Wir müssen uns erinnern.
Sonst wird sich alles wiederholen.
Marguerite Duras
1 Einleitung
1.1 Einordnung des Themas
Die vehement geführte Diskussion über die Interpretation einzelner Phänomene des Nationalsozialismus, insbesondere über die Singularität der Judenvernichtung, im Rahmen des sogenannten „Historikerstreits“ der Jahre 1986/87 hat offenbart, welcher Zündstoff noch heute in der deutschen Vergangenheit der Jahre 1933-1945 liegt1. Die Polemik, mit der diese Auseinandersetzung streckenweise geführt wurde, hat deutlich gemacht, wie wenig die Bewältigung dieser Vergangenheit fortgeschritten ist und wie sehr sie ideologischen Deutungen unterliegt. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus und seine Folgen noch heute in vielen Bereichen unserer Gegenwart wirksam sind: Es ist, als wenn sich jene zwölf Jahre unter dem Druck immer erneuter Aktualisierungen ausdehnten, statt aus immer entfernteren Retrospektiven zu schrumpfen. Die vergangenen Gegenwarten bleiben auf unheimliche Weise aktuell“ (HABERMAS 1987, S.11).
Die vorliegende Arbeit will deshalb ausdrücklich ihre Position benennen und Stellung beziehen. Sie wendet sich - mit Habermas - gegen eine „Entsorgung der Vergangenheit“2 und gegen jede Art „Schadensabwicklung“3 zu betreiben. Die Dissertation versucht somit, sich den Versuchen, Geschichtsbewusstsein zu manipulieren, zu widersetzen, und setzt Aufklärung dagegen4. Aufklärung als „kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält“ und „Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität“ verlangt5, erscheint gerade in einer Untersuchung über den Nationalsozialismus notwendig, wenn man mit HORKHEIMER und ADORNO (1971) davon ausgeht, dass in der „Dialektik der Aufklärung“ der Nährboden für faschistische Bewegungen bereitet wird. In diesem Sinne will die vorliegende Dissertation über die Situation, Konzeption und Entwicklung des Erdkundeunterrichts im Nationalsozialismus aufklären.
Erdkundeunterricht im Nationalsozialismus war ein Thema, das über fünfunddreißig Jahre in der Literatur nicht behandelt wurde. Erst 1981 erschien ein Aufsatz von LEINEN/THOMÉ und 1985 schließlich ein Kapitel über den Heimatkundeunterricht in der voluminösen Dissertation über die Entwicklung des Sachkundeunterrichts von MITZLAFF. Diese Nichtaufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit über Jahrzehnte ist durchaus kein Spezifikum der Geographie und des Erdkundeunterrichts, sondern findet sich bis Anfang der siebziger Jahre ebenso bei vielen anderen Wissenschafts- und Schuldisziplinen. Doch funktionierte das „kommunikative Beschweigen brauner Biographieanteile“6 wohl in keiner Disziplin so perfekt wie in der Geographie.
Zwei Jahre nach Kriegsende eröffnete der international renommierte Geograph Carl Troll die neugegründete Zeitschrift „Erdkunde“ mit einer „Kritik und Rechtfertigung“ der geographischen Wissenschaft in Deutschland in den Jahren 1933-1945 (TROLL 1947), in der politische Verstrickungen und Mitverantwortung in erster Linie auf den „ungeographischen“ „Sprößling ... der Geographie“7, die Geopolitik, abgewälzt wurden. Zudem wurde der Geopolitiker Karl Haushofer, der sich 1946 das Leben genommen hatte, aus den Reihen der Professoren derart herausgehoben, dass mit ihm in der Folgezeit die politischen Verstrickungen der Geographie mit dem Nationalsozialismus personifiziert wurden. Mit dieser „Kritik und Rechtfertigung“ glaubte die deutsche Geographie offensichtlich, sich mit einem Schlag ihrer Verantwortung für das Verhalten zwischen 1933 und 1945 entledigt zu haben. Mit der Publikation desselben Aufsatzes in einer der führenden amerikanischen Fachzeitschriften (TROLL 1949) versuchte sie gleichzeitig, ihr internationales Ansehen wiederzuerlangen.
