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Siebentes Buch
1.
Was ist Schlechtigkeit? Nichts anderes, als was du schon oft gesehen hast. Und so sei dir denn bei jedem Ereignis der Gedanke zur Hand: »Es ist nur etwas, das du schon oft gesehen hast.« Dann wirst du finden, daß alles, wovon jetzt die Jahrbücher der alten, mittleren und neueren Geschichte und wovon auch jetzt noch Staaten und Familien voll sind, in jedem Betracht auf und ab ganz das nämliche sei. Nichts Neues; alles gewöhnlich und kurz dauernd.
2.
Wie wäre es überall möglich, Grundsätze zu ertöten, wenn die ihnen entsprechenden Vorstellungen nicht ausgelöscht worden sind, deren beständige Wiederanfachung von dir abhängt? Ich kann über dies und das so urteilen, wie ich soll; kann ich’s aber, wozu meine Unruhe? Was außerhalb meiner Denkkraft liegt, ist überall nicht maßgebend für meine Denkkraft. Fühle das, und du stehst fest da. Wieder aufzuleben hängt dann von dir ab. Betrachte die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bisher ansahst! Denn darin besteht das Wiederaufleben.
3.
Eitle Prachtliebe, Bühnenspiele, Herden von Klein- und Großvieh, ein Lanzenrennen, ein Knochen unter junge Hunde, ein Bissen in einen Fischbehälter geworfen, die mühsame Lastträgerei von Ameisen, das Hin- und Herlaufen erschrockener Fliegen, bewegliche Gliederpuppen haben im Grunde einerlei Wert. Mitten in diesem Getreibe nun muß man freundlich und leidenschaftslos dastehen und erkennen, daß jeder Mensch denselben Wert habe wie die Gegenstände seiner Bemühungen.
4.
Bei einer Rede muß man acht haben auf die Ausdrücke und bei allem Bestreben auf die Erfolge. Bei letzterem muß man sogleich zusehen, auf welchen Zweck es hinziele, und bei ersterer, was damit angedeutet werde.
5.
Reicht mein Verstand zu diesem Geschäft hin oder nicht? Reicht er hin, so verwende ich ihn dazu als ein von der Allnatur mir verliehenes Werkzeug. Reicht er aber nicht hin, so überlasse ich das Werk dem, der es besser ausrichten kann, wenn es anders nicht zu meinen Pflichten gehört, oder ich vollbringe es, so gut ich’s vermag, und nehme dabei einen andern zu Hilfe, der, von meiner Geisteskraft unterstützt, vollbringen kann, was dem Gemeinwohl gerade jetzt dienlich und zuträglich ist. Denn was ich auf meine eigene Kraft beschränkt oder mit Hilfe eines anderen zustande bringe, es soll in dieser Weise nur das Gemeinnützige und Ersprießliche zum Ziele haben.
6.
Wie viele Hochgepriesene sind bereits der Vergessenheit überantwortet! Und wie viele, die ihren Preis angestimmt haben, sind schon längst hinweggeräumt!
7.
Schäme dich nicht, dir helfen zu lassen! Denn dir ist, wie dem Krieger beim Sturmlaufen, nur vorgeschrieben, deine Pflicht zu tun. Wie nun, wenn du deines lahmen Fußes wegen nicht allein imstande bist, die Mauerzinne zu ersteigen, dies aber mit Hilfe eines anderen dir möglich wäre?
8.
Laß dich die Zukunft nicht anfechten! Wirst du sie ja doch, wenn es so sein soll, einmal erreichen, mit derselben Vernunft ausgerüstet, welche dir jetzt in der Gegenwart Dienste leistet.
9.
Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten! Nahezu nichts ist sich fremd. Eines schließt sich ja dem anderen an und schmückt, mit ihm vereinigt, dieselbe Welt. Aus allem zusammengesetzt ist eine Welt vorhanden, ein Gott, alles durchdringend, ein Körperstoff, ein Gesetz, eine Vernunft allen vernünftigen Wesen gemein, und eine Wahrheit, sofern es auch eine Vollkommenheit für all diese verwandten, derselben Vernunft teilhaftigen Wesen gibt.
10.
Alles Materielle verschwindet gar bald im Urstoff des Ganzen, und jede wirkende Kraft wird gar bald in die Vernunft des Ganzen aufgenommen. Aber ebenso schnell findet die Erinnerung an alles ihr Grab im ewigen Zeitenlaufe.
11.
Bei dem unvernünftigen Wesen ist eine naturgemäße Handlungsweise immer auch eine vernunftmäßige.
12.
Von selbst aufrecht stehend oder aufrecht gehalten?
13.
