Bildung und Erziehung – eine Einheit (?)
Am 25. April 2013 fand im Plenum des Bundestages eine Diskussion über die Möglichkeiten zur Verbesserung der Qualität der Bildung an den allgemeinbildenden Schulen der Bundesrepublik statt. Kaum berührt wurde dabei die Aufgabe der Erziehung, die generell im „Bildungswesen“ in der Einheit von Bildung und Erziehung gesehen wird bzw. gesehen werden sollte. Immerhin wurde in einem Beitrag von politischer bzw. auch demokratischer Bildung als notwendiger Aufgabenstellung gesprochen. Ich komme darauf zurück.
Als Bildung gilt allgemein die Summe und Art von Wissen, Kenntnissen, Erkenntnissen und Methoden. Unter Erziehung sind die Ausprägung von Verhaltensweisen und politische Positionierung zu möglichen Optionen zu verstehen.
Richtschnur für Letzteres sind die Werte, die für die Gestaltung des Lebens des Einzelnen und einer Gemeinschaft bestimmend sein sollen. Dazu gehören vor allem: Demokratieverständnis, Gemeinwohl, Freiheit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Toleranz und Friedfertigkeit.
Wenn also aus der Sicht der Definition der beiden Begrife von politischer Bildung (s. o.) die Rede war, könnte dem die doppelte Bedeutung zugedacht werden, nämlich einerseits die Kenntnis von Gesetzen, politischen Anschauungen, Verfahren usw. und andererseits die Aufgeschlossenheit für mögliche Aktivitäten politischer oder demokratischer Natur.
Für mich war diese Diskussion Veranlassung, einen früheren Beitrag zu der Problematik wieder zu überdenken, der m. E. noch heute aktuell ist.
Es geht um die Unterrichtskultur in ihrer Einheit von Bildung und Erziehung.
Welche hauptsächlichen Zeiterscheinungen sind es, die die gesellschaftliche Entwicklung und den Bildungs- und Erziehungsprozess beeinflussen?
Es lassen sich benennen:
- der Neoliberalismus
- die Globalisierung
- der immense Zuwachs an Wissen und Erkenntnissen und
- die moderne Kommunikationstechnik
Neoliberalismus steht für den Zeitgeist, der aus Wirtschaft resultiert, die nach extremen Profiten strebt (shave holder value), die Privatisierung betreibt und alle Bereiche der Gesellschaft den betriebswirtschaftlichen Spielregeln unterwirft. Die kapitalistische Wirtschaft lässt weltweite Ungleichheiten (reich/arm, Schulden/Überakkumulation) und die Mehrwertproduktion mit ihrer Ausbeutung der arbeitenden Menschen entstehen. Bildung wird nur noch unter dem Aspekt ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit gesehen. Effektivität dominiert.
Neoliberales Gedankengut wird zunehmend durch von der Wirtschaft abhängigen Organisationen wie der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ oder Stiftungen (Bertelsmann) in die Bildungseinrichtungen hineingetragen. Unter diesen Umständen sind Erziehungsziele problematisch. Der Widerspruch zwischen der neoliberalen Gesellschaftsrealität und einem humanistischen, toleranten und sozialen Menschenbild mit globalem Anspruch ist nicht zu übersehen.
- Globalisierung bedeutet intensive Vernetzung aller gesellschaftlichen Prozesse bei Dominanz finanzpolitischer Transaktionen. Globalisierung verlangt aber andererseits auch die Achtung der Menschenrechte überall und fordert Gleichberechtigung der Menschen aller Farben. Vermeidung der Gefährdung der Lebensumstände von Problemzonen und wirksame Solidarität sind gefragt. Eintreten für angemessene Beteiligung aller an der Lösung globaler Probleme (z. B. Klimawandel) stehen auf der Tagesordnung.
- Wissens- und Erkenntniszuwachs hat schon seit längerem Ausmaße angenommen, die jede Übernahme in die Bildungsinhalte („Stof“)ad absurdum führen; auch wenn manche partielle Themen überfällig werden. Entrümpelung allein ist also zu wenig. Erzieherische Aspekte sind generell unterbewertet.
