toten zu zeigen, sondern auch um die eigene Trauer zu verarbeiten, d.h. aus dem Ende einen Anfang machen zu können.
Das andere in europäischen Sprachen sehr verbreitete Wort für Friedhof stammt von Griechisch: koimētērion. Dieses wurde ins Lateinische übernommen (coemeterium) und danach ins Französische (cimetière), Englisch (cemetery), Spanisch (cementerio) usw. In vorchristlichen Zeiten koimētērion bedeutete Schlafzimmer. Es ist ein Derivat von keimai (platziert sein, liegen, sich befinden) und weiter von koitē (liegen, Bett, Nest und Ehebett). Es ist zu merken, dass auch Wörter, wie „Gemahlin“ (akoitis) und auch „Lager“ im Sinne Schlafstätte für Soldaten (koitē), von derselben Familie stammen. Vielleicht erklärt es sich so, warum in unserem Zitat das Weizenkorn „allein bleibt“, wenn es „nicht in die Erde fällt und erstirbt“ – also wenn es, eben wie die Menschen(!), nicht in einem koimētērion zu Ruhe, in Gemeinsamkeit, sich zurückzieht. Im noch laizistischen koimētērion sind Spuren von der Idee eines Ehebettes, einem Lager, in welchem mehrere Menschen sich versammeln, um in Ruhe zu schlafen, und sogar Spuren von der Idee einer Gemahlin geblieben. Erst in christlichen Texten bekommt koimētērion dieselbe Bedeutung wie das aktuelle Wort Friedhof.
Legen wir die unterschwelligen Bedeutungen der Wörter Friedhof und koimētērion zusammen. Die Schnittstelle zwischen Ende und Anfang zeigt sich dann als ein Ort, wo Ruhe, Schonung und Frieden herrschen; ein Ort, wo man durch Schlaf zu Kräften kommt, um etwas Neues anzufangen, schließlich ein Ort, wo Ende, Ruhe und gar Schlaf nicht unbedingt Alleinsein bedeuten müssen. Ein schöner Ort – so schön wie der Mutter Leib fürs Kind, bevor der größte Anfang sein Wort gesprochen hat!
Nicht nur wenn die Rede von Geburt und Tod ist, sondern in allen Angelegenheiten, wo der Mensch mit einem Ende konfrontiert wird, gleichen die Eigenschaften dieser magischen Schnittstelle einer Gedankengrammatik für die Begegnung mit dem immer wiederkehrenden „Danach“.
Zugegeben: Der Umwandlungsprozess vom Ende in einen Anfang ist schwer nachzuvollziehen, hat auch einen Hauch von Mysterium, für manchen ist er gar Alchemie. Er ist aber wahr – wenn man es will… Er ist die Alchemie der Hoffnung!

Linie, Kreis

Klarstellung: In dem folgenden Text wird unter dem Begriff „Linie“ eine gerade Linie, eine Gerade verstanden. Unter „Kreis“ können auch ein Oval bzw. eine Ellipse und überhaupt alle Kegelschnitte verstanden werden, die eine geschlossene, „glatte“ Kurve darstellen. Alle erwähnten geometrischen Figuren sind im Sinne der traditionellen euklidischen Geometrie zu betrachten.
Um mehr Deutlichkeit zu gewinnen, greifen unsere Vorstellungen zu Bildern: Sie drücken sich durch Bilder aus. Wir verbildlichen die Welt. Es ist nur Sache und Können der Wissenschaftler, ein Objekt ihren Interesses in jeweils spezifischer „Sprache“ – z.B. mathematischer – zum Ausdruck zu bringen; obwohl, gemäß einiger Geständnissen (u.a. Einstein), parallel zu dem fachlichen Beschreibung/Diskurs verbildlichen sie auch deren Vorstellungen.
Um mehrere in der Wirklichkeit miteinander verkettete Phänomene, Zustände und auch Gegenstände bildlich zu erfassen, greift unsere Vorstellungskraft oft zu einem Muster/Schema. Der Klarheit wegen soll dies so einfach und so ausdrucksvoll wie möglich sein. Dafür eignen sich am besten geometrische Figuren oder vereinfachte zeichnerische Skizzen. Der Werdegang einer alten Familie z.B. wird wie ein stilisierter/skizzierter Baum verbildlicht (Stammbaum). Über das nicht nachvollziehbare Verschwinden von Geld eines Unternehmens oder Steuergeld, wird man sagen, es sei „in dunklen Kanälen“ versickert – auch ein Baum, aber auf den Kopf gestellt! Die erfreulichen Zahlen in Wirtschaft- Finanz- und Börsenwelt werden als emporsteigende Linien dargestellt, während die unerfreulichen, angstbringenden Zahlen aggressive schnittige Zacken und Brüche der positiven Linien bilden. Eine unglückliche „Dreierbeziehung“ – wie sie, unter vielen anderen, der norwegische Mahler Edward Munch mit dem Schriftsteller August Strindberg und dessen Frau hatte – wird oft als ein Dreieck vorgestellt (in seiner Verzweiflung hat der Maler selbst wiederholt ein solches skizziert und Lebens „Trimurti“ genannt).
