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Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung
Denkübungen zur Weitung des Horizonts
- 116 Seiten
- German
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Liberalismus im Zeitalter der Globalisierung
Denkübungen zur Weitung des Horizonts
Über dieses Buch
Das 21. Jahrhundert steht im Zeichen der Globalisierung. Der Welthandel entwickelt sich exponentiell. Die Mobilität von Waren, Kapital, Menschen und Ideen nimmt stetig zu. Die Menschheit wächst zu einer Weltgesellschaft zusammen, in der das Wohl der einzelnen Nation von dem aller anderen abhängt. Dabei hebt sich der Lebensstandard der meisten Menschen in den meisten Ländern in einer geschichtlich einmaligen Weise. Grundlage dieser epochalen Veränderungen ist der Liberalismus. Das vorliegende Buch soll einer scheinbar verstaubten Idee aus vorigen Jahrhunderten eine neue Perspektive in einem weiteren Horizont geben.
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Information
PHILOSOPHISCHE PROBLEME
Die Komplexität der Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts nahm im Vergleich zum neunzehnten Jahrhundert zu. Insbesondere in der zweiten Hälfte traten zwei Faktoren auf, die eine Weiterentwicklung der liberalen Gesellschaftstheorie erfordern: a) Der Sozialismus wurde in zwei Schritten überwunden, die freie Welt dehnte sich nach Osten und Süden aus. b) Der Welthandel explodierte geradezu und der globale Norden und Süden rückten zusammen. Das hatte Auswirkungen auf die Gesellschaft in den hochentwickelten Ländern. Ideen, die vormals von sozialistischer Seite mit revolutionärer systemkritischer Absicht vorgetragen wurden, konnten in den Liberalismus (im weiteren Sinne) integriert werden. Im folgenden sollen einige der philosophischen Probleme beleuchtet werden, die sich aus der Zunahme der Komplexität und den sich erweiternden Freiheitsgraden hochentwickelter Gesellschaften ergeben. Die Untersuchungen betreffen das methodologische Fundament der liberalen Gesellschaftstheorie, doch sind die Probleme alles andere als abstrakt. Wer das Wesen der Gesellschaft verstehen will, muss verstehen, welche Motive handelnde Menschen antreiben.
Die liberale Gesellschaftstheorie im Spiegel der Vier Elementaren Beziehungsmodelle
von Helmut Krebs
In Steven Pinkers epochalem Geschichtswerk „Gewalt“ findet sich unter den „besseren Engeln“ (Kapitel 9, Moral) eine Zusammenfassung von Alan P. Fiskes Theorie „The Four Elemantary Forms of Sociality: Framework for a Unified Theory of Social Relations“2. Fiske liefert eine Gesamtdarstellung der Theorien über Beziehungsmodelle. Durch die Zuordnung von Teilaspekten einer sehr breiten anthropologischen und psychologischen Forschung zu genau vier elementaren Beziehungstypen (siehe unten), schafft er einen Erklärungsrahmen für alle historisch-konkreten Erscheinungsformen von Beziehungen. Elementare Beziehungstypen sind solche Konzepte, auf die sich die historisch-konkreten Beziehungen reduzieren lassen. In reiner Form kommen sie im Rahmen von entwickelten Gesellschaften selten vor. Sie spielen im individuellen Handeln als Rahmenmodelle zusammen, konkurrieren miteinander, wechseln sich als Handlungskonzepte ab und mischen sich. Den Beziehungsmodellen sind vier Typen moralischer Wertungsrahmen zugeordnet. Die Beziehungstypen prägen gesellschaftliche Institutionen und Ideologien.
