AUS ALFRED WEGENERS TAGEBUCH AUF DER
DANMARK-EXPEDITION 1906-1908
24. Juni 1906. Die Abfahrt aus Kopenhagen fand unter nicht endenwollendem Jubel der Zuschauer statt. Ob man auch so jubeln wird, wenn wir zurückkommen? Meine Eltern standen in dem dichten Menschenknäuel auf der Langelinje. Gesehen habe ich sie nicht mehr. Ich teile die Kajüte mit Premierleutnant Koch, dem Kartographen, der gut Deutsch spricht. Meine Unkenntnis der dänischen Sprache ist doch sehr lästig. Ich verstehe einstweilen von der Unterhaltung kein Wort und sitze dabei wie ein Tauber. Auch das ganze Leben an Bord wird dadurch erschwert … – Alles ist nun in Wachen eingeteilt, sowohl Seeleute wie Wissenschaftler. Ich gehöre mit Koch zur zweiten Wache. Wir haben immer vier Stunden Wache, vier Stunden Freizeit. Während der Wache müssen wir körperlich stramm arbeiten, so daß man am besten tut, die Freiwache zum Schlafen zu verwenden.
8. Juli. Ich bin sehr erfreut darüber, daß ich gar nicht seekrank werde. In der ersten Zeit fühlte ich mich dauernd etwas unbehaglich, habe aber niemals eine Wache oder eine Mahlzeit zu versäumen brauchen. Und dabei arbeitet das Schiff so, daß wirklich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, durcheinanderpurzelt. Die Mahlzeiten werden meist freihändig, nicht am Tisch eingenommen. Jetzt verursachen mir auch die heftigsten Bewegungen des Schiffes nicht die Spur mehr von Unbehagen.
11. Juli. Ich muß jetzt beginnen, meine Mitarbeiter mit den meteorologischen Instrumenten bekanntzumachen. Gestern habe ich Peter Freuchen (Medizinstudent) das Anemometer gezeigt und mit ihm eine Ablesung gemacht. In Island will ich die Thermometerhütte aufstellen und von da ab regelmäßig beobachten lassen. Ich will auch noch ein schriftliches Programm aufsetzen. – Mittags kommen die Färöer in Sicht … Drei Grönländer kommen an Bord, desgleichen die Hunde und mehrere Kajaks.
18. Juli. Früh um 7 Uhr werfen wir Anker in Eskefjord. Die Drachenwinde ist da. Wir bekommen Post, können Wäsche waschen lassen. Ich öffne sofort eine Büchse mit Dreifarbenplatten, aber die Dunkelkammer ist bis zur Decke mit Pelzzeug vollgestopft. Wo soll ich nun Platten einlegen? Die Berge am Fjord sind sehr schön, Terrassen von Basalt, mit grüner Rasendecke überzogen. Im Hafen ankern noch zwei Schiffe, es ist ein farbiges Bild. Vormittags geht Koch mit mir Sachen kaufen, Ölzeug, Sweater, Seife usw., nachmittags reiten wir mit Bertelsen und einem Führer den Fjord entlang.
25. Juli. Abends passierten wir den Polarkreis, ganz ohne Feierlichkeiten. Die Luft wird jetzt merklich kühler.
29. Juli. Gestern habe ich einen Rentierpelz empfangen. Koch kühlte meine Freude aber sehr ab, indem er sagte, ich hätte vermutlich einige hundert Läuse mit empfangen. Nach seiner Ansicht haben alle Grönländer Läuse und alles Pelzwerk, was von da kommt. Wir haben dann das Corpus delicti gleich unter ärztlicher Hilfe mit Insektenpulver eingepudert. – Mit dem Dänisch geht es jetzt besser. Ich kann wenigstens so viel verstehen und sprechen, daß die Leute meinen guten Willen sehen, und das ist die Hauptsache.
31. Juli. Gestern haben wir das erste Treibeis gesehen! Es sind farbenprächtige Bilder, diese wunderlichen Schmelzfiguren! Ich war überrascht über die Schönheit. Leider konnte man nicht photographieren, es war zu dunkel, aber Bertelsen hat sofort gemalt.
1. August. Es ist merkwürdig, wie wenig Eis wir treffen. Mittags haben wir etwa die Hälfte des Eisstroms durchquert und können auch jetzt ruhig weiterdampfen, wenn auch das Steuern etwas beschwerlich ist und wir hin und wieder an einen Eiskoloß anrennen. So günstig hat es wohl noch keine Expedition getroffen. Abends und nachts liegt nur ein ganz dünner Nebel über dem Wasser, und die Mitternachtssonne beleuchtet alles mit einem fahlgelben Licht – ein wundervolles Stimmungsbild.
4. August. Heute abend war ich eine Stunde in der Tonne. Der Blick bei schönem Wetter über das Eis ist wirklich über alle Maßen schön. Nichts als Farbenglimmer! Das blaue Wasser, das saubere, weiße Eis, die gelbrote Sonne, die hellgrünen Eisfüße unter dem Wasser – zauberhaft. Auf dem Eise kommen alle Farbtöne vor. Wir sahen eine Scholle, die durch die Sonne intensiv violett gefärbt war. – Wir photographieren jetzt wütend, es ist aber auch zu herrlich.