Selbst als Anfang der achtziger Jahre mehrere Sammelbände zum Themenkomplex „Wissenschaft und Hochschule im Nationalsozialismus“ erschienen (MEHRTENS/RICHTER 1980, BRÄMER 1983, TRÖGER 1984, LUNDGREEN 1985), fehlte die Geographie jedes Mal. Das gleiche gilt für den Erdkundeunterricht, den man im Sammelband von PÖGGELER (1985) vergeblich sucht. Offensichtlich wirkte in der Schul- und Wissenschaftsdisziplin Geographie „die diskrete Kumpanei der Mandarine“8, der Kompromiss zwischen alten Nationalsozialisten und ihren Gegnern zwecks gemeinsamen Beschweigens der braunen Vergangenheit (BRUNKHORST 1987), das die Unbeflecktheit ihrer Disziplin und ihrer eigenen Stellen garantieren sollte, besonders erfolgreich.
Erst als Ende der siebziger Jahre von geschichtswissenschaftlicher Seite eine neue Diskussion über die Rolle des Geographieprofessors Karl Haushofer (1869-1946) und seiner Geopolitik in der Weimarer Republik und der NS-Zeit begonnen wurde (MATERN 1978,JACOBSEN 1979 a, b, 1981, DINER 1984), äußerten sich erstmals wieder Geographen zu dieser bis dahin totgeschwiegenen Epoche ihrer Wissenschaftsgeschichte (SCHÖLLER 1982, HESKE 1987 a,HESKE/WESCHE 1988). Gleichzeitig erweiterte sich der Blickwinkel von der Geopolitik auf die gesamte Geographie, so dass erste Ansätze einer kritischen Aufarbeitung der Geographiegeschichte des Zeitraumes 1933-1945 erschienen (SANDNER 1983, KOST 1986 b, HESKE 1986, 1987 b, RÖSSLER 1987, FISCHER/SANDNER 1991), die sich ausdrücklich gegen die traditionelle Geographiegeschichtsschreibung der „großen“ Geographen wandten, wie sie vornehmlich von BECK (1982) betrieben wurde9. Dabei setzte die umfangreiche Dissertation von KOST (1986 b) methodisch und inhaltlich neue Maßstäbe für diese kritische wissenschaftshistorische Forschung. Die vorliegende Untersuchung über den Erdkundeunterricht im Nationalsozialismus versteht sich als ein weiterer kritischer Beitrag zur Geschichte der Geographie. Darüber hinaus will sie aber auch eine Forschungslücke in der Geschichte der Pädagogik schließen, deren Literatur über die Zeit des Nationalsozialismus in den achtziger Jahren zwar enorm angewachsen ist (vgl. den Forschungsbericht von TENORTH 1985 und zuletzt die Arbeiten von SCHOLTZ 1985, ROSSMEISSL 1985, TENORTH 1986, FLESSAU et al. 1987), die aber Fragen nach der Konzeption des Erdkundeunterrichts im Zeitraum 1933-1945 und den Aktivitäten der Reichssachgebiete Erdkunde und Geopolitik im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) bisher nicht beantworten konnte.
Die Ausblendung der Zeit zwischen 1933 und 1945 in der deutschen Geographiegeschichtsschreibung scheint mit dem zusammenzuhängen, was HARD (1973) eine „Ironie der geographischen Ideengeschichte“ genannt hat, nämlich „daß sich die 'Verleugnung der Geschichte', dieser durch und durch ahistorische methodologische Essentialismus gerade bei solchen Geographen findet, die an anderer Stelle so viel über Idiographie, historischen Sinn, genetische Deutung, historische Tiefe, geschichtliche Individualität und Einzigartigkeit zu sagen wissen“ (ebd., S. 12). Hard führt dieses Verhalten auf eine ideologische Funktion zurück: das Erhalten des historisch bedingten Forschungsinteresses der eigenen Gruppe, indem es gegen Kritik von außen immunisiert wird.
In einem späteren Aufsatz geht HARD (1983) sogar noch weiter und bezeichnet die (deutsche) Geographie allgemein als „Disziplin der Weißwäscher“; insbesondere „die Geschichtsschreibung der Geographie ist ein exemplarisches Feld geographischer Wirklichkeitsverleugnung“ (ebd., S.14). Auch in diesem Sinne will die vorliegende Arbeit mit überkommenen Traditionen der Geographie brechen.
