IV.
Der Hohepriester oder
Andachtsbüchlein des Unternehmers
Dieses Buch hat in den Händen mehrerer Kapitalisten zirkuliert und ist von ihnen mit Anmerkungen versehen worden. Hier einige derselben:
»Es ist anzunehmen, dass diese Vorschriften der göttlichen Weisheit von dem plumpen Begriffsvermögen der Lohnarbeiter falsch ausgelegt werden. Ich meine daher, dass man sie in Volapük oder irgendeine andere heilige Sprache übersetzen sollte.«
Unterzeichnet Chagot
»Man sollte sich die jüdischen Schriftgelehrten zum Vorbild nehmen, die den Laien die Lektüre des Hohepriesters Salomo untersagten, und das Andachtsbüchlein des Unternehmers nur Eingeweihten mitteilen, die mehr als eine Million Mark besitzen.«
Unterzeichnet Bleichröder
»Eine Million Mark scheint mir zu lumpig. Schlage eine Million Dollar vor.«
Unterzeichnet Jay Gould
1.
Die Natur des Gott-Kapitals
1.
Denke nach über die Worte des Kapitals, deines Gottes.
2.
Ich bin der menschenfressende Gott, ich setze mich in die Fabriken zu Tisch und verspeise die Lohnarbeiter. Ich verwandle ihre Substanz in göttliches Kapital. Ich bin das unendliche Rätsel: meine Substanz ist ewig und doch nur vergängliches Fleisch, meine Allmacht ist nichts als die Schwäche der Menschen. Die träge Kraft des Kapitals ist die Lebenskraft des Arbeiters.
3.
Ich bin die unermessliche Seele der zivilisierten Welt; mein Körper ist unendlich vielfach und mannigfaltig. Ich lebe und webe in allem, was da gekauft und verkauft wird. Ich wirke in jeder Ware, keine hat außerhalb meiner lebendigen Einheit eine eigene Existenz.
4.
Ich glänze im Gold und stinke im Mist, ich gäre im Wein und bin Gift im Vitriol. Ich lebe in allem.
5.
Der Mensch sieht, fühlt, riecht und schmeckt meinen Körper, aber mein Geist ist feiner als der Äther und unbegreiflich für die Sinne. Mein Geist ist Kredit. Er bedarf keines Körpers, um sich zu offenbaren.
6.
Ich belebe und verwandle alle Dinge. Als geschickter Chemiker verwandle ich weite Fluren, schweres Metall und große Herden in Aktien. Und leichter als Knallgasbläschen, wenn Elektrizität sie treibt, tanzen und hüpfen an der Börse, meinem Tempel, von Hand zu Hand Kanäle, Hochöfen, Fabriken und Bergwerke.
7.
In den Ländern, wo die Bank herrscht, geschieht nichts ohne mich. Ich befruchte die Arbeit, ich presse die unwiderstehlichen Kräfte der Natur in den Sklavendienst der Menschen und stelle ihm als mächtigen Hebel die Summe der erworbenen Wissenschaften zur Verfügung.
8.
Ich umgarne die menschlichen Gesellschaften mit dem goldenen Netz des Handels und der Industrie.
9.
Der Mensch, so er kein Kapital hat, wandelt nackt durch das Leben, umgeben von wilden Feinden, die ausgerüstet sind mit allen Waffen der Marterung und des Todes.
10.
Wenn er stark ist wie ein Stier, wird man die Last seiner Schultern vermehren, wenn er fleißig ist wie die Ameise, wird man sein Arbeitspensum verdoppeln.
11.
Was sind Wissenschaft, Arbeit und Tugend ohne Kapital? Eitelkeit und Jammer.
12.
Denn ohne die Gnade des Kapitals leitet die Wissenschaft den Menschen abseits in die Pfade des Wahnsinns, stürzen ihn Arbeit und Tugend in den Abgrund des Elends.
13.
Weder Wissenschaft noch Tugend, noch Arbeit befriedigen den Geist des Menschen wirklich. Ich bin es, das Kapital, das die hungrige Meute seiner Gelüste und seiner Leidenschaften befriedigt.
14.
Ich gebe mich hin und entziehe meine Gegenwart nach Wohlgefallen, ich lege keinerlei Rechenschaft ab. Ich bin der Allmächtige, der über die Dinge herrscht, so da belebt sind, und über die, so da unbelebt sind.
2.
Der Auserwählte des Kapitals
1.
Der Mensch, dieser verdorbene Haufen Erde, kommt nackt zur Welt, um, gleich einer Gliederpuppe in einen Kasten eingeschachtelt, unter der Erde zu faulen, und seine Asche düngt das Gras des Feldes.
