Faszinierend flüchtig
und doch nie wirklich frei.
Ein zarter Hauch, ein Trugbild,
ein wildes Tier aus dem Nichts.
Geschichten der Dunkelheit.
Gefangen im Licht.
Botschaften, die nur sieht,
wer beide zu sich nimmt.
Stets fort vom Licht
ist des Schatten Ziel.
Doch nie zu weit.
Denn nur zusammen
leben sie.
Maria Reichenauer
Schatten sind wahrhaft flüchtige Gesellen. Nicht immer entwickeln sie so viel Eigenleben wie in dem spannenden Märchen von Hans Christian Andersen. Und doch scheint so mancher Schatten eine eigene Existenz zu führen. Während der eine ein Bild vervollständigt, Kreise schließt oder Bewegungen mitgeht, erscheint manchmal ein Bild an der Wand, das keinen Ursprung zu haben scheint. Als Fotograf muss man sich beeilen, will man die kurzlebigen Kameraden einfangen. Schon im nächsten Augenblick verlieren die Bilder an Intensität oder lösen sich ganz auf.
Als ich das Märchen Hans Christian Andersens zum erstenmal las, war mir sofort klar, dass dieser Text meine fotografischen Gedanken so vollkommen widerspiegelt, dass ich über kurz oder lang an diesem wundervollen dänischen Schriftsteller nicht vorbeikommen würde. Mit diesem Büchlein erfülle ich mir den Wunsch, meine Bilder neben seinen mitreißenden Text zu stellen.
Maria Reichenauer, April 2016
Vorhang auf!
In den heißen Ländern – da kann die Sonne aber brennen! Die Leute werden ganz mahagonibraun, ja, in den allerheißesten Ländern werden sie sogar ganz schwarz; aber das ist nur in heißen Ländern so, in die ein gelehrter Mann aus den kalten Ländern gekommen war.
Zuerst glaubte er, sich dort wie zu Hause bewegen zu können, doch das musste er sich bald abgewöhnen. Auch er, wie alle vernünftigen Leute, mußte drinnen bleiben, die Fensterläden und Türen blieben den ganzen Tag geschlossen; es sah aus, als schliefe das ganze Haus oder als sei niemand daheim. Die schmale Straße mit den hohen Häusern, wo er wohnte, war außerdem so gebaut, daß die Sonne vom Morgen bis zum Abend darauf lag; es war wirklich nicht auszuhalten!
Der gelehrte Mann, der jung und klug war, meinte, er säße in einem glühenden Ofen. Das zehrte an ihm, er wurde ganz mager. Selbst sein Schatten kroch zusammen und er wurde viel kleiner als zu Hause. Auch an ihm zehrte die Sonne. – Erst am Abend, wenn die Sonne untergegangen war, lebten sie auf.
Es war ein wahres Vergnügen, das mit anzusehen. Sobald das Licht in der Stube gebracht wurde, streckte der Schatten sich die ganze Wand hinauf, ja sogar noch über die Decke, so dehnte er sich, um wieder zu Kräften zu kommen. Der Gelehrte ging auf den Altan hinaus, um sich zu strecken, und sobald die Sterne in der herrlich klaren Luft hervorkamen, durchströmte ihn neues Leben.
Auf allen Altanen entlang der Straße, und in den warmen Ländern hat jedes Fenster einen Altan, traten Leute heraus, denn Luft muß man haben, selbst wenn man daran gewöhnt ist, mahagonifarben zu sein!
Nun wurde es lebendig oben und unten. Schuhmacher und Schneider, alles Volk zog auf die Straße. Tische und Stühle kamen hinaus, und das Licht brannte. Ja, über tausend Lichter brannten, und der eine redete und der andere sang, und die Leute spazierten umher, die Wagen fuhren, Eselchen trabten: klingelingeling! Denn sie hatten Glöckchen umhängen.
Dort wurde eine Leiche mit Psalmgesang zu Grabe getragen, die Straßenjungen lärmten mit Zauberknarren, und die Kirchenglocken läuteten; ja, das war jetzt ein Leben unten auf der Straße! Nur in einem Haus, das dem des gelehrten Mannes direkt gegenüber lag, blieb es ganz still.
Und doch mußte dort jemand wohnen, denn es standen Blumen auf dem Altan, die trotz der Sonnenhitze so wunderbar wuchsen, und das hätten sie nicht gekonnt, wären sie nicht begossen worden. Irgend jemand mußte sie also versorgen. es mußten also Menschen dort sein. Auch stand die Tür zum Altan dort drüben offen, doch drinnen war es ganz dunkel, jedenfalls im vordersten Zimmer; von innen her ertönte Musik.
Dem fremden, gelehrten Mann erschien sie ganz unvergleichlich schön, aber es konnte auch gut möglich sein, daß er sich das einbildete; denn hier draußen in den warmen Ländern fand er alle Dinge unvegleichlich schön, wenn nur die Sonne nicht gewesen wäre. Der Hauswirt des Fremden erklärte, er wüßte nicht, wer das gegenüberliegende Haus gemietet habe, man sah ja niemanden, und was die Musik anging, meinte er, so sei sie ...