Wissenschaft trifft Klassenzimmer
Ein Beispiel aus dem Schulalltag: KEL-Gespräch
Ein elfjähriges Mädchen, nennen wir es Sandra, berichtet beim Kind-Eltern-Lehrer-Gespräch (KEL-Gespräch) von ihren momentanen Lerngewohnheiten und ihren Lernfortschritten in der Schule. Sie fühle sich soweit wohl, erzählt sie, und sie gehe gerne in die Schule. Nur eine Sache mache ihr zu schaffen: Mathematik. Dieses Fach sei für sie das schwierigste.
In Mathematik schreibt Sandra keine guten Schularbeiten, obwohl sie, laut ihrer Mutter, so viel dafür lernt. Die Mutter erzählt, dass ihre Tochter vor dem Test alle Aufgaben zuhause durchrechnet und wiederholt, aber trotzdem will es bei der schriftlichen Überprüfung nicht so recht klappen. Im weiteren Gespräch fügt die Mutter hinzu:
„Wissen Sie, da ergeht es Sandra so wie mir. Ich war in der Schule in Mathematik auch nicht die beste Schülerin - da habe ich mir immer schwer getan. Leider hat sie das Talent vom Papa nicht geerbt, der ist nämlich ein sehr guter Rechner. Er hilft Sandra auch manchmal bei den Hausaufgaben, wenn sie sich nicht so recht auskennt. ... Ja, man kann nicht alles können - dafür ist Sandra gut in den Sprachen... "
Solche Gesprächsverläufe kenne ich nach 20 Jahren Berufserfahrung nur allzu gut. Es gibt immer wieder Schülerinnen und Schüler, bei denen es nicht in allen Unterrichtsfächern so läuft, wie sie es sich wünschen. Ihr Arbeitseinsatz ist hoch und trotzdem kommen am Ende nicht die Resultate zu Tage, die sie sich vorstellen. Als Entschuldigung oder Erklärung für ihre negativen Ergebnisse wird dann oftmals vom fehlenden Talent gesprochen. Das Kind habe es halt nicht vererbt bekommen und wenn man noch weiter in der Familiengeschichte zurückblickt, dann waren auch schon die Oma oder der Onkel nicht so gut in diesem Fach.
Wenn ich dann in so einem Gespräch auf die Körpersprache der betroffenen Kinder achte, stelle ich fest, dass sie sofort in sich zusammen fallen. Ihre Blicke gehen nach unten und ihr Kopf senkt sich. Vielleicht denken sie sich in diesem Moment: „Schade, so ist es. Für mich gibt es keine Lösung für dieses Problem."
Als Lehrerin bin ich in solchen Situationen sehr gefordert, denn ich will dem Kind ja trotzdem irgendwie Mut machen. Nur, was sagt man in diesem Moment am besten gegenüber dem Kind und den Eltern? Gibt es für Lernende überhaupt eine Chance, das Problemfach wieder zum Lieblingsfach zu machen?
Ich suchte nach Antworten auf meine Fragen und stieß auf sehr spannende Fakten aus der Wissenschaft. Die für mich bedeutsamsten Hinweise erhielt ich beispielsweise durch die „neue Wissenschaft vom bewussten Lernen".1
Der angesehene Expertiseforscher K. Anders Ericsson untersucht weltweit Menschen, die sich mit herausragenden Leistungen von der Masse abheben, sei es im Sport, in der Musik, in der Mathematik oder in verschiedenen Berufssparten. Seine Forschungsergebnisse geben Aufschluss darüber, auf welche Art und Weise sich Anfänger zu Experten entwickeln. Und interessanterweise kann ich, wie Sie noch erfahren werden, diese Erkenntnisse sogar in meinen Schulalltag integrieren.
Ich begann mit meinen Lernenden zu experimentieren und wir experimentieren noch immer. Denn ich merke: guter Unterricht bzw. Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler kommen unter anderem dann zum Vorschein, wenn man bereit ist, sich für neues Wissen zu öffnen und, was noch viel wichtiger ist, dieses Wissen anzuwenden. Was ich für mich erkannt habe, ist die Tatsache, dass viele meiner Zugänge zum Thema Lernen bzw. Lehren, die ich in meiner eigenen Ausbildung in Erfahrung brachte, längst überholt sind. Selbst Sie, liebe Leserinnen und Leser, hätten nicht zu diesem Buch gegriffen, wenn Sie nicht daran interessiert wären, noch andere Möglichkeiten für das Lernen bzw. Lehren zu entdecken. Ich versichere Ihnen, da geht noch was!