Ludwig von Mises legte mit seinem Hauptwerk „Nationalökonomie“ (1940) (in der erweiterten und veränderten englischen Ausgabe „Human Action“, 19493) eine Theorie des menschlichen Handelns (Praxeologie) und eine Theorie des Marktgetriebes (Katallaktik) vor. Letzteres, die Makroökonomie, wird als Summe und Zusammenspiel individuellen Handelns, der Mikroökonomie, verstanden. Beide Teile zusammen ergeben eine Gesellschaftstheorie, die eng mit der politischen Strömung des Liberalismus verbunden ist. Es handelt sich um eine umfassende, grundlegende und konsistente liberale Gesellschaftstheorie. Die Forschungen Fiskes wurden ein halbes Jahrhundert nach Mises Werk veröffentlicht. Der liberale Sozialphilosoph kannte die Forschungsergebnisse der Psychologie, insbesondere Sigmund Freuds, die der Soziologie, insbesondere die Max Webers und die geisteswissenschaftlichen Positionen Diltheys, Windelbands und Rickerts, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind, wenigstens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Er konnte aber schwerlich zu der Zeit, als er sein Grundlagenwerk schrieb, Kenntnisse von der ethnologischen und anthropologischen Forschung haben, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurde. Es ist daher interessant, Mises Handlungstheorie im Lichte der fiskeschen Forschungsergebnisse zu beleuchten und kritisch zu untersuchen. Möglicherweise ergeben sich in der Folge Theoreme, die eine Weiterentwicklung des Liberalismus begründen können.
Zusammenfassung der Vier Elementaren Beziehungsmodelle
Die vier Modelle sind
- Communal sharing (CS, gemeinschaftliches Teilen)
- Authority ranking (AR, Hierarchiebildung)
- Equality matching (EM, Gleichstellung)
- Market prizing (MP, indirekter Tausch)
Weitere Beziehungsmodelle lassen sich bis heute nicht auffinden. Weder bieten die Felduntersuchungen der Ethnologen und Anthropologen noch die Studien der Psychologen Material, das nicht durch die vier elementaren Modelle erklärt werden kann, noch lässt sich formal ein fünftes Modell konstruieren, für das sich empirische Belege heranziehen ließen. Ich gebe hier eine knappe Zusammenfassung der Modelle4:
CS
Das Paradigma des Comnunal sharing ist die Mutter-Kind-Duade in der Brutpflege. CS finden wir in einer ursprünglichen Form in den ältesten menschlichen Gemeinschaften, den Familien und Horden. Es ist damit eine Art Urkommunismus gemeint. Es gibt kein Privateigentum. Alle vereinigen sich zur gemeinsamen Arbeit und konsumieren das gemeinsame Produkt nach ihren Bedürfnissen. Es gibt keine Verrechnung von Leistungen. Gemeinschaften bieten Schutz, Geborgenheit und Lebensunterhalt. Sie fordern die Einordnung in eine Gruppe von Gleichartigen. Die Mitglieder teilen materielle Güter und kulturelle Werte. Sie kommen nicht ohne Leitfigur aus. Der oder die Älteste oder ein Schamane bilden ein quasi-mütterliches Zentrum. Pinker bringt CS mit dem Hormon Oxytozin in Verbindung, das bei zärtlicher körperlicher Berührung freigesetzt wird. Es unterstützt die zwischenmenschliche Bindung und verschafft ein Gefühl von Behaglichkeit und Sorglosigkeit.
AR
Hierarchien sind vertikale Befehl-Gehorsam-Beziehungen. Das gesamte Eigentum gehört dem Chef (Häuptling, König), der es als Gunsterweisung dem Rang der Untergebenen und ihren Leistungen entsprechend zuteilt. Es sind komplementäre Beziehungen, die beide Seiten aufeinander verpflichten. Dem Gehorsam und der Treue der Untertanen stehen Fürsorge und Leitung als Pflicht des Chefs gegenüber. Pinker bringt AR mit dem Hormon Testosteron in Verbindung.
CS und AR sind kollektivistische Schemata.
EM
Das fortwährende Herstellen von Gleichheit in der Beziehung zwischen einem Ich und einer Vergleichsperson im Guten wie im Schlechten ist das Prinzip des EM. Es setzt persönliches Eigentum und Individualität voraus. Ungleichheit aus der Außenperspektive erfordert Ausgleich. Wenn ein Kind ein größeres Geburtstagsgeschenk bekommt, müssen alle Geschwister ebenfalls ein Größeres erhalten. Wenn du mich schlägst, schlage ich dich auch. Gleichheit im sozialen Status ist Gerechtigkeit in diesem Sinne. Tauschakte können nur Gleichwertiges tauschen. Gastgeschenke werden durch gleichwertige Gastgeschenke bei Gegeneinladungen kompensiert. Gleichheitsstreben ist ein statisches Prinzip.
