Prolog: Auf hoher See
Was heißt hier „stolpern“? „Wohin schlingert Europa“ wäre als Titel doch viel passender. Oder sollte es nicht noch genauer heißen, wohin „steuert“ Europa, der schon recht betagte, leicht angerostete Dampfer „Europa“ mit seinen vielen streitenden, nur mühsam zur Reise vereinten, aber ob der Reiseroute völlig verunsicherten Passagiere? Viele sehen sich auf einem soliden Vergnügungsdampfer, andere auf einem Schiff mit Schlagseite. Reiseziel unbestimmt. Und wer ist der Kapitän, und wo ist der Steuermann?
Als Hamburger habe ich viel Sympathie für das maritime Sprachbild vom Schiff und seinem Kapitän. Nur wer steht auf der Brücke der „Europa“? Wer steuert? Gehen wir auf dieses Schiff. Bei genauerem Hinsehen stellen wir fest, keiner steuert. Wir haben dort nicht nur eine Brücke und einen Kapitän sondern von jeder Art mindestens drei:
Auf der obersten Brücke stehen die 27 EU Kommissare mit ihrem Präsidenten und Steuermann Jean-Claude Juncker, der mit seiner Europäischen Kommission (EU-K) die Regierung Europas bilden möchte.
Auf der mittleren Brücke sehen wir die 7 Fraktionschefs der 177 Parteien des Europäischen Parlaments (EP) mit ihrem Steuermann, Parlamentspräsident Martin Schulz, der gerne aus und mit dem gewählten Parlament die europäische Gesetzgebung formen und die EU Regierung bestellen würde.
Auf der untersten Brücke drängeln sich die 28 Regierungschefs der EU Staaten, der Rat der Europäischen Union (ER), ohne Steuermann, aber mit einem Präsidenten Donald Tusk. Die 28 Staatenlenker sollten eigentlich über den Kurs des Schiffs entscheiden. Sie können aber nur mühsam und auf vielen, oft eilig zusammengerufenen Gipfelkonferenzen zu komplizierten Kompromissen über die Reiseroute finden. Mißmutig verfolgen sie das Treiben auf den beiden oberen Brücken. Derweil treibt das Schiff. Mit drei Präsidenten.
Nicht ganz steuerlos, denn hinter den drei Kommandobrücken gibt es die bestens eingerichteten, grandiosen Kartenräume, als mächtiger Turm mit Fernsicht, neu konstruiert. Kein Schornstein, sondern der bombastische EZB Tower. Dort beugt sich der wahre Steuermann des Schiffs, Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, zusammen mit seinem 25 köpfigen EZB Rat über diverse Seekarten. Mario Draghi verteilt auch die Gelder aus der Schiffskasse.
Er versucht zu steuern und das Schiff auf Kurs zu halten. Nur auf welchem Kurs und wohin steuert er das schlingernde Schiff? Er versucht einen leichten Inflationskurs über Geld, oft auch über Politik, zu steuern. Als Investment- und Notenbanker weiß er, dass Menschen über Geld am schnellsten lernen können. Also besorgt er den europäischen Politikern das Geld, das sie nicht haben, aber dringend brauchen, und verschafft ihnen damit Zeit zum Lernen. Über seine im Turm verborgene „Druckerpresse“. Und auf den Brücken stehen nur Politiker, keine Kapitäne und keine Seefahrer. Also bleibt ihm keine andere Wahl, er muss steuern.
Dann gibt es noch drei Luxussuiten auf dem Oberdeck. Dort sitzt in der größten Suite „Brüssel“ der EU Ministerrat (RdEU), der den Regierungschefs vor allem mit seiner „Eurogruppe“, den Finanzministern der Eurostaaten, zuarbeiten muss. Dort logiert auch ihr Präsident, Jeroen Dijsselbloem.
In der luxuriösen Suite „Luxemburg 1“ tagt der Europäische Gerichtshof (EuGH), der das Europäische Gemeinschaftsrecht auslegt. In der etwas ärmlicheren Suite „Luxemburg 2“ quält sich der Europäische Rechnungshof (EuRH), der danach schauen soll, wo das viele Geld geblieben ist.