- Kommunikationstechnik (Internet usw.) eröfnet nie dagewesene Möglichkeiten, räumlich und zeitlich unmittelbare Informationsund Datenübertragung weltweit wahrzunehmen. Im Bildungswesen gilt es, die gebotenen Chancen sinnvoll zu nutzen.
Von diesen grundlegenden Zeitströmungen und ihren Bedingungen, Sachverhalten und Möglichkeiten ausgehend, gilt es zu sondieren, welche konkreten Anforderungen für die Bewältigung der Bildungs- und Erziehungsaufgaben tragfähig sind.
Vorauszuschicken ist zu den folgenden Ausführungen, dass vieles bekannt, manches praktiziert und ein Teil auch noch umstritten ist. Gedacht ist aber vor allem daran, die Eltern und alle der Zivilgesellschaft Zugehörigen über die Prozesse zu informieren, weil heute mehr denn je deren Mitwirkung an der Gestaltung des Bildungssystems gefragt ist. – Nicht alle Seiten der Bildungsproblematik sollen betrachtet werden. Im Mittelpunkt der Erörterungen soll die Unterrichtsmethodik stehen. Fragen des Schulsystems (1-, 2-, 3-gliedrig), Bewertungsprozeduren, Begabtenförderung und Schulorganisation bleiben hier zunächst außen vor.
Zum eigentlichen Thema:
Lernen zu lernen ist eine Formel, die der Problematik nahekommt, um die es geht, die aber noch zu vage ist, der Komplexität der Sache noch zu wenig gerecht wird und ungenügend praktikable Handlungsweisen anbietet. Eine kurze Charakterisierung der heute noch weit verbreiteten Unterrichtsmethoden soll den Kontrast zu neueren Lösungen deutlich machen. Allbekannt ist der „Frontalunterricht“, der auf weiter Strecke darin besteht, dass „ein fertiges Produkt“ vom Lehrer an den Lernenden weitervermittelt wird. Das ist Aneignung von Erkenntnissen und Ergebnissen der Wissenschaft, die aufbereitet, systematisiert, logisch aufgebaut mehr oder weniger verständlich dargeboten wird. Gedächtnisbeanspruchung und -leistung haben Priorität. Drastisch ist dafür die von Waldrich2 zitierte bekannte Formulierung: „Wenn alles pennt und einer spricht, dieses nennt man Unterricht.“
Neuartige Unterrichtsmethoden, die schon praktiziert oder angesteuert werden, stützen sich auf Ideen, die schon 1792 von Wilhelm Humboldt propagiert wurden.
Bildung heißt da: „… sich selbst zu bilden“ in der Auseinandersetzung mit der Welt.
William Chomsky (der Vater von Noam Chomsky) als jüngerer Zeitgenosse († 1977) beschrieb das Hauptziel seines Lebens so: „… die Erziehung von Individuen, die ausgewogen, frei und unabhängig denken, sich um die Verbesserung der Welt sorgen und sich eifrig daran beteiligen, das Leben für alle sinnvoller und lebenswerter zu gestalten.“
Im Detail stellt sich das konkret so dar: Ein ausgewähltes Problem, von denen es in jedem Fach viele mehr oder weniger gleichartige gibt, wird stellvertretend für diese eine Aufgabe gestellt. Sagen wir: „Bahnprivatisierung“ (anstelle Krankenhaus, Altersheim, Wasserversorgung usw.)? Dann gibt es dazu ein „Arbeitsprogramm“ (Lösungsweg) zu erarbeiten.
Dazu gehören:
- Anlass, Ursprung, Motive des Problems
- Problemanalyse, volkswirtschaftlich, ökologisch, sozial, global … also insgesamt komplex
- Finden von Lösungsvarianten (Optionen); technisch, technologisch, energetisch, ökonomisch …
- Gegenüberstellung der Varianten mit Vor- und Nachteilen und Auswahl der günstigsten Lösung nach sachbezogenen Kriterien (die auch ausfindig zu machen sind) – Diskussion
- Beschreibung/Darstellung der ausgewählten Lösung mit Kennzifern, Nachweisen usw.
