Vom Sie zum Du
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Vom Sie zum Du

Hintergründe und Konsequenzen

  1. 96 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Vom Sie zum Du

Hintergründe und Konsequenzen

Über dieses Buch

Die Anrede "Sie" verschwindet aus unserer Gesellschaft weitgehend unkommentiert. Menschen, die diesem Trend nicht folgen wollen, haben es zunehmend schwer. Ein Plädoyer für Toleranz und gegen Gruppenzwang.

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Gleichart und Bindung

Von Loriot gibt es folgende wunderbar beobachtete Szene:
Zwei Ehepaare, die sich einst im Urlaub auf einem Campingplatz kennengelernt hatten und offenbar hin und wieder zusammentreffen, finden sich in einem feinen Restaurant, ebenso fein gekleidet und aufs vornehmste gestimmt, zum gemeinsamen Essen. Einer der Herren ergreift das Glas und regt an, anläßlich des 5-jährigen Kennenlern- Jubiläums zum Du überzugehen.
Dies geschieht auf beeindruckend respektable Weise. Kurz darauf entbrennt zwischen den beiden Herren um den letzten Nachtisch ein hässlicher Streit, im Laufe dessen die Damen noch eine Zeitlang die Contenance wahren, bis auch sie sich mitziehen lassen. Der Abend endet in Trennung und Feindschaft, besiegelt durch wüste gegenseitige Beschimpfungen. Gleich zu Beginn der Auseinandersetzung fallen die vier Herrschaften zurück ins Sie, in dem vergeblichen Versuch, kurz vor der Katastrophe noch so etwas wie Distanz und Würde zu retten.
Was die Szene u.a. so ungemein komisch macht, ist der Kontrast, wie alle Beteiligen mit dem Du jede Beherrschung, alle Vornehmheit fahren lassen und sich als das erweisen, was sie eigentlich sind: Eher grobe, dümmliche, unsensible, unehrliche und äußerst egoistische Zeitgenossen, der eine etwas mehr als der andere, doch keiner ist in der Lage, die eskalierende Situation zu entschärfen.
Abgesehen davon, daß Witze nicht grundsätzlich analysiert werden müssen, steckt in diesem viel Lebenserfahrung und sehr treffende Beobachtung, was Loriot im besonderen auszeichnete.
Was also ist geschehen?
Die beiden Ehepaare, die eigentlich in keiner Weise miteinander harmonieren, die in einer unausgesprochenen Konkurrenz zueinander stehen, die durchaus nicht gut voneinander denken, halten in ihrem beidseitigen Bestreben, als vornehm zu gelten, durch das gegenseitige Sie so viel Distanz, daß man offenbar über die Jahre im sporadischen Umgang leidlich miteinander auskommt. Im Moment, in dem das Sie fällt, fallen auch die Personen, und zwar buchstäblich übereinander her. Von der Dynamik, die hier in Gang kommt, sind sie selbst erschüttert, doch es gibt kein Halten mehr. Dies alles passiert, weil Menschen, die in keiner Weise zusammenpassen, durch das Du Nähe provozieren. Man mag einwenden, daß sie in ihrer ordinären Art sich sehr wohl ähnlich sind, doch das genügt als Beschreibung von Gleichart keineswegs. Wir lernen hier: Wenn Nähe herbeigezwungen wird, kann es sehr schnell richtig knallen.
Es schließt sich die Frage an: Wenn man einmal absieht von dem Du in der Gruppe, dem Du aus Gewohnheit und Tradition, dem funktionalen, unpersönlichen Du, - welches Du hat eigentlich andere und bessere Qualitäten? Welches Du bezeichnet in der Realität tatsächlich bestehende Nähe? Was sind die Voraussetzungen? Um dieser Frage nachzugehen, gilt es noch einmal festzuhalten:
Es ist möglich und sinnvoll, dem Du und dem Sie keinerlei grundsätzliche Bewertung anzuhängen. Daß das heute so schwierig geworden ist, macht es trotzdem nicht unmöglich, diese beiden Anreden als zwei Möglichkeiten zu betrachten, nicht mehr und nicht weniger. Schwierig sind nicht die Anreden, schwierig ist nur die Verwendung.
Ungewöhnlich erscheint vielen Menschen heute die Vorstellung, daß das Du etwas Besonderes ist, das deshalb auch besonderer Voraussetzungen bedarf. Diese Einsicht ist fast vollständig abhanden gekommen. Die Tatsache aber bleibt bestehen, und auch die Wirkung.