Kann man ein Begabungs-Gen vererbt bekommen?
Können Sie sich noch an Ihre Schulzeit erinnern, als Sie Rechnen, Schreiben, Lesen lernten? Wie gut sind Sie damals vorangekommen? Was fiel Ihnen leicht oder bereitete Ihnen besonderen Spaß? Gab es für Sie in der Schule vielleicht auch Herausforderungen auf irgendeinem Gebiet? Wie gut waren Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler? Gab es da irgendwelche Talente, zum Beispiel im Sport oder in der Musik, die Sie bewunderten, weil Sie selbst nicht so gut darin waren?
Ericsson erklärt, dass es vollkommen normal sei, dass wir „Menschen Dinge unterschiedlich schnell kapieren. Trotzdem glauben wir, es gäbe diese Glückspilze, die mit einem angeborenen Talent auf die Welt kamen, das ihnen den Weg ebnete und hervorragende Leistungen ermöglichte."2
Wenn es bei Lernenden einmal nicht so nach ihren Vorstellungen läuft, dann tätigen sie Aussagen wie:
„Mit Zahlen kann ich nicht gut umgehen. "
„Meine Mutter/mein Vater/mein(e) ... ist darin auch nicht gut."
„Ich bin nicht gut in Sprachen. "
„Ich kann das nicht besser."
„Dafür bin ich zu dumm."
Meistens wird dann in diesem Zusammenhang vom Talent gesprochen. Wenn dann noch eine Bestätigung aus der eigenen Familie hinzu kommt, wie beispielsweise von Sandras Mutter (siehe Einleitung zu diesem Kapitel), die auch schon nicht so gut in Mathematik war, dann wird ihr Glaube noch mehr bestätigt und die Hoffnung auf Verbesserung schwindet. Solange die Betroffenen den Ist-Zustand so hinnehmen wie er gerade ist, werden sich auch nicht wirkliche Veränderungen einstellen.
Laut Wissenschaft ist es ein Irrglaube zu meinen, der Erfolg eines Menschen hänge ausschließlich von seinen Talenten ab. Ericsson betont ausdrücklich, dass die Sache mit dem Talent völlig überschätzt wird. Die Forscher haben bisher auch noch kein Begabungs-Gen entdeckt, welches uns zu leistungsstärkeren Personen macht.3
Durch Talent allein wird man nicht zum Superstar.
Was würden Sie tun, wenn beim Erlernen einer neuen Fertigkeit Schwierigkeiten auftauchten (z.B. Fremdsprache sprechen, Instrumente spielen, Rechnen, Fußballspielen oder Ähnliches)? Würden Sie sich auch auf Ihr mäßiges Talent hinausreden oder hätten Sie einen konkreten Plan? Wüssten Sie, wie Sie vorgehen könnten, um über die Stolpersteine hinweg zu kommen? Oder wie würden Sie Ihrem Kind helfen, wenn es in der Schule plötzlich massive Lernprobleme hätte? Wüssten Sie als Eltern oder Lehrende, wie Sie es bestmöglich unterstützen könnten? Hätten Sie in diesem Moment brauchbare Strategien parat?
Auf den nächsten Seiten gehen wir diesen Fragen nach. Es gibt nämlich tatsächlich Möglichkeiten, um vom Lernmuffel zum Lernprofi zu werden. Dafür ist es wichtig zu verstehen, was sich in unserem Gehirn grundsätzlich beim Lernen abspielt, welche Lernphasen wir beispielsweise durchlaufen oder wie wir neue Lerngewohnheiten aufbauen können, um beim Lernen so richtig in Schwung zu kommen. Wenn Sie außerdem begreifen, worauf es beim Erlernen von neuen Fertigkeiten ankommt, steht einem Lernerfolg nichts mehr im Wege. So werden Sie handlungsfähiger und können mit herausfordernden Lernsituationen besser umgehen.
In welcher Lernphase stecke ich?