MP
Marktpreisbildung schafft indirekte Tauschbeziehungen. Dinge werden gegen ein Tauschmittel getauscht und dieses wieder in andere Dinge eingetauscht. Auf diese Art lassen sich ungleiche Dinge handeln. Es entsteht ein Markt. Das Maß des Marktes ist das Tauschmittel (Geld). Die Beziehungen sind geschäftlicher (vertraglicher) Natur. Rechte und Geldmittel sind die Medien, über die Menschen in rational-legalen MP-Beziehung zueinander treten. Tauschbeziehungen können mit allen Menschen bestehen, auch solchen, die zu anderen Gemeinschaften gehören. Der Sinn des Tauschs ist der Gewinn. Gewinn ist der (subjektiv erwogene) Mehrwert des eingetauschten Gutes im Vergleich zum hingegebenen Gut. Dem Bäcker ist das Geld wertvoller als seine vielen Brötchen. Dem Käufer aber sind die erworbenen Brötchen wertvoller als ihr Preis in Geld. Preise sind die Schnittmengen von subjektiven Bewertungen aus gegenläufiger Sicht von Käufer und Verkäufer. Markttäusche sind folglich reziprok ungleichwertig. Beide Partner gewinnen. Gewinnstreben ist ein progressives Moment.
EM und MP sind individualistische Schemata.
Die Modelle bilden sich ontologisch in der Kindheit entsprechend der Anordnung nacheinander heraus. Sie lassen sich auch in ethnologischen Studien als Entwicklungsstufen der Menschheit nachweisen. Nacheinander entwickelte die Menschheit die Beziehungstypen CS, AR, EM und MP – in dieser Reihenfolge. CS ist basal, AR tritt schon bei steinzeitlichen Stammesgemeinschaften auf und EM kennen wir spätestens im Zusammenhang von mythologischen Erzählungen, etwa in den Streitigkeiten der olympischen Götter, die in der Jungsteinzeit und der Bronzezeit spielen. Die Modelle bauen nicht nur zeitlich aufeinander auf, sie übernehmen auch die jeweils historisch älteren und integrieren Elemente von ihnen, denen sie neue hinzufügen. Ein Stamm, der in Adel und Volk gegliedert ist, vereinigt sowohl CS als auch AR-Elemente. Unter Frauen eines Harems oder polygamer Familien werden sowohl AR- als auch EM-Elemente wirksam. Die historischen Entwicklungsstufen lassen sich danach unterscheiden, welches der Modelle paradigmatisch für die Gemeinschaft gilt. Erste Ansätze für Marktwirtschaft lassen sich bereits in der Jungsteinzeit finden, etwa im Fernhandel von Feuerstein, das in Großbaustellen industriell gewonnen wurde. In antiken Gesellschaften finden sich regionale Märkte und Fernhandel in beträchtlichem Umfang. Doch von marktwirtschaftlichen Gesellschaften sprechen wir erst in der Neuzeit, insbesondere seit der Glorious Revolution in England. Es brauchte viele tausend Jahre, bis sich Marktbeziehungen gegen autoritäre und egalistische Beziehungen verselbständigen und zum Leitbild der ganzen Gesellschaft werden konnten.
Mises Praxeologie
Mises Handlungstheorie basiert auf der Kategorie des Handelns. Handeln bedeutet das Tun eines Individuums, das bestimmte Mittel einsetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es ist insofern teleologisch und zweckrational. Handeln ist immer rational. Die erstrebten Ziele sind vielfältig, doch sie eint ihr gemeinsamer Zweck, das individuelle Glück oder die Zufriedenheit zu erhöhen, bzw. die individuelle Unzufriedenheit zu mildern. Die eingesetzten oder erworbenen Mittel sind wirtschaftliche Güter. Wären sie nicht knapp, wäre Handeln nicht erforderlich, weil Unbefriedigtsein gar nicht auftreten könnte. Um zu atmen, müssen wir nicht handeln, weil Luft zur freien Verfügung steht. Unter Wasser jedoch brauchen wir Atemgeräte, die wir gegen andere wirtschaftliche Güter (Geld) eintauschen. Eingesetzte Güter (einschließlich der Zeit- und Kraftanstrengung des Tuns) nehmen im Handeln den Charakter von Kosten an, die erreichten Ziele sind Gewinne. Beim wirtschaftlichen Handeln sind Geldgewinne in der Regel nur Mittel zum Zweck, also Zwischenstufen für Zufriedenheitsgewinne, die den praxeologisch wesentlichen Gewinn ausmachen. Handeln ist das Aufschieben von aktueller triebgesteuerter Befriedigung zur Erlangung von größerer Befriedigung in der Zukunft. Es braucht folglich Bedingungen, die die Erreichung der Ziele in der Zukunft als ausreichend sicher erscheinen lassen, und Verstand.