2.
Und doch ist es dieser Sack voller stinkendem Mist, den ich auserkoren habe, mich zu vertreten. Mich, das Kapital, mich, das mächtigste Wesen unter der Sonne.
3.
Ich erwähle meinen Erkorenen weder um seiner Intelligenz, noch um seiner Schönheit, noch um seiner Jugend willen, sondern weil es mir gerade gefällt.
4.
Seine Dummheit, seine Laster, seine Hässlichkeit und sein Alter sind Beweise für meine unberechenbare Macht.
5.
Die Menschen finden die Albernheiten des Kapitalisten geistreich, sie versichern ihm, dass sein Genie der Wissenschaft der Pedanten nicht bedarf. Die Dichter bitten ihn, sie zu inspirieren, die Künstler erwarten auf den Knien seine Kritik, die Frauen schwören ihm, er sei ihr Ideal, die Philosophen deuten seine Laster zu Tugenden, und die Ökonomen entdecken, dass sein Nichtstun allein es ist, das alles in Bewegung setzt. Weil ich ihn zu meinem Auserwählten gemacht, erblicken sie alle im Kapitalisten die Verkörperung der Tugend, der Schönheit, des Genies.
6.
Eine Herde von Lohnarbeitern arbeitet für den Auserwählten, während er isst, trinkt, schäkert und schläft.
7.
Der Kapitalist arbeitet weder mit der Hand noch mit dem Kopf.
8.
Er hat Arbeitsvieh – Männer und Weiber – um das Land zu beackern, das Eisen zu schmieden, Stoffe zu weben; er hat Direktoren und Vormänner, um es zu regieren, er hat Gelehrte, um zu denken. Der Kapitalist weiht sich der Arbeit für die Latrine. Er isst und trinkt, um Dung zu produzieren.
9.
Ich überhäufe den Auserwählten mit beständigem Wohlbefinden. Denn was gibt es Besseres und Reelleres auf der Erde, als zu essen, zu trinken, zu schäkern und sich zu ergötzen? Der Rest ist nichts als Eitelkeit und Jammer.
10.
Ich lindere die Leiden aller Art, damit die Erde schön und angenehm für die Auserwählten sei.
11.
Das Gesicht hat sein Organ, der Geruch, das Gefühl, der Geschmack, das Gehör, die Liebe haben auch ihre Organe. Ich versage dem Auserwählten nichts, was seine Augen, sein Mund, sowie seine anderen Organe begehren.
12.
Die Tugend hat ein doppeltes Antlitz: die Tugend des Kapitalisten heißt Genießen, die Tugend des Arbeiters heißt Entbehren.
13.
Der Kapitalist nimmt auf Erden, was ihm gefällt, er ist der Herr. Wenn er der Frauen übersatt ist, lässt er seine Sinne durch halbreife Kinder reizen.
14.
Der Kapitalist ist das Gesetz. Die Gesetzgeber verfertigen Gesetze nach seinem Bedürfnis, die Philosophen passen die Moral seinen Sitten an. All sein Tun ist gerecht und gut. Jede Handlung, die seine Interessen verletzt, ist Verbrechen und wird bestraft.
15.
Ich behalte den Auserwählten ein Glück vor, das den Lohnarbeitern unbekannt bleibt. Profit zu machen ist die erhabenste Freude. Wenn der Auserwählte Profit einstreicht, so verliert er seine Mutter, seine Frau, seine Kinder, seinen Hund und seine Ehre und bewahrt doch seinen Gleichmut. Keinen Profit machen ist dagegen das nicht wieder gutzumachende Unglück, für das der Kapitalist keinen Trost kennt.
3.
Die Pflichten des Kapitalisten
1.
Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Mit jedem Tage vermindere ich die Zahl meiner Auserwählten.
2.
Ich gebe mich den Kapitalisten hin, ich verteile mich unter sie. Jeder Auserwählte erhält einen Teil des einzigen Kapitals, aber er behält es nur, wenn er es vermehrt, wenn er es Profite tragen macht. Das Kapital zieht sich zurück von dem, der seine Gesetze nicht erfüllt.
3.
Ich habe den Kapitalisten dazu erwählt, dass er Mehrwert herausschlage – seine Mission ist, Profite aufzuhäufen.
4.
Um frei und ungebunden sich dieser Jagd nach dem Profit hingeben zu können, entledigt sich der Kapitalist aller Freundschaftsbande. Wo es einen Gewinn einzustreichen gibt, kennt er weder Freund noch Bruder, noch Ehef...