6. August. Großer meteorologischer Termin. Heute habe ich die Barometerwerte und das Thermometer verglichen und manches Unerfreuliche gefunden. Es muß folgendes gemacht werden: Die Trockenfische, die auf der Thermometerhütte liegen, müssen fort, damit sie besser ventiliert ist. Der Thermograph muß aufgehängt werden, damit er nicht alle Erschütterungen bekommt. Auch muß eine Korrektionskurve für ihn ermittelt werden.
7. August. Heute nachmittag waren wir in einer kritischen Situation. Wir waren ganz von schweren, großen Schollen besetzt worden. Es sah aus, als sollten wir den Winter hier bleiben. Doch gelang es Steuermann Thostrup, in der Hundewache zu entwischen, und nun warten wir in einer größeren Wake ab, ob sich nicht irgendwo eine Fahrstraße öffnet. – Das Hygrometer wird auf jeder Wache mit großer Genugtuung von den Seeleuten abgelesen. Im Schiffsjournal findet sich nämlich eine Rubrik für Feuchtigkeit, und sie sind stolz wie die Spanier, daß wir nun diese Rubrik ausfüllen können. Auch der Barograph wird eifrig benutzt. Ihm verdanke ich zum Teil meine Stellung unter den Seeleuten. Er wird täglich zirka fünfmal konsultiert, und meine Kabine, wo er hängt, ist so eine Art Allerheiligstes.
8. August. Heute ist Land in Sicht! Diese Eisschiffahrt ist doch etwas Merkwürdiges. Wir bewegen uns seit längerer Zeit auf einem Gebiet, auf dem man sich eigentlich nicht mit einem Schiff bewegen kann. Die Pointe ist immer die, daß man beim Warten in einem hinreichend großen offenen Wasser liegt, damit man möglichst viele Möglichkeiten des Entwischens hat. Jetzt haben wir Nebel und dampfen ganz lustig drauflos – auch ein Kunststückchen. Man sieht, man muß nicht schematisieren. Freilich dauert die Freude nur bis Mittag, da müssen wir wieder vertäuen. Nachmittags wird ein Rettungsmanöver ausgeführt … Alles stürzt mit seinen Siebensachen zu den Booten, welche in aller Hast (wie falsch!) zu Wasser gelassen und bepackt werden, und rudern dann zu einer Eisscholle und ziehen das Boot hinauf. Aber das ganze Manöver war verfehlt. Eines der andern Boote hatte zum Beispiel drei Kisten Mixed Pickles als Proviant an Bord. Nicht einmal ein Mann als Hundewache war an Bord gelassen worden. Die Hunde sind natürlich in die Wohnräume, Küche, Speisekammer, Salon, ja, in die Maschine eingebrochen und haben namentlich in der Küche ein unglaubliches Unheil angerichtet. Hinterher mußte ein großes Reinemachen angehen.
12. August. Mittags werden zwei Bären gesichtet, und Koch und ich gehen diesmal mit hinaus, aber nur mit Photoapparat bewaffnet. Wir schlugen die Bären glänzend in die Flucht, schon aus 1000 Meter Entfernung. So kamen wir zwar nicht zum Photographieren, aber ich hatte die Stiefel voll Schnee. Wir hatten bis jetzt drei vergebliche und zwei erfolgreiche Bärenjagden.
13. August. Wir sind schon ziemlich nahe an Kap Bismarck. Das Eis ist hier außerordentlich dick. Nachmittags fahren wir an die nördliche Koldewey-Insel heran und landen auf einige Stunden. Ich gehe auch mit und mache Aufnahmen. Wir finden eine große Menge von Versteinerungen, Ammoniten in Sandstein, zahllose Muscheln in Kalk, versteinertes Holz.
14. August. Leider schlafe ich, als wir bei Kap Bismarck vorbeikommen. So habe ich also den denkwürdigen Punkt, wo die deutsche Expedition1 ihre Chancen aufgab, diesmal nicht gesehen. Es ist doch ein eigenartiger Gedanke, daß wir hier so mühelos (jetzt in ganz offenem Küstenwasser) vorbeidampfen, wo die Deutschen unter den denkbar größten Anstrengungen über das Eis mit Schlitten gezogen sind. Allerdings habe ich hier auch gesehen, was es heißt, energisch im Eis vorzudringen. Die Erfahrung unseres Eislotsen Ring, der vierzehnmal hier im Eis gewesen ist, scheint auch in der Tat vortrefflich zu sein. Heute hat Koch mit mir gesprochen wegen der Triangulierung. Ich soll die »Rekognoszierung und Festlegung der Hauptfigur« übernehmen, während er mit dem Motorboot weiter nach Norden fährt. Vielleicht kann ich dies machen, während man die Häuser aufstellt. Ich will ja auch gern ein wenig herauskommen und nicht immer hinter meinen Instrumenten sitzen. Da ist es wohl gut, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Eine Rekognoszierungstour in die Umgegend ist auch für meine eigenen Arbeiten von großem Wert. Ich muß ja über das Terrain Bescheid wissen, um über lokale Störungen, meteorologischen Föhn, Niederschläge, Windverhältnisse, meteorologische Höhenstation usw. ein Urteil zu bekommen. Auch über die Möglichkeit, luftelektrische Beobachtungen auf einer Bergspitze anstellen zu können, sowie über etwaige Gletschervermessungen wird man dabei eine gute Übersicht bekommen.
