Die Geheimwissenschaft im Umriss
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Die Geheimwissenschaft im Umriss

  1. 418 Seiten
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Die Geheimwissenschaft im Umriss

Über dieses Buch

Rudolf Steiner ist der Begründer der Anthroposophie und Vordenker der Waldorfpädagogik.Die Anthroposophie hat in den letzten Jahren immer mehr Einfluss gewonnen. Rudolf Steiner findet Anhänger in der bildenden Kunst, der Literatur, der Ernährungswissenschaft und vor allem in der Reformpädagogik. Die Pädagogik der Waldorfschulen basiert auf den Gedanken Rudolf Steiners. Rudolf Steiner strebt eine ganzheitliche Menschenbildung an, bei der Leib und Seele durch eine entwicklungspsychologisch fundierte »Erziehungskunst« harmonisch ausgebildet werden.»Die Geheimwissenschaft im Umriss« veröffentlichte Rudolf Steiner erstmals 1910.

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VORBEMERKUNGEN ZUR 1. AUFLAGE [1909]

Wer ein Buch wie das vorliegende der Öffentlichkeit übergibt, der soll mit Gelassenheit jede Art von Beurteilung seiner Ausführungen sich vorstellen können, welche in der Gegenwart möglich ist. Da könnte zum Beispiel jemand die hier gegebene Darstellung dieses oder jenes Dinges zu lesen beginnen, welcher sich Gedanken über diese Dinge gemäß den Forschungsergebnissen der Wissenschaft gemacht hat. Und er könnte zu dem folgenden Urteil kommen: „Man ist erstaunt, wie dergleichen Behauptungen in unserer Zeit nur überhaupt möglich sind. Mit den einfachsten naturwissenschaftlichen Begriffen wird in einer Weise umgesprungen, die auf eine geradezu unbegreifliche Unbekanntschaft mit selbst elementaren Erkenntnissen schließen lässt. Der Verfasser gebraucht Begriffe, wie zum Beispiel ‹Wärme›, in einer Art, wie es nur jemand vermag, an dem die ganze moderne Denkweise der Physik spurlos vorübergegangen ist. Jeder, der auch nur die Anfangsgründe dieser Wissenschaft kennt, könnte ihm zeigen, dass, was er da redet, nicht einmal die Bezeichnung Dilettantismus verdient, sondern nur mit dem Ausdruck: absolute Ignoranz belegt werden kann...“ Es könnten nun noch viele solche Sätze einer derartigen, durchaus möglichen Beurteilung hingeschrieben werden. Man könnte sich aber nach den obigen Aussprüchen auch etwa folgenden Schluss denken: „Wer ein paar Seiten dieses Buches gelesen hat, wird es, je nach seinem Temperament, lächelnd oder entrüstet weglegen und sich sagen: ‹Es ist doch sonderbar, was für Auswüchse eine verkehrte Gedankenrichtung in gegenwärtiger Zeit treiben kann. Man legt diese Ausführungen am besten zu mancherlei anderem Kuriosen, was einem jetzt begegnet›.“ - Was sagt aber nun der Verfasser dieses Buches, wenn er etwa wirklich eine solche Beurteilung erfahren würde? Muss er nicht einfach, von seinem Standpunkte aus, den Beurteiler für einen urteilsunfähigen Leser halten oder für einen solchen, der nicht den guten Willen hat, um zu einem verständnisvollen Urteile zu kommen? - Darauf soll geantwortet werden: Nein, dieser Verfasser tut das durchaus nicht immer. Er vermag sich vorzustellen, dass sein Beurteiler eine sehr kluge Persönlichkeit, auch ein tüchtiger Wissenschafter und jemand sein kann, der sich ein Urteil auf ganz gewissenhafte Art bildet. Denn dieser Verfasser ist in der Lage, sich hineinzudenken in die Seele einer solchen Persönlichkeit und in die Gründe, welche diese zu einem solchen Urteil führen können. Um nun kenntlich zu machen, was der Verfasser wirklich sagt, ist etwas notwendig, was ihm selbst im allgemeinen oft unpassend scheint, wozu aber gerade bei diesem Buche eine dringende Veranlassung ist: nämlich über einiges Persönliche zu reden. Allerdings soll in dieser Richtung nichts vorgebracht werden, was nicht mit dem Entschlusse zusammenhängt, dieses Buch zu schreiben. Was in einem solchen Buche gesagt wird, hätte gewiss kein Daseinsrecht, wenn es nur einen persönlichen Charakter trüge. Es muss Darstellungen enthalten, zu denen jeder Mensch kommen kann, und es muss so gesagt werden, dass keinerlei persönliche Färbung zu bemerken ist, soweit dies überhaupt möglich ist. In dieser Beziehung soll