- Realisierung nach Möglichkeiten und evtl. spätere Bewertung der Ergebnisse und Erarbeitung von Schlussfolgerungen für andere Projekte
- Gesellschaftliche Aspekte wie Gemeinwohl, Nachhaltigkeit usw.
Alle diese Schritte können dazu dienen, das Denkvermögen zu schulen, Denkoperationen sich anzueignen, die für kreative Tätigkeit unabdingbar sind.
Begrife, die hierher gehören, sind z. B. Fähigkeiten zur Analyse von Sachverhalten zum Aufdecken kausaler Zusammenhänge, zur komplexen Betrachtung und Beurteilung eines Problems, dem Erkennen logischer Folgewirkungen, Vergleichskriterien zu finden und einzusetzen, zur Verallgemeinerung von Fakten, Definition herauskristallisieren, das Erkennen des Wesentlichen eines Problems, Sachverhalte nicht als Behauptungen zu akzeptieren, sondern immer zu begründen (Ursachen, Abhängigkeiten), Bewertung der Lösungen entsprechend der gesellschaftlichen Bewertung der Lösungen nach den gesellschaftlichen Kriterien.
Mit anderen Worten charakterisiert diese Gedankengänge Isabel Allende in ihrem Buch „Porträt der Sepia“ (S. 231–231) wie folgt:
„Da meine Großmutter nun darauf verzichtet hatte, mich in die Schule zu schicken, und der Unterricht bei Señora Pineda zur Gewohnheit wurde, war ich sehr glücklich.
Jedes Mal wenn ich eine Frage stellte, zeigte mir die großartige Lehrerin den Weg, die Antwort selbst zu finden. Sie lehrte mich, die Gedanken zu ordnen, zu forschen, zu lesen und zu lauschen, Alternativen zu suchen, alte Probleme mit neuen Lösungen zu klären, logisch zu diskutieren. Vor allem lehrte sie mich, nicht blind zu glauben, sondern zu zweifeln und zu fragen, auch das in Frage zu stellen, was unumstößliche Wahrheit zu sein schien, wie etwa die Überlegenheit des Mannes über die Frau oder einer Rasse oder einer Gesellschaftsklasse gegenübereiner anderen, neuartige Gedanken in einem patriarchalischen Land, wo die Indios nie auch nur erwähnt wurden und wo es genügte, eine Sprosse auf der Leiter der sozialen Klassen abzusteigen, und man war aus dem allgemeinen Gedächtnis getilgt.“
Dieses Zitat belegt, dass fortschrittliche Versionen von Methoden auf dem Gebiet Bildung und Erziehung keineswegs nur von „Professionellen“ in die Diskussion eingebracht werden.
Außerdem erbringt es ein Musterbeispiel dafür, wie Bildung und Erziehung komplett zur Geltung gebracht werden.
Anknüpfend an die Gedanken von Isabel Allende soll eine diesbezüglich relevante Ansicht von anderer Seite noch hinzugefügt werden. Howard Zinn, renommierter US-Historiker, äußert in seinem Buch „Eine Geschichte des amerikanischen Volkes“ wie folgt: „Das Heldentum von Kolumbus und seinen Nachfolgern als Seefahrer und Entdecker zu betonen und den Genozid herunterzuspielen, ist keine handwerkliche Notwendigkeit, sondern eine ideologische Entscheidung. Sie trägt ungewollt zur Rechtfertigung des Geschehens bei.“ Und in diesem Sinne an anderer Stelle: „Und in einer solchen Welt der Konflikte, einer Welt von Opfern und Henkern, ist es, wie Albert Camus gesagt hat, die Aufgabe des denkenden Menschen, nicht auf der Seite der Henker zu stehen.“
Fazit:Partei ergreifen ist gefordert! Howard Zinn zeigt es an Beispielen aus der Geschichte, für wen oder was er sich entscheiden würde: „… die Geschichte der Entdeckung Amerikas aus der Perspektive der Awarak (ein Indianerstamm) zu e...