Aber solche Verkettungen lassen sich mit der geraden Linie oder mit dem Kreis am besten bildlich darstellen. In Verbildlichungsprozessen zeigen sich die Gerade und der Kreis als erstaunlich ausdrucks- und bedeutungsvoll. Wäre es nicht der Fall, hätte ich diese beiden Figuren nicht ins Gespräch gebracht, denn sie haben außerhalb deren symbolischer Funktion in Vorstellungsprozessen, sehr klare und allgemein bekannte Bedeutungen. Aus demselben Motiv wird hier auch auf die Etymologie der beiden Begriffe verzichtet.
Der Verbildlichungsprozess unsrer Vorstellungen, d.h. der Prozess des Vergleichens und Angleichens der in Wirklichkeit existierenden Verkettungen mit geometrischen Figuren ist das Werk sowohl von Vernunft und Verstand, als auch von Fantasie und Sensibilität. Das ist außer Frage, weil die so gebildeten Vorstellungen sowohl Wirklichkeit, als auch Fantasie, Poesie, Fabel in deren Aussage eindeutig besitzen; sie können sogar als Metapher funktionieren. Um besser zu begreifen, was Gerade und Kreis verbildlichen können, müssen wir uns deren Wesen ebenso annähern: mit Vernunft, Verstand, aber auch mit Fantasie, Sensibilität und – warum nicht? – poetisch. Nur so könnte unser Denken kräftig duften wie ein Kornfeld am Sommerabend – wie Nietzsche so schön sagte. Wer ist der Kreis? Wer ist die Gerade?
Stellen Sie sich einen Kreis vor. Wählen Sie einen Punkt A (wie Anfang) am besten unten aus. Beginnen Sie eine „Reise“ entlang der runden Linie, die den Kreis abgrenzt. Früher oder später werden Sie wieder an den Punkt A gelangen. Fangen Sie erneut die „Reise“ an: das Gleiche wird passieren. Was hat dieses Spielchen zu bedeuten? Durch seine Wesensart zwingt Sie der Kreis immer wieder zum Anfang, immer wieder zum Ursprung zurückzukehren. Es ist ein regelmäßiges Insich-zurückkehren, es ist eine Art ontologischer Affekt. Und das ist noch nicht alles: Bei der Wiederholung des „Abenteuers Kreis“ wird auch das Phänomen Gedächtnis suggeriert. Das erneute „Durchfahren“ aller Punkte, die den Kreis bilden, verschafft dem „Reisenden“ das Gefühl, sich auf bekanntem Wege zu befinden, mit anderen Worten: Vertraulichkeit und Behaglichkeit. Es ist hier nötig zu betonen, dass die Umstände und Bedeutungen, die beim „Wiederkommen“ auf einen Punkt gelten, jeweils unterschiedlich sind – sei es auch nur wegen des Zeitverlaufs und der mittlerweile erworbenen Erfahrung des Subjektes. Es ist wie im realen Leben: man versteht und meistert besser eine Situation, die Ähnlichkeit mit einer schon erlebten hat. Die wiederholte „Reise“ auf einem Kreis suggeriert auf keinen Fall eine dumpfe Stagnation sondern eher eine Evolution. Ja, der Kreis spricht über Ursprung, über Gedächtnis, Vertraulichkeit und über die Evolution.
Nicht so die Gerade. Beim Versuch eine „Reise“ entlang einer geraden Linie zu unternehmen, wird man bald feststellen, dass kein Punkt neu „durchfahren“ wird, keine Wiederhollung vorkommt. Man befindet sich immer auf neuem Gebiet. Keine Spur von einer Rückkehr zum Ursprung. Die Gerade hat keinen ontologischen Affekt. Und das ist noch nicht alles:...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhaltsverzeichnis
  2. Über Samen, Blumen, Gärten und Wörter (anstatt eines Vorwortes)
  3. I – ETYMOLOGISCHE GEFLÜSTER
  4. II – ERWEITERTE GEFLÜSTER
  5. Impressum