also das Persönliche nicht gemeint sein. Es soll sich nur darauf beziehen, verständlich zu machen, wie der Verfasser die oben gekennzeichnete Beurteilung seiner Ausführungen begreiflich finden kann und dennoch dieses Buch schreiben konnte. Es gäbe ja allerdings etwas, was die Vorbringung eines solchen Persönlichen überflüssig machen könnte: wenn man, in ausführlicher Art, alle Einzelheiten geltend machte, welche zeigen, wie die Darstellung dieses Buches in Wirklichkeit doch mit allen Fortschritten gegenwärtiger Wissenschaft übereinstimmt. Dazu wären nun aber allerdings viele Bände als Einleitung zu dem Buche notwendig. Da diese augenblicklich nicht geliefert werden können, so scheint es dem Verfasser notwendig, zu sagen, durch welche persönlichen Verhältnisse er sich berechtigt glaubt, eine solche Übereinstimmung in befriedigender Art für möglich zu halten. - Er hätte ganz gewiss alles dasjenige niemals zu veröffentlichen unternommen, was in diesem Buche zum Beispiel mit Bezug auf Wärmevorgänge gesagt wird, wenn er sich nicht das Folgende gestehen dürfte: Er war vor nunmehr dreißig Jahren in der Lage, ein Studium der Physik durchzumachen, welches sich in die verschiedenen Gebiete dieser Wissenschaft verzweigte. Auf dem Felde der Wärmeerscheinungen standen damals die Erklärungen im Mittelpunkte des Studiums, welche der sogenannten „mechanischen Wärmetheorie“ angehören. Und diese „mechanische Wärmetheorie“ interessierte ihn sogar ganz besonders. Die geschichtliche Entwicklung der entsprechenden Erklärungen, die sich an Namen wie Jul. Robert Mayer, Helmholtz, Joule, Clausius und so weiter damals knüpfte, gehörte zu seinen fortwährenden Studien. Dadurch hat er sich in der Zeit seiner Studien die hinreichende Grundlage und Möglichkeit geschaffen, bis heute alle die tatsächlichen Fortschritte auf dem Gebiete der physikalischen Wärmelehre verfolgen zu können und keine Hindernisse zu finden, wenn er versucht, einzudringen in alles das, was die Wissenschaft auf diesem Felde leistet. Müsste sich der Verfasser sagen: er kann das nicht, so wäre dies für ihn ein Grund, die in dem Buche vorgebrachten Dinge ungesagt und ungeschrieben zu lassen. Er hat es sich wirklich zum Grundsatz gemacht, nur über solches auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft zu reden oder zu schreiben, bei dem er in einer ihm genügend erscheinenden Art auch zu sagen wüsste, was die gegenwärtige Wissenschaft darüber weiß. Damit will er durchaus nicht etwas aussprechen, was eine allgemeine Anforderung an alle Menschen sein soll. Es kann jedermann sich mit Recht gedrängt fühlen, dasjenige mitzuteilen und zu veröffentlichen, wozu ihn seine Urteilskraft, sein gesunder Wahrheitssinn und sein Gefühl treiben, auch wenn er nicht weiß, was über die betreffenden Dinge vom Gesichtspunkt zeitgenössischer Wissenschaft aus zu sagen ist. Nur der Verfasser dieses Buches möchte sich für sich an das oben Ausgesprochene halten. Er möchte zum Beispiel nicht die paar Sätze über das menschliche Drüsensystem oder das menschliche Nervensystem machen, welche in diesem Buche sich finden, wenn er nicht in der Lage wäre, über diese Dinge auch den Versuch zu machen, in den Formen zu sprechen, in denen ein gegenwärtiger Naturgelehrter vom Standpunkte der Wissenschaft aus über das Drüsen- oder Nervensystem spricht. - Trotzdem also das Urteil möglich ist, derjenige, welcher so, wie es hier geschieht, über „Wärme“ spricht, wisse nichts von den Anfangsgründen der gegenwärtigen Physik, ist doch richtig, dass sich der Verfasser dieses Buches vollberechtigt glaubt zu dem, was er getan hat, weil er die gegenwärtige Forschung wirklich zu kennen bestrebt ist, und dass er es unterlassen würde, so zu sprechen, wenn sie ihm fremd wäre. Er weiß, wie das Motiv, aus dem heraus ein solcher Grundsatz ausgesprochen wird, recht leicht mit Unbescheidenheit verwechselt werden kann. Es ist aber doch nötig, gegenüber diesem Buche solches auszusprechen, damit des Verfassers wahre Motive nicht mit noch ganz anderen verwechselt werden. Und diese Verwechslung könnte eben noch weit schlimmer sein als diejenige mit der Unbescheidenheit.