16. August. Bei Kap Philipp sperrte das Eis uns den Weg, festes ungebrochenes Landeis! Wir lagen eine Zeitlang am Eise vertäut und rüsteten eine Expedition unter Koch aus. Zweck: Anlegen von Depots weiter nördlich. Wie ich sie beneidete, zumal gerade diejenigen Personen dabei waren, welche ich bis jetzt am meisten schätzen gelernt habe. Am Abend dampften wir nach Süden, und ich steuerte unseren lieben alten Dickhäuter von Schiff (das von außen jetzt schon so aussieht, daß man sich geniert, es zu photographieren) rund um die dem Kap Bismarck vorgelagerten Schären in die Meerenge zwischen dem Kap und den Koldewey-Inseln. Es dauerte nicht lange, so hatten wir unseren Hafen gefunden. Noch ziemlich an der Außenküste, am Südabhang des Landes, umgeben von nicht allzu hohen Bergen, mit einem breiten Vorland zwischen Wasser und Berg ist die Lage für die wissenschaftlichen Aufgaben, wie mir scheint, gut. Das Gestein ist Urgestein, und zwar vollständig moutonniert, bisweilen in grotesker Weise. Gegen die magnetischen und luftelektrischen Beobachtungen wird man hier nichts einwenden können. Die Drachenaufstiege werden sich bei der Breite des Flachlandes und dem sanften Gehänge der Berge auch ausführen lassen. Von Gletschervermessungen kann natürlich nicht die Rede sein, wir haben ja keine Gletscher. Dagegen scheinen im Innern des großen Fjords, an dessen Mündung wir offenbar liegen (Dovebucht), Gletscher zu sein, da ich auf dieser Seite einige kleine Eisberge gesehen habe. Dort muß ich einmal hin, es scheint da hohe Berge zu geben … Jetzt sollen die Wissenschaftler aufhören, Matrosen zu sein und mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit beginnen …
Das Expeditionsschiff »Danmark« ist vor Anker gegangen.
23. August. Heute ist alles Drachengepäck an Land geschafft worden, nun will ich sehen, daß ich morgen die Winde in Ordnung bringen kann.
25. August. Gestern packte ich die zwei Ballonkisten aus. Die Ballons kleben furchtbar, sind aber glücklicherweise noch nicht verdorben. Den einen habe ich gleich aufgeblasen, wobei er aber natürlich eine Menge Unrat auf sich geladen hat. Man kann sich eine noch so schöne Unterlage machen, dann laufen ein paar Hunde darüber, und alles liegt wieder voller Sand und Steinchen! Es war eine schreckliche Arbeit, den Ballon auseinander zu bekommen, und ich hatte gestern gar keine Hilfe! Wenn wir morgen mit dem Aufrollen des Drahts auf die Winde fertig werden, so will ich, wenn wir günstigen Wind haben, zur Sonntagsbelustigung unseren ersten Probeaufstieg versuchen. So hoffe ich, noch den September voll und ganz für die Drachen zu gewinnen. Vom Ersten an muß ich auch mit der meteorologischen Landstation beginnen. Außer Sonntag haben wir noch fünf Tage. Sollte es gelingen, in dieser Zeit alles aufzustellen? Dabei ist gar keine Aussicht, daß ich am Ersten ins Haus einziehen kann, denn man hat noch immer nicht mit dem Bau begonnen. Es ist niemand hier, der außer mir Interesse daran hat, und die Arbeit geht in einem fürchterlichen Bummelschritt.
1. September. Erster Drachenaufstieg mit Apparat, Vier-Quadratmeter-Drachen. Trug nur etwa 800 Meter Draht. Windabnahme. Zweiter Drachen, schon aufgebaut, mußte fortgelassen und schleunigst eingeholt werden. 20 Minuten nach der Landung kam der Wind aus der entgegengesetzten Richtung! Offenbar war der Kern einer nur durch Wolken, Wind und das Barometer, aber nicht durch Niederschlag kenntlichen Depression über uns weggezogen. Nachmittags Abfahrt mit Motorboot mit Koch, Hagen und Hagerup. Wir wollen Warten bauen auf Kap Bismarck, im Osten der großen Koldewey-Insel und auf dem höchsten Punkt der südlichen Koldewey-Insel. Die ersten beiden Punkte erledigten wir gleich am Abend und zelteten dann auf der südlichen Insel. Der Aufstieg auf den 1000 Meter hohen Gipfel war beschwerlich und uninteressant, nur der Blick von oben in die steilen Wände der andern Seite war herrlich. Am nächsten Tag herrlicher Gebirgsweg auf den Gipfel der nördlichen Koldewey-Insel, ich muß hier noch einmal allein hin zum Photographieren. Diese Parfor...