Fassen wir die Merkmale der Kategorie des Handelns zusammen: Handeln ist immer
- das Tun eines Individuums,
- bewusst, rational,
- wirtschaftlich und
- auf einem Zuwachs an eigenem Glück oder eigener Zufriedenheit ausgerichtet.
Aus dieser Sicht ist Handeln grundsätzlich egoistisch. Bezugspunkt ist sowohl was die Motivation betrifft (Unbefriedigtsein) als auch das Ziel (höhere Zufriedenheit) immer das einzelne Ich. Handeln ist Gewinnstreben von Einzelnen. Mises betont an vielen Stellen, dass der Utilitarismus, die Lehre von der Nützlichkeit als Maßstab für richtiges und falsches Handeln, ein Kernelement der Praxeologie ist.
Es fällt nicht schwer, das praxeologische Konzept in Fiskes viertem Modell wiederzufinden. Wirtschaftliches Handeln erzeugt Beziehungen nach dem Muster des Market prizing. Die Frage ist nur, wie sich die drei anderen Modelle zur Praxeologie verhalten. Kann die Kategorie des Handelns in die drei basalen Modelle integriert werden? Können wir menschliches Rollenverhalten des CS und des AR überhaupt Handeln nennen oder flicht sich Handeln in das Rollenverhalten ein? Ist Equality matching gleichzusetzen mit zweckrationalem zielgerichteten Streben nach Gewinn? Sind utilitaristische Deutungen von CS, AR und EM stimmig?
Fehldeutungen durch falsche Perspektiven
Nehmen wir an, dass die Praxeologie alles menschliche Tun erklären kann, so müssen wir menschliches Tun, das sich im Rahmen eines der drei ersten Modelle abspielt, als bewusstes zweckrationales Gewinnstreben interpretieren. Eine solche Sichtweise taucht alles in den schälen Verdacht des versteckten Egoismus. Diesen Standpunkt nimmt der Objektivismus Ayn Rands ein. Eine ähnliche, doch biologistische Sicht deutet das Verhalten aller Lebewesen als Ausdruck eines egoistischen Gens. Anhand einiger Beispiele soll die Erklärungskraft einer rein individualistischen und zweckrationalen Deutung menschlicher Verhaltensweisen untersucht werden.
CS praxeologisch gedeutet
Nehmen wir ein Beispiel: Das Säugen eines Kindes zur mitternächtlichen Schlafenszeit durch eine übermüdete und entkräftete Mutter oder das Aufstehen des berufstätigen Vaters beim Schreien des Kindes zur Schonung der Mutter wäre nur anscheinend der Liebesdienst, für den es vulgo angesehen wird. Eigentlich sei es ein innerer Tausch: die Mutter tauscht ihr Unbefriedigtsein über den Hunger des Säuglings mit dem Gewinn des Befriedigtseins durch das Säugen. Gewiss, so lässt sich das Tun erklären, aber ist diese Erklärung stimmiger als die, dass die Mutter ihr Kind liebt und sich um es sorgt? Dürfen wir annehmen, dass ihr persönliches Befriedigtsein dadurch wächst, dass sie noch mehr übermüdet ist? Wenn wir sie fragen, ob sie gerne aufsteht, würde sie verneinen. Es kann zur Qual werden und muss dennoch sein. Steht sie auf, damit sie sich an dem satten entspannten Grunzen ihres Babys nach getaner Stillung erfreuen kann? Nein, sie nimmt es kaum wahr, nickt unbeabsichtigt darüber ein und reißt sich erschrocken wieder aus dem Schlaf. Wenn nicht im unmittelbaren körperlichen oder emotionalen Bereich, liegt der Glücksgewinn dann in einem eitlen Stolz, eine gute Mutter zu sein. Auch dies würde sie verneinen. Gäbe es eine Maschine oder eine Amme, die ihr diese Arbeit nächtens abnehmen könnte, würde sie das in Erwägung ziehen und könnte noch stolzer sein auf sich, der guten und geschickten Mutter. Sie nimmt die Hilfe des Ehemannes gerne in Anspruch, der Flaschennahrung spendet. Der Sinn ihrer aufopfernden Mütterlichkeit liegt darin, dass sie das Baby liebt. Sie will nicht, dass es Hunger leidet. Lieber gibt sie ein Stück ihrer Selbstbefmdlichkeit drein, als dass es, das doch vollständig von ihrer Fürsorge abhängig ist, leidet. Mütterliche Fürsorge ist ein Beispiel für altruistisches Verhalten, dessen Umdeutung zu einem versteckt egoistischen unstimmig erscheint. Nur wenn wir aus ideologischen Gründen Altruismus ausschließen, erscheinen die komplizierten und unbelegbaren Deutungen von altruistischem Verhalten als egoistischem Gewinnstreben scheinbar zwingend.