Tief unten, im riesigen Maschinenraum, mühen sich 23.000 beamtete Rechts- und Schriftgelehrte, Technokraten und Dolmetscher der EU-K, die komplizierte Brüsseler Abstimmungs-, Gesetzes- und Verordnungsmaschinerie in Gang zu halten. Das sind die „Berufseuropäer“, auch „Eurokraten“ genannt. Das durch den intensiven Umlauf schon etwas trübe „Konsenswasser“ wird gebraucht, um die Maschinerie auf eine für europäische Kompromisse und Regelwerke notwendige Arbeitstemperatur zu bringen.
Dann gibt es auf unserem Schiff „Europa“ noch die 507 Millionen Passagiere, die Bürger der Europäischen Union (EU). Sie besetzen die Decks, die zahllosen Kabinen, sie bevölkern die Restaurants, Bars und Vergnügungszonen. Viele leiden, fühlen sich vergessen. Von all dem Gezerre auf den Brücken und in den Nebenräumlichkeiten bekommen sie kaum etwas mit. Eigentlich wollen sie auch gar nichts davon wissen. Sie sehen nur, das Schiff schwimmt noch. Das Schlingern spüren sie nur gelegentlich und bei besonderer Aufmerksamkeit. Sie gehen lieber ihren eigenen Interessen nach. Sie alle bezahlen das Brücken- und Hilfspersonal und dürfen sich alle fünf Jahre eine neue Leitung wählen, wenn sie denn überhaupt zur Wahl gehen. Sie sind Bürger und Steuerzahler Europas. Aus neun Ländern kommen sie mit eigenem, nationalem Geld. Aus neunzehn Ländern kommen sie mit ihrem Gemeinschaftsgeld, „Euro“ genannt. Sie sind die wahren Vertreter einer EU mit 28 Staaten.
Das ist der Masterplan, der Organisationsplan unseres „EU Europa“.
Hier möchte ich nun doch das einprägsame maritime Bild verlassen. Auf hoher See ist man in Gottes Hand, gesteuert von einem erfahrenen Kapitän und hoffentlich auf einem seetüchtigen, stabilen, gut konstruierten Schiff. Bei unserem Dampfer „Europa“ wissen wir das nicht so genau. Darum gefällt mir das Bild vom „stolpernden Europa“ doch besser.
Und unser EU Europa ist auch kein Schiff. Vielleicht nur ein lockerer Konvoi, in dem jedes der 28 Schiffe seinen eigenen, unberechenbaren Kurs fährt. Warum das reale „Europa“ der EU28 Staaten nicht irgendwohin steuert, sondern doch nur „stolpert“, werden wir in diesem Buch genauer sehen und begründen. Stolpert Europa doch immerhin voraus, denn rückwärts kann man, bildlich betrachtet, nicht so gut stolpern.
Also ist „Stolpern“ doch noch etwas Positives. Denn es vermittelt uns die Gewißheit: Es geht irgendwie weiter. Irgendwie. Und „EU Europa“ ist auch kein Konvoi, kein Geleitzug, sondern work in progress, unsere tägliche Realität. Das „Woher und Wohin?“ ist noch zu klären. Die drei Worte „Europa“, „Stolpern“ und „Wohin“ führen uns zu den drei Teilen dieses Buches:
I. Was ist Europa und wo liegt es?
II. Wer stolpert in Europa, wann und warum?
III. Wohin stolpert Europa?
I. Was ist „Europa“ und wo liegt es?
Beginnen wir mit europäischen Visionen, denn:
Die Visionen von Gestern
sind die Probleme von Heute
und die Kosten von Morgen
„Europa“ - eine Kurzgeschichte
Es mangelte in und für Europa nicht an großen Visionen: Die PAN Europa Union (Coudenhove-Kalergi, 1923, Otto v. Habsburg), die „Vereinigten Staaten von Europa“ (Winston Churchill, 1946), der „Europa Kongress“ (Den Haag, 1948) und das „Europa der Vaterländer“ (Charles de Gaulle, 1962) waren großartige Ideen, die schon früh in den politischen Träumen angelegt waren.