Lern-Kurve nach Leonard (eigene Skizze)
Vera F. Birkenbihl macht in ihrem spannenden Buch „Stroh im Kopf" 4 auf die sogenannte „Lern-Kurve" nach George Leonard aufmerksam (zit. in Leonard, 2006) 5. Als Lehrer und Ausbildner kam er zu der Erkenntnis, dass das Erlernen neuer Fähigkeiten, wie zum Beispiel Rechnen, Schreiben, Lesen, in mehreren Phasen abläuft:
In der Anfangsphase steigt unser Können langsam an und nach absehbarer Zeit erreichen wir ein bestimmtes Level. Wir merken, dass wir besser geworden sind. Danach kommen wir aber in eine Phase, in der die Leistung leicht abfällt und sich schließlich auf dem sogenannten „Plateau" stabilisiert. Nun braucht es Geduld, Ausdauer und fortlaufendes Training, um die Plateau-Phase zu durchschreiten. Wem das gelingt, der erlebt einen Leistungsanstieg auf das nächsthöhere Niveau seines Könnens.
Das bedeutet, dass Lernende irgendwann einmal an einen Punkt stoßen werden, an dem ihr Lernerfolg ins Stocken gerät. In dieser Phase (Leonard nennt es das „Plateau") fällt uns die Tätigkeit schwerer als zuvor und wir meinen, nicht mehr wirklich voran zu kommen. Leonard betont, wie wichtig es sei, sich mit diesem Plateau anzufreunden und ja nicht aufzugeben! Es sei ein natürlicher Prozess, der beim Erlernen von Fähigkeiten in Erscheinung tritt. Dieser merkbare Rückschritt in der Leistungsfähigkeit gehört also beim Lernen dazu und ist völlig in Ordnung.
Vera F. Birkenbihl ergänzt: „Jedes Plateau ist geradezu der Beweis dafür, dass Lernen stattfindet!"6
Wenn man als Lehrperson bestrebt ist, den Lernerfolg seiner Schülerinnen und Schüler voranzutreiben, dann finde ich es sehr wichtig, Lernende genau darüber zu informieren. In Schulbüchern habe ich von diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen bisher noch nichts gelesen. Es könnte aber für Lernende ein wichtiger Impuls sein, einmal während der Schulzeit vom Phänomen der „Lern-Kurve" gehört zu haben. Vielleicht würde das den enormen Druck nehmen, dem sie sich oft aussetzen?
Es ist auch für Eltern bzw. Lernbegleiter eine wichtige Information, denn so finden vielleicht Endlos-Diskussionen ein Ende. Wenn Jammern, Klagen und Vorwürfe weniger werden und stattdessen fachkundig beraten und gehandelt wird, wird es dem Kind leichter fallen, sich für das Lernen zu motivieren. Wer seine Misserfolge akzeptieren lernt, Vertrauen in sich aufbauen kann und sich die Zeit zugesteht, die es zum Aufbau von neuen Fähigkeiten nun einfach einmal braucht, wählt langfristig die klügere Strategie.
So erklärt Ericsson, „dass angeborene Eigenschaften die Leistungen von Menschen beim Erlernen neuer Fähig- und Fertigkeiten zwar beeinflussen können, dass Intensität und Effizienz des Lernens jedoch von weit größerer Bedeutung sind."7 Darin liegt also der große Unterschied, warum manche die Nase vorne haben und andere nicht.
Das Erlernen einer neuen Fertigkeit erfordert vielmehr ein bewusstes, aktives Vorgehen und Zeit. Verbesserungen gehen gehirntechnisch betrachtet schrittweise vonstatten.
Folgedessen müssten Versagensängste nicht sein, wenn Schülerinnen und Schüler in Erfahrung bringen, wie sie bedacht und klug beim Lernen vorgehen können. Lernerfolg wäre sozusagen planbar und als natürlich ablaufender Prozess erlebbar. Das wiederum erfordert eine optimale Begleitung seitens der Lehrperson, wobei die Notengebung bzw. Beurteilungen nicht im Vordergrund stehen dürfen.
Meiner Ansicht nach erlebe ich eine solch optimale Lernbegleitung in unserem Schulsystem noch nicht so wirklich. Noch immer wird Lernenden mit schlechten End-Noten gedroht, wenn sie einmal in ihrem Lernprozess ins Wanken geraten. Lernende berichten mir von Kommentaren wie:
„Wenn ihr nicht MEHR lernt, werdet ihr die Matura nicht schaffen."
„Wenn ihr nicht besser mitarbeitet, werdet ihr die nächste Schularbeit nicht gut schreiben."
„Wenn du so weiter machst, wirst du dieses Schuljahr nicht positiv abschließen."
Es ist mir natürlich schon klar, dass Erfolg in der Schule mit einem persönlichen Ei...