Zu Zeiten, als das Sie die zunächst normale Anrede unter Erwachsenen war, konnte man noch bewußt den Prozess der Annäherung erleben, der dann in den Übergang zum Du mündete. Es ist dies nicht nur oder nicht in erster Linie ein Prozess der Annäherung, sondern zunächst ein Prozess, bei dem man feststellt, worin die Gleichart, der Gleichklang mit dem Gegenüber besteht. Dieser Gleichklang bedarf nicht automatisch des Du, es ist wie erwähnt möglich und erfreulich, intensive Freundschaften per „Sie“ zu führen.
Was das Du zusätzlich benötigt in diesem Prozess, ist eine innere Gleichart, die ganz individuell ausgeprägt ist und sich in keinerlei Funktionalität erschöpft.
Keine zwei Menschen sind gleich, doch ihre innere, individuelle Zielrichtung kann in hohem Maße die gleiche sein. Wohlbemerkt, die innere.
Noch einmal zurück zu dem Begriff der „klebrigen Du-Bindungen“. Das Du kann in der Tat als starkes Klebemittel eingesetzt werden. Wie beschrieben, soll es überall da seine Haftwirkung entfalten, wo die Beziehungen in enger Form von selbst nicht „halten“. Wo Beziehungen auf respektvollem Abstand allerdings ohne diesen Klebstoff bestens auskommen würden.
Bei den Herrschaften, die sich um den Nachtisch streiten, wird die Klebewirkung des Du humoristisch überhöht. Hier funktioniert das Du nicht nur als Klebstoff, sondern es ruft zugleich eine starke „chemische Reaktion“ hervor, die die vermeintliche Freundschaft der beiden Ehepaare geradezu explodieren läßt. Loriot läßt den Prozess der plötzlichen erzwungenen Nähe bis zum grandiosen Scheitern derselben in Minutenschnelle ablaufen, zur Erheiterung des Zuschauers, mit einem bitteren Beigeschmack angesichts der offensichtlichen Wahrheit in diesem Vorgang.
Es ist also offenbar möglich, per „Sie“ auch eine oberflächliche, eigentlich unpersönliche Beziehung so lange aufrechtzuerhalten, bis sie vermutlich an der Langeweile eingeht. Daß hier nichts wirklich zusammenpaßt, ist kein Drama, da Erwartungen zurückgehalten werden. Da nichts künstlich zusammengefügt wird, kann die Beziehung zwischen den Personen sich nach Bedarf organisch auseinanderentwickeln. Der Kontakt der beiden Ehepaare erschöpft sich, soviel läßt sich in den kurzen Minuten erfahren, in Belanglosigkeiten, die niemand weh tun. Das Klebemittel des völlig unpassenden Du ruft dagegen die Katastrophe hervor.
Zurück zu der inneren Gleichart.
Hier will ich noch einmal auf die anfangs geschilderte merkwürdige Hartnäckigkeit zurückkommen, mit der die junge Kommissarin auch nach Jahren Kollegen und Dorfbewohner siezt.
Die Autoren des Drehbuchs setzen hier einen ganz wahrhaftigen Sachverhalt in Szene. Zunächst hat das Sie den Hintergrund, daß die Polizistin ihre Versetzung, das Dorf, die Dorfbewohner als riesige Zumutung betrachtet und ihre Chef-Überlegenheit durchaus zelebriert. Mit diesen Menschen, diesen Zuständen macht sie sich nicht gemein. „Sie“ zu sagen ist das Mindeste, was sie tun kann, um ihren abwehrenden Standpunkt eindrucksvoll zu demonstrieren.
Dieser Standpunkt wird aber mehr und mehr aufgeweicht, da Sophie Haas Respekt, Zuneigung, zeitweise so etwas wie ein liebevolles Entgegenkommen erlebt. Um ein Haar ist sie sogar bereit, den Tierarzt des Dorfes zu heiraten. Trotzdem ist ihr das Sie ein unumstößliches Bedürfnis. Warum?
Hier kann man miterleben, daß per „Sie“ eine fast unbegrenzte Annäherung möglich ist, die auch zwischen der Kommissarin und den verschiedenen Protagonisten des Dorfes in vielfältigster Weise durchgespielt wird. Es entsteht ein Panoptikum von Kontakten und Zuwendungen aller Art.
Für das Du jedoch fehlt eine entscheidende Voraussetzung: Ein hohes Maß an Gleichart. Sophie ist und bleibt in ihrer Art ganz anders als die Dorfbewohner, so daß es für ein Du - außer mit ihrem Verlobten - keine Grundlage gibt. Das tut den Sympathien - soweit vorhanden - keinen Abbruch. Und mit der einen Person, die sie durchgehend als unangenehm und aufdringlich empfindet, kommt sie mehr oder weniger elegant und manchmal auf sehr komische Weise immer wieder über die Runden – per „Sie“. Es muß betont werden, daß ihre Kontakte im Dorf nicht nur dienstlicher Natur sind. Und die Kollegen von der Polizeiwache sind mit allen per „Du“, auch ihr Vorgänger auf dem Chefsessel. -
