Nation der Freiheit
„Freiheit ist das höchste Gut. Alles Andere nur als Mittel dazu, gut als solches Mittel, übel, falls es dieselbe hemmt. Das zeitliche Leben hat darum selbst nur Werth, inwiefern es frei ist: durchaus keinen, sondern ist ein Übel und eine Qual, wenn es nicht frei seyn kann. Sein einziger Zweck ist darum, die Freiheit fürs Erste zu brauchen, wo nicht, zu erhalten, wo nicht, zu erkämpfen; geht es in diesem Kampfe zu Grunde, so geht es mit Recht zu Grunde, und nach Wunsch; denn das zeitliche Leben – ein Kampf um Freiheit.“1
Diese Worte des deutschen Idealisten Johann Gottlieb Fichte, verfasst in seinem vorletzten Lebensjahr und damit zu Beginn der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich, lassen sich gleichsam als eindrucksvolles Plädoyer für die Freiheit lesen – für die Freiheit des Einzelnen, aber auch für die Freiheit der Nation. Fichte spricht der deutschen Nation den Glauben an „Freiheit“ und „Selbständigkeit“ zu – als Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Nationen, insbesondere gegenüber Frankreich. Das Streben nach „Freiheit“ im eigentlichen Sinne habe die französische Nation bereits aufgegeben. Die Ideen der Französischen Revolution, darunter die Freiheit, seien – gerade in der Person Napoleons – der Unfreiheit geopfert worden. Das Streben nach Freiheit sei damit gerade ein Wesens- und Identifikationsmerkmal der Deutschen. Man könnte sagen: Deutschland will und soll an erster Stelle „Nation der Freiheit“ sein.
Fast 200 Jahre nach Fichtes Vorträgen „über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche“ aus dem Sommer 1813 stellen wir uns erneut die Frage: Ist es wirklich die Idee der Freiheit, die – neben kultureller und sprachlicher Gemeinsamkeiten – die „deutsche Nation“ ausmacht? Kann man an solch einer abstrakten Idee, die ja zu Fichtes Zeit ganz konkrete historische Assoziationen auslöste, noch die kulturelle Identität einer Nation festmachen, die im Wandel und in kultureller Öffnung und Pluralisierung begriffen ist?
Die Sprache?
Als Leitfaden für den Begriff „Nation“ bietet sich heutzutage die „Kulturnation“ an, die sich im deutschen Recht niedergeschlagen hat. § 6 des Bundesvertriebenengesetzes definiert so: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ – Einer Kulturnation gehört man also gar nicht primär durch Abstammung an, die „leiblich“ (ius sanguinis) oder „örtlich“ (ius soli) begründet werden kann. Das Entscheidende ist nicht die „formale“ Abstammung, die für die Staatsangehörigkeit erheblich sein kann. Zentral ist das materielle Bekenntnis zum „deutschen Volkstum“. Dieses kann in der Abstammung und der Erziehung gründen sowie sich in deutscher Sprache und Kultur ausdrücken. Der etwas schwierige Terminus „deutsches Volkstum“, den der Gesetzgeber explizit verwendet, lässt möglicherweise Assoziationen aus der Vergangenheit wach werden, die man lieber nicht erwähnen möchte. Schließlich lässt sich ein solch offener Begriff leicht für negative Diskriminierungen und Ausgrenzungen missbrauchen. Trotzdem muss man sich – frei von jeder politischen Ideologie – Gedanken darüber machen: Was macht denn das „Deutsche“ am „deutschen Volkstum“ aus? – Die Sprache? – Selbstverständlich. Sie ist aber nicht das einzige Wesensmerkmal. Schließlich wird auch in Österreich, Liechtenstein sowie in Teilen der Schweiz, von Italien, Belgien und Luxemburg deutsch gesprochen. Muttersprachler finden sich sogar in weiteren mittel- und osteuropäischen Staaten bis nach Zentralasien, Afrika und Amerika. Die Sprache ist ganz entscheidend, um in Deutschland überhaupt Fuß fassen zu können. Sie alleine macht allerdings eine Person nicht zu einem oder einer „Deutschen“. Knüpft man an das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland an, so wird man auch dies als Engführung abtun müssen.