Auch nach der von Frankreich betriebenen Gründung der „Lateinischen Münzunion“ im Jahre 1865 dachte man an eine „Europäische Union“ mit der Münzunion als Vorläufer. So nannte man schon damals das erste, dann später grandios scheiternde europäische Einheitsprojekt. Auch eine „Europäische Kommission“ für die Münzunion stand auf der französischen Agenda.
Die 10 Mitglieder waren die industrialisierten Länder im Norden, die Gründungsmitglieder Frankreich, Belgien, Italien, Schweiz, und die agrarischen Länder im Süden des Kontinents mit ihren späteren Eintritten: Spanien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Österreich/Ungarn. Es war aber eine Münzunion ohne Deutschland und ohne Großbritannien.
Frankreichs Kaiser Napoleon III. wollte die Münzunion als Instrument der „Hegemonie über Kontinentaleuropa“ einsetzen. Sie siechte bis zu ihrem Untergang 1927 dahin. Sie scheiterte an ihren heterogenen Ökonomien.
Die Staaten scheuten schon damals die hohen Kosten der Auflösung. Dann gaben die zehn in Gelddingen so visionären Mitgliedsländer den untauglichen Versuch aber doch auf und stahlen sich davon.
Währungsunionen zeigen langlebiges Siechtum. Und scheitern dann. Es gibt in der Historie kein Beispiel einer gelungenen Währungsunion. Sie können keine machtpolitischen Rivalitäten beenden, glätten auch keine wirtschaftlichen Ungleichheiten, harmonisieren keine kulturellen Traditionen.
Die damaligen Konstruktionsfehler kommen uns heute sehr bekannt vor.
Durch nationale Hegemonialansprüche und Kriege wurden mutige Visionen immer wieder zerstört. Erst nach der Vernichtung Europas im ersten und dem endgültigen Untergang Europas im zweiten Weltkrieg gab es für die frühen Träume eine neue Chance.
Charles de Gaulle wollte ein kontinentales Europa ohne Großbritannien - und unter Führung Frankreichs. De Gaulle träumte zunächst von einem neuen „Karolingischen Europa“ in den Dimensionen des Reichs Karls des Großen. 1806 war das „Heilige römische Reich deutscher Nation“ nach 1000jähriger Geschichte sang- und klanglos untergegangen. Doch die Erinnerung daran lebte in Charles de Gaulle und den europäischen Visionären weiter. Zusammen mit Konrad Adenauer war er einer der Gründerväter der europäischen Integration.
Churchill stand in der Tradition George Washington’s, des ersten Präsidenten der USA, der von den kommenden „Vereinigen Staaten von Europa“ überzeugt war. Unter dem Eindruck der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1776, schrieb George Washington in einem Brief an den Marquis de Lafayette, seinen Mitstreiter im Kampf um die Unabhängigkeit der USA von der britischen Krone: „Wir haben ein Korn der Freiheit und Einheit gesät, das nach und nach auf der ganzen Erde keimen wird. Eines Tages werden, nach dem Muster der Vereinigten Staaten, die Vereinigten Staaten von Europa gegründet werden. Sie werden der Gesetzgeber aller Nationalitäten sein“. Er war der erste europäische Visionär.
In seiner berühmten Rede vor der Akademischen Jugend in Zürich, im September 1946, sprach Churchill von der „Erneuerung der europäischen Familie... Wir müssen ihr eine Ordnung geben, unter der sie in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben kann. Wir müssen eine Art Vereinigter Staaten von Europa errichten.“ Er sagte aber auch: „We will be for, but not with it“.
Die „Europäische Union“ wurde durch die Römischen Verträge von 1957 zur Realität, gegründet auf und getragen von den klassischen europäischen Werten: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Solidarität, Toleranz und unveräußerlichen Menschenrechten. Seit der Antike in Humanismus und Aufklärung entwickelt.
Ein hoher Anspruch, ein langer Weg, ein steiniger Weg.
Heute quälen wir uns ab mit den ungelösten Problemen visionären Denkens und Handelns, aber auch mit den in eine noch unbekannte Zukunft verdrängten politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen einer immer noch unvollendeten Europäischen Union.