Nun wäre aber auch eine Beurteilung von einem philosophischen Standpunkte aus möglich. Sie könnte sich folgendermaßen gestalten. Wer als Philosoph dieses Buch liest, der frägt sich: „Hat der Verfasser die ganze erkenntnistheoretische Arbeit der Gegenwart verschlafen? Hat er nie etwas davon erfahren, dass ein Kant gelebt hat und dass, nach diesem, es einfach philosophisch unstatthaft ist, derlei Dinge vorzubringen?“ - Wieder könnte in dieser Richtung fortgeschritten werden. Aber auch so könnte die Beurteilung schließen: „Für den Philosophen ist derlei unkritisches, naives, laienhaftes Zeug unerträglich, und ein weiteres Eingehen darauf wäre Zeitverlust.“ - Aus demselben Motiv, das oben gekennzeichnet worden ist, möchte trotz aller Missverständnisse, die sich daran schließen können, der Verfasser auch hier wieder Persönliches vorbringen. Sein Kantstudium begann in seinem sechzehnten Lebensjahre; und heute glaubt er wahrhaftig, ganz objektiv alles das, was in dem vorliegenden Buch vorgebracht wird, vom Kantschen Standpunkte aus beurteilen zu dürfen. Er würde auch von dieser Seite her einen Grund gehabt haben, das Buch ungeschrieben zu lassen, wüsste er nicht, was einen Philosophen dazu bewegen kann, es naiv zu finden, wenn der kritische Maßstab der Gegenwart angelegt wird. Man kann aber wirklich wissen, wie im Sinne Kants hier die Grenzen einer möglichen Erkenntnis überschritten werden; man kann wissen, wie Herbart „naiven Realismus“ finden würde, der es nicht zur „Bearbeitung der Begriffe“ gebracht hat usw. usw.; man kann sogar wissen, wie der moderne Pragmatismus James, Schillers und so weiter das Maß dessen überschritten finden würde, was „wahre Vorstellungen“ sind, welche „wir uns aneignen, die wir geltend machen, in Kraft setzen und verifizieren können“. Man kann dies alles wissen und trotzdem, ja eben des halb sich berechtigt finden, diese hier vorliegenden Ausführungen zu schreiben. Der Verfasser dieses Buches hat sich mit philosophischen Gedankenrichtungen auseinandergesetzt in seinen Schriften „Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, „Wahrheit und Wissenschaft“, „Philosophie der Freiheit“, „Goethes Weltanschauung“, „Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert“, „Die Rätsel der Philosophie.“
Viele Arten von möglichen Beurteilungen könnten noch angeführt werden. Es könnte auch jemanden geben, welcher eine der früheren Schriften des Verfassers gelesen hat, zum Beispiel „Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert“ oder etwa dessen kleines Schriftchen: „Haeckel und seine Gegner“. Ein solcher konnte sagen: „Es ist geradezu unerfindlich, wie ein und derselbe Mensch diese Schriften und auch, neben der bereits von ihm erschienenen ‹Theosophie›, dieses hier vorliegende Buch schreiben kann. Wie kann man einmal so für Haeckel eintreten und dann wieder allem ins Gesicht schlagen, was als gesunder ‹Monismus› aus Haeckels Forschungen folgt? Man könnte begreifen, dass der Verfasser dieser ‹Geheimwissenschaft› mit ‹Feuer und Schwert› gegen Haeckel zu Felde ziehe; dass er ihn verteidigt hat, ja dass er ihm sogar ‹Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert› gewidmet hat, das ist wohl das Ungeheuerlichste, was sich denken lässt. Haeckel hätte sich für diese Widmung wohl ‹mit nicht mit zu verstehender Ablehnung› bedankt, wenn er gewusst hätte, dass der Widmer einmal solches Zeug schreiben werde, wie es diese ‹Geheimwissenschaft› mit ihrem mehr als plumpen Dualismus enthält.“ - Der Verfasser dieses Buches ist nun der Ansicht, dass man ganz gut Haeckel verstehen kann, und doch nicht zu glauben braucht, man verstünde ihn nur dann, wenn man alles für Unsinn hält, was nicht aus Haeckel eigenen Vorstellungen und Voraussetzungen fließt. Er ist aber ferner der Ansicht, dass man zum Verständnis Haeckel nicht kommt, wenn man ihn mit „Feuer und Schwert“ bekämpft, sondern wenn man auf dasjenige eingeht, was er der Wissenschaft geleistet hat. Und am allerwenigsten glaubt der Verfasser, dass die Gegner Haeckels im Rechte sind, gegen welche er zum Beispiel in seiner Schrift „Haeckel und seine Gegner“ den großen Naturdenker verteidigt hat. Wahrhaftig, wenn der Verfasser dieser Schrift weit über Haeckels Voraussetzungen hinausgeht und die geistige Ansicht über die Welt neben die bloß natürliche Haeckels setzt, so braucht er deshalb mit des letzteren Gegnern nicht einer Meinung zu sein. Wer sich bemüht, die Sache richtig anzusehen, wird den Einklang von des Verfassers gegenwärtigen Schriften mit seinen früheren schon bemerken können.