Was muß nun passieren, damit das Du unumgänglich wird?
Immer vorausgesetzt, man mißt der besonderen Art des Du überhaupt noch eine Bedeutung bei, und weiter vorausgesetzt, man erlebt per „Sie“ fruchtbare, inspirierende Freundschaften in Freiheit ohne Zwangsverpflichtungen, so wird der Spielraum des Du enger, und man spürt, daß es ganz besonderer Voraussetzungen bedarf.
Diese kann man so beschreiben, daß per „Sie“ die fehlende Nähe hinderlich wird, daß der innere Gleichklang so ausgeprägt ist, daß das distanziertere Sie tatsächlich der realen Nähe und damit auch den gemeinsamen Wirkungsmöglichkeiten im Weg steht. Dann wirkt die Nähe per „Du“ anregend wie ein Energieschub, verstärkt durch absolutes Vertrauen in den anderen.
So wird das Du eine logische Folge aus stetig gewachsenem Gleichklang und Vertrauen. Und sicher gehen zwei Menschen, die auf dieser Stufe miteinander umgehen, eine gemeinsame Aufgabe an.
Warum aber ist das so?
Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage ist in dem Umstand zu finden, daß das Sie eine Pluralform, das Du eine Singularform ist. Auch das in früheren Zeiten gebräuchliche „Ihr“ ist ein Plural. Die Sprache liefert die besten Informationen, wenn man sie genau abfragt.
Warum also empfinden wir die Pluralform der Anrede als distanzierter als die Singularform?
Vorauszuschicken ist, daß wir auch Menschen, die uns fremd sind, unter Umständen sofort in ihrer Ganzheit wahrnehmen können, dies hängt von dem Grad unserer Aufmerksamkeit ab. Die Ganzheit unseres Gegenübers bleibt uns also nicht zwangsläufig verborgen, doch unsere Reaktion darauf bleibt zunächst mehr passiv, sofern wir mit dieser Person in der Mehrzahlform verbleiben.
Ich will dies in einem Bild erklären.
Wenn ich mein Gegenüber in einer Mehrzahlform anspreche, so trete ich, bildlich gesprochen, mit verschiedenen Persönlichkeitsanteilen dieses Menschen in Kontakt. Ich sehe sozusagen verschiedene Teile, Anteile, Artanteile dieser Person vor mir. Ich nehme sie vielfältig wahr. Dies ermöglicht mir, in meiner Reaktion Anteile auszuklammern, zu schonen, unberührt zu lassen. Ich lasse mich nur auf die Anteile ein, die uns beide wirklich betreffen.
Die Person z.B., die mich in einem Laden bedient, nehme ich zunächst als Dienstleistende wahr und behandele sie entsprechend, bedanke mich für ihre Hilfe und verlasse sie, ohne mir weiter um sie Gedanken zu machen. Kaufe ich bei dieser Person regelmäßig ein, so nehme ich sie ein Stück „privater“ wahr. Ich bemerke vielleicht, daß sie mir sympathisch ist, wie sie gekleidet ist, wie sie mit den Kunden umgeht. Es kann auch sein, daß wir im Laufe der Zeit dazu übergehen, ein paar Worte zu wechseln, uns ein Stück weit vielleicht sogar privat auszutauschen.
Da wir aber per „Sie“ sind, haben wir jeweils die freie Wahl, welchen Anteil wir wahrnehmen wollen, welcher uns interessiert, welchem wir uns widmen und mit Interesse zuwenden, welchen wir als zu uns passend empfinden und auf welchen wir infolgedessen reagieren wollen. Umgekehrt genauso. Das verstehe ich unter den Persönlichkeitsanteilen. Niemals würde ich diese Person einfach so fragen, ob sie verheiratet ist, wo sie wohnt, ob sie glücklich ist. Denn die Anteile ihrer Persönlichkeit, die mit diesen Umständen zu tun haben, gehen mich nichts an, betreffen mich nicht, unterliegen einer Schamgrenze.
Dieses Beispiel kann man weiterführen. Bleibe ich mit Personen, mit denen mich Freundschaft verbindet, per „Sie“, so bleibt auch hier die...

Inhaltsverzeichnis

  1. Danksagung
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Einleitung
  4. Sind wir tolerant?
  5. Danke, daß du hier nicht hinaufsteigst!
  6. Wo liegt das Problem?
  7. Das Du und die Gruppe
  8. Träume deinen Traum! Gehe deinen Weg! Lebe dein Leben!
  9. Nähe und Vertrauen
  10. Die liebe Familie
  11. Der freie Raum über dem Sie
  12. Gleichart und Bindung
  13. Impressum