Schicksalsjahre
Russland: Wir sahen in 2014 ein noch friedliches Europa in einem unfriedlichen Umfeld: 2014 war das Jahr, in dem der russische Präsident Wladimir Putin die Krim annektierte und im Osten der Ukraine einen Bürgerkrieg unter russischer Beteiligung anzettelte. Putin gründete mit Weissrussland und Kasachstan die „Eurasische Union“ und träumt von einem neuen noch größeren Russland, „Novarossiya“. Die untergegangene Sowjetunion (UdSSR) wirft einen langen Schatten. Kreml Experten beschreiben die politische Einstellung Putin’s mit dem Satz: „Russland mag Europa nicht, es ist kein Teil Europas, und überhaupt hat Europa ausgedient“. Eher ist wohl zu vermuten, dass Putin panische Angst vor den Werten des Westens hat, denn diese würden die Fundamente seines Machtsystems infrage stellen. Auch die Ukraine ist Europa! Und leidet jetzt unter einem Hybridkrieg. Auf europäischem Boden.
Tricksen, Erpressen und Schönfärben ist gängiges politisches Handwerkszeug, siehe Griechenland. Aber die Art, wie Putin und seine Oligarchen die westlichen Politiker und Medien schamlos belügen, das ist neu. Nicht nur die russischen Soldaten, die „in ihrem Urlaub“ in der Ukraine in Uniformen kämpfen, „die man in jedem Supermarkt kaufen kann“, sondern auch die neuesten russischen Panzer und Raketenwerfer, die man von den Ukrainern „erbeutet“ haben will, und die darum auch zur Eroberung der Ostukraine zum Einsatz gebracht werden konnten, werden als Lügen angeboten. Die Liste der Unwahrheiten ist lang. Dieses Verhalten ist schon mehr als imperiales Gehabe. Das ist eine Beleidigung der Intelligenz Europas.
Islamisten: 2014 war auch das Jahr, in dem der „Islamische Staat“ (IS) große Teile Syriens und des Irak eroberte und seine Terrorherrschaft im Namen des Islam über bestehende Grenzen hinaus ausbreitete. Andere islamistische Gruppierungen führen im Nahen Osten und in Afrika mit allen Mitteln des Terrors einen Krieg gegen den Westen, gegen die westlichen Werte. Nach den Ideologien des Kommunismus und des Nationalfaschismus im 20. Jahrhundert ist der Islamismus die neue Heimsuchung im beginnenden 21. Jahrhundert. Im Jahr 2015 tragen die Islamisten einen neuen Stellvertreterkrieg aus, nun im Jemen. Und die gemäßigte islamische Welt schaut zu. Sie grummelt ein bißchen. Sie schickt bewaffnete Kontingente. Aber sie handelt nicht wirklich. Noch nicht.
Türkei: 2014 war das Jahr, in dem sich Recep Tayyip Erdogan zum Präsidenten der Türkei wählen ließ, Europa den Rücken kehrte, und sich Russland zuwandte. Sein Regime zeigt zunehmend autokratische Züge. Mustafa Kemal Atatürk‘s Traum von einer laizistischen Türkei wird im Jahr 2023, hundert Jahre nach Gründung der modernen Türkei, wohl endgültig ausgeträumt sein.
Nach dem erhofften „arabischen Frühling“ des Jahres 2010, ausgerufen von der ägyptischen Jugend auf dem Kairoer Tahrir Platz, blieb nach einer freien Parlamentswahl in Tunesien nur dieses islamische Land den demokratischen Prinzipien verbunden. 2014 war ein Jahr alter, ungelöster Krisen und neuer Konflikte, die wir mit in das Jahr 2015 nehmen. Nur der Jahreswechsel trennt den Strom der Zeit und der Ereignisse in überschaubare Abschnitte.
Unsere Werte
Welche Werte halten den Westen, halten Europa zusammen, und fordern die Feinde der Freiheit heraus? Unsere Werte sind die allgemein gültigen, unveräußerlichen Menschenrechte, die Gewaltenteilung und die Herrschaft des Rechts, der Rechtsstaat. Das ist das Erbe der Aufklärung. Es ist die Emanzipation aus der „selbst verschuld...