Gerade die Zeit des Nationalsozialismus ist eine Zeit des politischen Opportunismus, gerade auch unter Lehrern und Wissenschaftlern. Wenn im Folgenden dieser Opportunismus im Detail untersucht wird, so geht es nicht um den Opportunismus von Personen, sondern um den einer Schul- und Wissenschaftsdisziplin10. Dennoch ist das Hauptziel dieser Arbeit nicht, den Opportunismus der Erdkundelehrer und -didaktiker aufzudecken, sondern vielmehr, auf welche Art und Weise, mit welchem Engagement, mit welchen ideologischen Komponenten und mit welchen - vermeintlich neuen - Inhalten ein Umbau des Erdkundeunterrichts während des Nationalsozialismus betrieben wurde. Es gilt zu zeigen, mit welcher „zynischen Vernunft“11 diese „Anpassung“12 betrieben wurde, die mehr war als nur eine Anpassung. Ein weiteres Anliegen der Arbeit ist es, vor der eigentlichen Untersuchung einige notwendige theoretische Klärungen vorzunehmen, ohne die ein analytisches Vorgehen nicht möglich ist. Während bisher in der pädagogischen Literatur Begriffe wie „Nationalsozialismus“, „Drittes Reich“, „unterm Hakenkreuz“ und „Faschismus“ weitgehend unreflektiert und meist synonym verwendet wurden13, sollen im zweiten Kapitel faschismustheoretische Vorüberlegungen zu einer Klärung der verwendeten Terminologie führen und eine wissenschaftliche Grundlage für die Analyse des komplexen Themas liefern. Außerdem wird durch schultheoretische Vorüberlegungen, wie sie bisher lediglich von NYSSEN (1979) angestellt wurden, und wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen eine weitfassende Einordnung des Themas ermöglicht. Auf diese Weise soll ein dreigliedriger theoretischer Ansatz erstellt werden, den bisher vorliegende Arbeiten zum Themenkomplex Schule und Wissenschaft im Nationalsozialismus nicht leisten.
Wie notwendig ein solcher theoretischer Ansatz ist, sollen zwei Beispiele aus der Geographiegeschichtsschreibung der achtziger Jahre belegen. So ist der Disziplinhistoriker Hanno Beck noch 1981 der Auffassung, dass der Geographie und dem Erdkundeunterricht in der Zeit des Nationalsozialismus keine eigene Epoche zuzubilligen ist, da „für die Geographie des Dritten Reiches von 1933 bis 1945 ein eigenständiges neues Konzept nicht nachgewiesen werden kann“ (BECK 1981, S. 69)14. Diese Argumentationslinie deckt sich auffallend mit der vieler Standardwerke zur Geschichte der Pädagogik bis Ende der siebziger Jahre15. Der politische Aspekt von Wissenschaft und Schule bleibt völlig unbeachtet, Fragen nach der politischen Verantwortung des Wissenschaftlers und des Lehrers werden gar nicht erst gestellt.
Ebenso wenig förderlich ist das Vorgehen des renommierten Geographen Julius Büdel, der in seinem Aufsatz über die Geographischen Gesellschaften in der Zeit von 1828 bis 1982 den Kriegszeitraum 1939-1944 ganz ausblendet und ansonsten die Katastrophenthese16 vertritt: „Als das 'Dritte Reich' ausbrach, wurden die Geographischen Gesellschaften, die sich ein wenig hinter Begriffen wie 'Lebensraumkunde' und 'Geopolitik' verbergen konnten, nicht in dem Maße 'gleichgeschaltet' wie andere Kulturverbände“ (BÜDEL 1982, S.12). Solch ein Verständnis vom Nationalsozialismus ist politisch gefährlich. Indem Büdel davon ausgeht, dass 1933 das 'Dritte Reich' quasi wie eine Vulkankatastrophe „ausbrach“, können Fragen nach Kontinuität und Mitverantwortung gar nicht erst aufkommen. Zudem spielt er die Verstrickung der Geographischen Gesellschaften mit der Geopolitik und der Lebensraumkunde kritiklos herunter.
Derartige Probleme der fehlenden bzw. mangelhaften Geschichtsschreibung über die Zeit des Nationalsozialismus sind dennoch keine disziplinspezifischen der Geographie sondern vielmehr allgemeine der deutschen Wissenschaftsgeschichte:
„Noch bis vor wenigen Jahren war die Zeit des Nationalsozialismus keine Periode, die das besondere Interesse der Wissenschaftshistoriker erregte. ...