Auch ein solcher Beurteiler ist dem Verfasser völlig verständlich, der ganz im allgemeinen ohne weiteres die Ausführungen dieses Buches als Ergüsse einer wild gewordenen Phantastik oder eines träumerischen Gedankenspiels ansieht.
Doch ist alles, was in dieser Beziehung zu sagen ist, in dem Buche selbst enthalten. Es ist da gezeigt, wie in vollem Maße das vernunftgemäße Denken zum Probierstein des Dargestellten werden kann und soll. Wer auf dieses Dargestellte die vernunftgemäße Prüfung ebenso anwendet, wie sie sachgemäß zum Beispiel auf die Tatsachen der Naturwissenschaft angewendet wird, der erst wird entscheiden können, was die Vernunft bei solcher Prüfung sagt.
Nachdem so viel über solche Persönlichkeiten gesagt ist, welche dieses Buch zunächst ablehnen können, darf auch ein Wort an diejenigen fallen, welche sich zu demselben zustimmend zu verhalten Anlass haben. Für sie ist jedoch das Wesentlichste in dem ersten Kapitel „Charakter der Geheimwissenschaft“ enthalten. Ein weniges aber soll noch hier gesagt werden. Obwohl das Buch sich mit Forschungen befasst, welche dem an die Sinnenwelt gebundenen Verstand nicht erforschbar sind, so ist doch nichts vorgebracht, was nicht verständlich sein kann unbefangener Vernunft und gesundem Wahrheitssinn einer jeden Persönlichkeit, welche diese Gaben des Menschen anwenden will. Der Verfasser sagt es unumwunden: er möchte vor allem Leser, welche nicht gewillt sind, auf blinden Glauben hin die vorgebrachten Dinge anzunehmen, sondern welche sich bemühen, das Mitgeteilte an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens zu prüfen. Er möchte vor allem vorsichtige Leser, welche nur das logisch zu Rechtfertigende gelten lassen. Der Verfasser weiß, sein Buch wäre nichts wert, wenn es nur auf blinden Glauben angewiesen wäre; es ist nur in dem Maße tauglich, als es sich vor der unbefangenen Vernunft rechtfertigen kann. Der blinde Glaube kann so leicht das Törichte und Abergläubische mit dem Wahren verwechseln. Mancher, der sich mit dem bloßen Glauben an „Übersinnliches“ gerne begnügt, wird finden, dass in diesem Buche dem Denken zu viel zugemutet wird. Doch es handelt sich wahrlich bei den hier gegebenen Mitteilungen nicht bloß darum, dass etwas mitgeteilt werde, sondern darum, dass die Darstellung so ist, wie es einer gewissenhaften Anschauung auf dem entsprechenden Gebiete des Lebens angemessen ist. Es ist ja das Gebiet, wo sich diebhöchsten Dinge mit gewissenloser Charlatanerie, wo sich auch Erkenntnis und Aberglaube im wirklichen Leben so leicht berühren und wo sie, vor allem, auch so leicht verwechselt werden können.
Wer mit übersinnlicher Forschung bekannt ist, wird beim Lesen des Buches wohl merken, dass versucht worden ist, die Grenzen scharf einzuhalten zwischen dem, was aus dem Gebiete der übersinnlichen Erkenntnisse gegenwärtig mitgeteilt werden kann und soll, und dem, was zu einer späteren Zeit oder wenigstens in anderer Form dargestellt werden soll.