Gleichwie bei einem vereinten Körperganzen die einzelnen Glieder, so verhalten sich trotz ihrer Trennung die einzelnen vernunftbegabten Wesen zu einander. Auch sie sind zum Zusammenwirken eingerichtet. Diese Erwägung wird um so größeren Eindruck auf dich machen, wenn du oft zu dir selbst sagst: »Ich bin ein Glied der Gesamtheit von Vernunftwesen.« Erklärst du dich aber nur für einen Teil des Ganzen, so liebst du die Menschen noch nicht von Herzen, so erfreut dich das Wohltun noch nicht aus reiner Überzeugung. Du übst es bloß als etwas, das sich geziemt, nicht aber für dich selbst eine Wohltat ist.
14.
Mag den Teilen, welche durch einen solchen Stoß berührt werden können, von außen her zustoßen, was da will, denn diese leidenden Teile mögen, wenn sie wollen, sich darüber beschweren: ich jedoch habe, solange ich das Ereignis nicht für ein Übel halte, noch nicht dabei gelitten; es aber nicht dafür zu halten, steht ja ganz bei mir.
15.
Möge jemand tun oder sagen was er will, mir gebührt es jedenfalls, rechtschaffen zu sein; wie wenn das Gold oder der Smaragd stets sagen würden: »Tue oder sage einer, was er will, ich muß Smaragd sein und meine Farbe behaupten.«
16.
Die herrschende Vernunft bereitet sich selbst keine Unruhe, sie stürzt sich zum Beispiel nicht selbst in Furcht noch in Mutlosigkeit; kann aber ein anderer ihr Furcht oder Traurigkeit einflößen, so mag er’s tun, denn sie selbst wird sich durch ihr Urteil in keine solche Gemütsbewegungen versetzen. Daß aber der Körper nicht leide, dafür mag er sorgen, wenn er kann, und es sagen, wenn er leidet. Die Seele aber, der eigentliche Sitz der Furcht, der Traurigkeit und der dahin einschlagenden Meinungen, wird wohl nicht, wenn sie sich nicht selbst zu derlei Urteilen verführt, leiden. Denn die in ihr herrschende Vernunft ist an und für sich bedürfnislos, wenn sie sich selbst keine Bedürfnisse schafft; ebendeshalb kennt sie auch weder Unruhe, noch Hindernis, wenn sie sich selbst nicht beunruhigt und hindert.
17.
Wohlsein heißt einen guten Genius haben oder gut sein. Was machst du also hier, Einbildung? Geh, um der Götter willen, wie du gekommen bist, denn ich brauche dich nicht! Du bist gekommen nach deiner alten Gewohnheit. Ich zürne dir nicht; nur geh fort!
18.
Mancher fürchtet sich vor der Verwandlung. Was kann denn ohne Verwandlung werden? Was ist demnach der Allnatur lieber oder angemessener? Kannst du selbst auch nur ein Bad gebrauchen, ohne daß das Holz, oder Nahrung genießen, ohne daß die Speisen sich verwandeln? Oder kann sonst etwas Nützliches ohne Verwandlung zustande gebracht werden? Siehst du es also nicht ein, daß es mit deiner eigenen Verwandlung die gleiche Bewandtnis habe und daß sie für die Allnatur gleichfalls notwendig sei?
19.
Alle Körper nehmen durch das Weltall, wie durch einen reißenden Strom, ihren Lauf und sind, wie die Glieder unseres Leibes untereinander, so mit jenem Ganzen innig verbunden und zusammenwirkend. Wie manchen Chrysipp, wie manchen Sokrates, wie manchen Epiktet hat schon der Zeitenlauf verschlungen! Ebendieser Gedanke falle dir beim Anblick jedes Menschen und jedes Gegenstandes ein.
20.
Eines nur ficht mich an, daß ich für meine Person nichts tue, was die Einrichtung des Menschen überhaupt nicht will oder so nicht will oder gerade jetzt nicht will.
21.
Bald wird alles bei dir und bald wirst auch du bei allem in Vergessenheit sein.
22.
Es ist ein eigentümlicher Vorzug des Menschen, auch die, welche sich verfehlen, zu lieben. Dazu kommt’s auch bei dir, wenn dir der Gedanke nahe tritt, daß sie mit dir eines Geschlechtes sind, daß sie aus Unwissenheit und gegen ihren Willen fehlen, daß ihr beide nach kurzer Zeit tot sein werdet und vor allem, daß dein Widersacher dich nicht beschädigt hat. Denn er hat die in dir herrschende Vernunft doch nicht schlimmer gemacht, als sie zuvor schon war.
23.
Die Allnatur bildet aus der körperlichen Gesamtmasse, wie aus Wachs, bald ein Pferd, bald schmilzt sie es wieder ein und verwendet seinen Stoff mit zur Hervorbringung eines Baum...