Deutsche findet man auch außerhalb des Bundesgebietes – „in ihrer Heimat“, wie das Bundesvertriebenengesetz formuliert. Solche Minderheiten erklären sich hauptsächlich durch die Vertreibungen, Um- und Aussiedlungen des 20. Jahrhunderts. So findet man Deutsche in Polen (Oberschlesien), Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Israel, Namibia, Brasilien, Chile und den USA. Diese allein aufgrund ihrer deutschen Sprache als Deutsche kennzeichnen zu wollen, würde, wie oben gezeigt, in die Irre führen. Es muss etwas hinzutreten.
Die Kultur?
Angesichts der kulturellen, sozialen und konfessionellen Zersplitterung in Deutschland selbst kann man mit Fug und Recht infrage stellen, ob „deutsche Kultur“ als Identifikationsmerkmal für Deutsche gelten darf: Schließlich gibt es in Deutschland einerseits ein West-Ost-Gefälle, andererseits einen breiten kulturellen Graben zwischen Nord- und Süddeutschland, ja selbst noch einmal klar unterscheidbare kulturelle Ausprägungen in Norddeutschland und in Süddeutschland – etwa eine regelrechte Trennung von Bayern und Franken, eine sprachlich und kulturell bedingte Differenzierung zwischen Badenern und Schwaben. Deutschland ist überaus pluralistisch. Es gibt klare sprachliche Differenzen (Dialekte), eine recht plurale bzw. überwiegend „bipolare“ konfessionelle Landschaft (katholische und evangelische Christen, aber auch Juden und Muslime) sowie unterschiedliche kulturelle Eigenheiten (Festtage, Brauchtum, Trachten, Küche) – und zwar in jedem Land und jeder Region anders. Eine solche kulturelle Vielfalt kann für eine Nation ein großer Segen sein. Bei unserer Suche nach dem Wesen der „deutschen Nation“ hilft sie uns allerdings recht wenig weiter. Man könnte eine solche kulturelle Vielfalt in diesem Kontext auch als „Kulturzersplitterung“ bezeichnen. Denn bei den vielen kulturellen Eigenheiten – neben der schon unterschiedlichen Sprache – ein gemeinsames „Drittes“, ein „tertium comparationis“, zu finden, fällt ziemlich schwer. Es besteht die Gefahr vor den vielen Bäumen den „Wald“ nicht mehr zu sehen – das, was alle Deutschen verbindet.
Wein, Bier, Schweinshaxen, Lübecker Marzipan, Dirndl, Meissner Porzellan, Schnitzereien aus dem Erzgebirge oder Schwäbische Spätzle gehören zu Deutschland dazu. Aber Deutschland würde wohl auch ohne sie auskommen. Sie machen nicht die „deutsche Kultur“ aus. Es gibt sicherlich auch Deutsche, die sich in Deutschland heimatlos fühlen würden und sich gerade nicht mit solchen regionalen Besonderheiten identifizieren können. Und im Übrigen gibt es die genannten „Spezialitäten“ heute nicht mehr nur in Deutschland. Sie machen Deutschland nicht mehr „speziell“. Insbesondere sind sie nicht so „speziell“, dass uns andere Länder darum beneiden müssten.
Ein Blick in die Geschichte
Viele der heutigen touristischen Attraktionen, die für uns typisch „deutsch“ sind, werden gerne überstrapaziert. Die Kultur Bayerns auf Weißwurst, Weißbier, Sauerkraut und Laugenbrezeln zu reduzieren, wäre ziemlich oberflächlich und verfehlt. Will man die Zusammengehörigkeit einer Nation erforschen, sollte man sich weniger an lokalem Brauchtum orientieren als an der gemeinsamen Geschichte dieser Nation. Die gemeinsame Geschichte Deutschlands reicht zurück bis in die Zeit Karls des Großen, möglicherweise sogar weiter. Wir erinnern uns an die lange Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, das ab dem 15. Jahrhundert den bezeichnenden Zusatz „Deutscher Nation“ trägt. Ob man die Einwohner des Heiligen Römischen Reiches schon als „Deutsche“ bezeichnen kann, erscheint fraglich.
Wir können uns heute zumindest rückblickend nur noch wenig mit den Kaisern des Alten Reiches ...