Erkenntnisse über die Komplexität des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates etwa, die nicht ohne Auswirkungen auf die innere wie äußere Wissenschaftspolitik des Reiches bleiben konnten, wurden nicht zur Kenntnis genommen. ...
Heute zeigt sich ein anderes Bild. Nicht zuletzt jüngere und in starkem Maße auch ausländische Forscher haben die herkömmliche Wissenschaftsgeschichtsschreibung der nationalsozialistischen Zeit entscheidend revidiert“ (LEPENIES 1986, S. 287).
Diese Feststellung von Lepenies lässt sich auch für die Geographie bestätigen, mit der Einschränkung, dass der Erdkundeunterricht bis heute weitgehend unbeachtet blieb. Von ausländischer Seite brachten beispielsweise jüngst die Arbeiten von BASSIN (1987) und PATERSON (1987) neue Einsichten in das komplexe Verhältnis von Geopolitik und Nationalsozialismus. Bassin schildert mit beeindruckenden Belegen die Entstehung und Entwicklung des Konfliktes zwischen der deutschen Geopolitik, die originär einen naturdeterministischen Ansatz verfolgte, und dem Nationalsozialismus, der angeborene Rassenmerkmale für prägender hielt. Mit diesem „dilemma of `nature or nurture`“17 wird sich der Abschnitt über Geopolitik im Erdkundeunterricht noch eingehend beschäftigen.
Paterson seinerseits schlägt eine Rehabilitierung der deutschen Geopolitiker vor. Seiner Meinung nach kann die Geopolitik nicht für ihre politische Ausrichtung als „Zweckwissenschaft“ kritisiert werden, da auch heute Forschung - beispielsweise mit marxistischem Ansatz -politische Ziele verfolgt. Diese eher wissenschaftstheoretische Entlastung der Geopolitik abstrahiert meines Erachtens in unzulässiger Weise von den Inhalten, die mit ihren stark nationalistischen und oft imperialistischen Tönen auch in großem Maße Eingang in den Erdkundeunterricht der NS-Zeit gefunden haben, wie im folgenden noch gezeigt werden wird.
Als jüngerer Forscher sei Klaus Kost erwähnt, der in seiner detailreichen Untersuchung über „Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945“ (KOST 1986 b) u.a. zu dem überraschenden Ergebnis kommt, dass zwischen den Weltkriegen beinahe alle bedeutenden deutschen Geographen zeitweise auf dem Gebiet der Politischen Geographie und Geopolitik tätig waren.
Die vorliegende Dissertation gewinnt auch dadurch an Aktualität, dass seit Anfang der siebziger Jahre in Nordamerika und Europa eine starke Wiederbelebung der Geopolitik, einer der Hauptkomponenten des nationalsozialistischen Erdkundeunterrichts, zu beobachten ist. HEPPLE (1986) gibt einen Überblick über dieses neu erwachte Interesse an der Geopolitik. Er sieht den Ursprung dieses Interesses in der wechselnden internationalen politischen und wirtschaftlichen Situation und der wachsenden Multipolarität und Komplexität der Weltpolitik (ebd., S. 33). Diese Renaissance der Geopolitik geht allerdings nicht mit einer einheitlichen Verwendung des Begriffes einher. Im Gegenteil, sehr verschiedene Auffassungen des Terminus existieren nebeneinander und ignorieren in den meisten Fällen die Historie dieses Begriffs.
Andere Kreise in der Bundesrepublik wiederum verwenden bewusst die „Ideologie der Mitte“ „mit ihrem geopolitischen Tamtam von 'der alten europäischen Mittellage der Deutschen'“ (HABERMAS 1987, S. 135). BRUNKHORST (1987) kritisiert Geopolitik in diesem Zusammenhang scharf als typischen Begriff des Antiintellektualismus (ebd., S. 23).
Da zudem die NATO 1985 einen „Advanced Research Workshop“ über „Geopolitik im nuklearen Zeitalter“ veranstaltete18, und neueste historische Forschungen „Geopolitik“ und „Lebensraum“ überzeugend als wesentliche Bestandteile imperialistischer und nationalsozialistischer Ideologie extrahiert haben (SMITH 1986), erscheint die Verwendung dieses diffusen, meist ideologisch besetzten Begriffs in der Tat sehr suspekt. KOST (1986 a) spricht sich deshalb vorerst gegen eine weitere Verwendung des Begriffs aus (ebd., S. 22). Auch HEPPLE (1986) hält eine detaillierte historis...