Geschrieben im Dezember 1909
Rudolf Steiner

CHARAKTER DER GEHEIMWISSENSCHAFT

Ein altes Wort: „Geheimwissenschaft“ wird für den Inhalt dieses Buches angewendet. Das Wort kann Veranlassung werden, dass sogleich bei den verschiedenen Menschen der Gegenwart die entgegengesetztesten Empfindungen wachgerufen werden. Für viele hat es etwas Abstoßendes; es ruft Spott, mitleidiges Lächeln, vielleicht Verachtung hervor. Sie stellen sich vor, dass eine Vorstellungsart, die sich so bezeichnet, nur auf einer müßigen Träumerei, auf Phantasterei beruhen könne, dass sich hinter solcher „vermeintlichen“ Wissenschaft nur der Drang verbergen könne, allerlei Aberglauben zu erneuern, den mit Recht meidet, wer „wahre Wissenschaftlichkeit“ und „echtes Erkenntnisstreben“ kennengelernt hat. Auf andere wirkt das Wort so, als ob ihnen das damit Gemeinte etwas bringen müsse, was auf keinem anderen Wege zu erlangen ist und zu dem sie, je nach ihrer Veranlagung, tief innerliche Erkenntnissehnsucht oder seelisch verfeinerte Neugierde hinzieht. Zwischen diesen schroff einander gegenüberstehenden Meinungen gibt es alle möglichen Zwischenstufen der bedingten Ablehnung oder Annahme dessen, was sich der eine oder der andere vorstellt, wenn er das Wort „Geheimwissenschaft“ vernimmt. - Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass für manchen das Wort „Geheimwissenschaft“ deshalb einen zauberhaften Klang hat, weil es seine verhängnisvolle Sucht zu befriedigen scheint nach einem auf naturgemäßem Wege nicht zu erlangenden Wissen von einem „Unbekannten“, Geheimnisvollen, ja Unklaren. Denn viele Menschen wollen die tiefsten Sehnsuchten ihrer Seele nicht durch das befriedigen, was klar erkannt werden kann. Ihre Überzeugung geht dahin, dass es außer demjenigen, was man in der Welt erkennen könne, noch etwas geben müsse, das sich der Erkenntnis entzieht. Mit einem sonderbaren Widersinn, den sie nicht bemerken, lehnen sie für die tiefsten Erkenntnissehnsüchten alles ab, was „bekannt ist“, und wollen dafür nur etwas gelten lassen, wovon man nicht sagen könne, dass es durch naturgemäßes Forschen bekannt werde. Wer von „Geheimwissenschaft“ redet, wird gut daran tun, sich vor Augen zu halten, dass ihm Missverständnisse entgegenstehen, die von solchen Verteidigern einer derartigen Wissenschaft verursacht werden; von Verteidigern, die eigentlich nicht ein Wissen, sondern das Gegenteil davon anstreben.
Diese Ausführungen richten sich an Leser, welche sich ihre Unbefangenheit nicht dadurch nehmen lassen, dass ein Wort durch verschiedene Umstände Vorurteile hervorruft. Von einem Wissen, das in irgendeiner Beziehung als ein „geheimes“, nur durch besondere Schicksalsgunst für manchen zugängliches, gelten soll, wird hier nicht die Rede sein. Man wird dem hier gemeinten Wortgebrauche gerecht werden, wenn man an dasjenige denkt, was Goethe im Sinne hat, wenn er von den „offenbaren Geheimnissen“ in den Welterscheinungen spricht. Was in diesen Erscheinungen „geheim“, unoffenbar bleibt, wenn man sie nur durch die Sinne und den an die Sinne sich bindenden Verstand erfasst, das wird als der Inhalt einer übersinnlichen Erkenntnisart angesehen. Wer als „Wissenschaft“ nur gelten lässt, was durch die Sinne und den ihnen dienenden Verstand offenbar wird, für den kann selbstverständlich das hier als „Geheimwissenschaft“ Gemeinte keine Wissenschaft sein. Ein solcher müsste aber, wenn er sich selbst verstehen wollte, zugeben, dass er nicht aus einer begründeten Einsicht heraus, sondern durch einen seinem rein persönlichen Empfinden entstammenden Machtspruch eine „Geheimwissenschaft“ ablehnt. Um das zu sehen, hat man nur nötig, Überlegungen darüber anzustellen, wie