Altruistisches oder wenigstens nicht gewinnorientiertes Verhalten lässt sich im Rahmen des CS-Modells an vielen Beispielen zeigen. Welchen Sinn hat das Opfer im Gottesdienst, das Kirchgänger rituell entrichten? In der Regel wird es diskret eingelegt, so dass niemand weiß, wie viel die anderen geben. Auch ist niemand gezwungen, zu opfern. Es geschieht freiwillig. Der Verwendungszweck der Gaben ist häufig bekannt, doch opfern Gläubige auch, ohne den konkreten Zweck zu kennen. Es wird unterstellt, dass er irgendeinem guten Zweck zugeführt wird. Das Opfer soll für andere Gutes bewirken, nicht für den Spender. Das ist die Zwecksetzung. Wo wäre hier ein egoistisches Motiv hineinzudeuten? Geht es um die geheime Pascalsche Wette mit dem lieben Gott? Geht es darum, dass der Gläubige sich durch Gott beobachtet glaubt und deshalb um sein Heil im Jenseits besorgt ist? Diese Gesichtspunkte können fehlen und Opfer dennoch gegeben werden. Das Opfer ist eine Konvention, die zu den gemeinschaftsstiftenden Zeichen gehört. Der „Lohn“ des Opfers ist die Erhaltung der Glaubensgemeinschaft durch das Feiern des Gottesdienstes, dessen Teil das Opfer ist. Der Gläubige weiß sich auf dem rechten Weg, wenn er zur Gemeinschaft gehört. Er tut das, was alle anderen auch tun, die dazugehören.
Der Sinn von Verhaltensweisen im Rahmen des CS ist das Dazugehören. Es ist kein egoistischer Vorteil gegenüber anderen, sondern das Bilden einer Gemeinschaft, dessen Teil der Einzelne ist. Das Dazugehören kann aus ökonomisches Sicht sogar mit materiellen Verlusten verbunden sein. Nehmen wir den Eintritt in einen Klosterorden, der Armut, Keuschheit und Demut als Gelübde fordert. Wenn alle Gewinnmöglichkeiten im Sinne wirtschaftlichen Handelns ausgeschlossen sind, wo bleibt dann noch Raum für eine utilitaristische Deutung? Geht es um einen heimlichen elitären Dünkel, um Pharisäertum? Mag sein, doch müssen wir dies bei allen unterstellen, auch bei denen, die keinerlei Zeichen dafür geben. Die Verengung auf eine praxeologische Sicht zwingt uns zu pauschalen Vorurteilen.
Liebe und der Wunsch nach Gemeinschaft sind einfache Erklärungen menschlichen Handelns, die durch eine praxeologische, utilitaristische Deutung nur unnötig verkompliziert werden.
AR praxeologisch gedeutet
Die Herstellung von hierarchischen Beziehungen ordnet Menschen nach dem Muster von Ordinalzahlen in einer Reihung, d.i. sie schafft eine Rangordnung. Ein Vorteil des AR liegt in der Möglichkeit, eine Gruppe zu instrumentalisieren, um Gruppenziele zu erreichen. Die Gruppe vereinigt die Individuen zu einem Werkzeug. Nehmen wir als Beispiel die Jagd. Selbst wenn alle Jäger die gleichen Aufgaben erfüllen würden, etwa als Treiber, erfordert die gemeinschaftliche Jagd doch eine Koordination der Einzelnen und damit einen zentralen Willen. Welches Wild soll gejagt werden? Wer übernimmt welche Aufgaben? Solche Fra...
Inhaltsverzeichnis
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der historische Horizont
- Philosophische Probleme
- Entwicklungsprobleme
- Europa
- Schlussbetrachtungen
- Angaben
- Impressum