Wissenschaft entsteht und welche Bedeutung sie im menschlichen Leben hat. Das Entstehen der Wissenschaft dem Wesen nach erkennt man nicht an dem Gegenstande, den die Wissenschaft ergreift. Man erkennt es an der im wissenschaftlichen Streben auftretenden Betätigungsart der menschlichen Seele. Wie sich die Seele verhält, indem sie Wissenschaft sich erarbeitet, darauf hat man zu sehen. Eignet man sich die Gewohnheit an, diese Betätigungsart nur dann ins Werk zu setzen, wenn die Offenbarungen der Sinne in Betracht kommen, dann gerät man leicht auf die Meinung, diese Sinnesoffenbarung sei das Wesentliche. Und man lenkt dann den Blick nicht darauf, dass ein gewisses Verhalten der menschlichen Seele eben nur auf die Sinnesoffenbarung angewendet worden ist. Aber man kann über diese willkürliche Selbstbeschränkung hinauskommen und, abgesehen von dem besonderen Falle der Anwendung, den Charakter der wissenschaftlichen Betätigung ins Auge fassen. Dies liegt zugrunde, wenn hier für die Erkenntnis nichtsinnlicher Weltinhalte als von einer „wissenschaftlichen“ gesprochen wird. An diesen Weltinhalten will sich die menschliche Vorstellungsart so betätigen, wie sie sich im anderen Falle an den naturwissenschaftlichen Weltinhalten betätigt. Geheimwissenschaft will die naturwissenschaftliche Forschungsart und Forschungsgesinnung, die auf ihrem Gebiete sich an den Zusammenhang und Verlauf der sinnlichen Tatsachen hält, von dieser besonderen Anwendung loslösen, aber sie in ihrer denkerischen und sonstigen Eigenart festhalten. Sie will über Nichtsinnliches in derselben Art sprechen, wie die Naturwissenschaft über Sinnliches spricht. Während die Naturwissenschaft im Sinnlichen mit dieser Forschungsart und Denkweise stehenbleibt, will Geheimwissenschaft die seelische Arbeit an der Natur als eine Art Selbsterziehung der Seele betrachten und das Anerzogene auf das nichtsinnliche Gebiet anwenden. Sie will so verfahren, dass sie zwar nicht über die sinnlichen Erscheinungen als solche spricht, aber über die nichtsinnlichen Weltinhalte so, wie der Naturforscher über die sinnenfälligen. Sie hält von dem naturwissenschaftlichen Verfahren die seelische Verfassung innerhalb dieses Verfahrens fest, also gerade das, durch welches Naturerkenntnis Wissenschaft erst wird. Sie darf sich deshalb als Wissenschaft bezeichnen.
Wer über die Bedeutung der Naturwissenschaft im menschlichen Leben Überlegungen anstellt, der wird finden, dass diese Bedeutung nicht erschöpft sein kann mit der Aneignung von Naturerkenntnissen. Denn diese Erkenntnisse können nie und nimmer zu etwas anderem führen als zu einem Erleben desjenigen, was die Menschenseele selbst nicht ist. Nicht in dem lebt das Seelische, was der Mensch an der Natur erkennt, sondern in dem Vorgang des Erkennens. In ihrer Betätigung an der Natur erlebt sich die Seele. Was sie in dieser Betätigung lebensvoll sich erarbeitet, das ist noch etwas anderes als das Wissen über die Natur selbst. Das ist an der Naturerkenntnis erfahrene Selbstentwicklung. Den Gewinn dieser Selbstentwicklung will die Geheimwissenschaft bestätigen auf Gebieten, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. DIE GEHEIMWISSENSCHAFT IM UMRISS
  2. VORREDE ZUR 16. – 20. AUFLAGE [1925]
  3. VORBEMERKUNGEN ZUR 4. AUFLAGE [1913]
  4. VORBEMERKUNGEN ZUR 1. AUFLAGE [1909]
  5. CHARAKTER DER GEHEIMWISSENSCHAFT
  6. WESEN DER MENSCHHEIT
  7. SCHLAF UND TOD
  8. DIE WELTENTWICKLUNG UND DER MENSCH
  9. DIE ERKENNTNIS DER HÖHEREN WELTEN (VON DER EINWEIHUNG ODER INITIATION)
  10. GEGENWART UND ZUKUNFT DER WELT- UND MENSCHHEITS-ENTWICKLUNG
  11. EINZELHEITEN AUS DEM GEBIET DER GEHEIMWISSENSCHAFT
  12. BESONDERE BEMERKUNGEN
  13. Impressum