Oliver Bender
Geopolitik und Bevölkerungsdynamik –
Die Instrumentalisierung der Flüchtlingswelle nach
Europa im Jahr 2015
Zusammenfassung
Geopolitik ist einerseits raumbezogenes strategisches Handeln von Staaten auf der internationalen/globalen Ebene, andererseits die politikwissenschaftliche Analyse dieser politischen Aktionen. In einem ersten Hauptteil werden die Grundlagen der geopolitischen Forschungsrichtung und die Entstehung globaler Geostrategien umrissen. Insbesondere wird danach gefragt, in welchen Formen man Geopolitik betreibt und wie natürliche sowie räumliche Bevölkerungsbewegungen in den geopolitischen Handlungsrahmen einbezogen werden. Der zweite Hauptteil befasst sich mit der Flüchtlingswelle nach Europa im Jahr 2015, speziell ihren Ursachen und Folgen. Schließlich wird auf Basis einer Analyse der Hintergründe der deutschen Flüchtlingspolitik gezeigt, dass die Flüchtlinge entgegen allen öffentlichen Beteuerungen keinen volkswirtschaftlichen Nutzen für ihre Zielländer bieten, sondern von verschiedenen Akteuren rücksichtslos für geopolitische Interessen instrumentalisiert werden.
1 Einleitung: Begriffe
1.1 Bevölkerungsdynamik und Bevölkerungspolitik
Bevölkerungsdynamik ist die Veränderung der Bevölkerung durch natürliche Bewegungen (Geburten – Sterbefälle) und durch räumliche Bewegungen oder Migration (Zuwanderung – Abwanderung). Aus beiden Komponenten ergibt sich, ob die Bevölkerung in einem Gebiet wächst oder schrumpft, wobei allerdings eine wechselseitige Beeinflussung besteht. Es spielt eine große Rolle, welche Bevölkerungsgruppen (hinsichtlich Alter, Geschlecht, Ethnizität/Nationalität, Bildungsstand – das sind die wichtigsten üblicherweise erfassbaren Merkmale) – wandern.
Zahlenmäßig größte Gruppe bei den Wanderungen sind meist junge Erwachsene im Ausbildungs- beziehungsweise frühen Berufsalter. Das ist gleichzeitig in der frühen Phase des generativen Alters, das heißt von solchen Zuwanderern kann erwartet werden, dass sie am neuen Wohnort auch Kinder bekommen.
In der Demographie werden verschiedene Indizes berechnet, mit denen über das zahlenmäßige Verhältnis verschiedener Bevölkerungsgruppen zueinander griffige Aussagen über die Populationsstruktur möglich sind, zum Beispiel die Young-to-old-age dependency ratio. Der ‚Kriegsindex‘ (nach Heinsohn 2014) ist ein ähnliches Maß, in dem die Gruppe der jungen Männer, die auf den Arbeitsmarkt drängen, ins Verhältnis gesetzt wird zur Gruppe der älteren Männer, die im Begriff sind, in Pension zu gehen.
Es ist verständlich, dass die Regierungen von Gebietseinheiten (seien es Länder oder Gemeinden) mittels Bevölkerungspolitiken die Bevölkerungsentwicklung und damit die Bevölkerungsstruktur für ihr Gebiet (in ihrem Sinne positiv) beeinflussen wollen. Mittel dazu können die Kriminalisierung der Geburtenkontrolle, Anreize oder Abschreckungen für zusätzliche Geburten oder für den Zuzug in ihr Territorium sein; eventuell auch die Vertreibung oder Auslöschung von Bevölkerungsgruppen bis hin zum Genozid.
1.2 Geopolitik
Schwierig ist es, den Begriff Geopolitik zu erfassen oder gar zu definieren. Der Begriff wird Rudolf Kjellén (1899) zugeschrieben (Aufsatz ‚Studien über Schwedens politische Grenzen‘) und später von ihm als „Lehre über den Staat als geographischen Organismus oder als Erscheinung im Raum“ definiert (Kjellén 1917, 46). Dahinter steckt wie bei Ratzels (1897) politischer Geographie die Auffassung, Staaten (oder Populationen, Ethnien) als Lebensformen oder Superorganismen anzusehen und sie in einen politischstrategischen Entwicklungszusammenhang zu stellen – wobei „sozialdarwinistische Denkmuster“ den geopolitischen Diskurs seit seiner Entstehung prägen (Werlen 2000, 95). „Die geschichtliche Entwicklung der politischen Lebensformen unterliegt demnach zwar biologischen Naturgesetzen, sie sei aber gerade deshalb nicht vorbestimmt“ (Werber 2014,10).
Diese Aussagen stehen gerade nicht in Einklang mit dem sogenannten Geodeterminismus, der Ratzel reflexhaft immer zugeschrieben wird: „Der Raum ‚an sich‘ bestimmt also nichts, sonst ließen sich die permanenten ‚Umbildungen‘ […] der Staaten bei ‚unveränderlichen Grenzen‘ (etwa bei ‚Inselstaaten‘) überhaupt nicht erklären“ (Werber 1914, 10, nach Ratzel 1903, 210f.).
Der Begriff Geopolitik hat folglich zwei Komponenten: einerseits das raumbezogene politische Agieren von Staaten, vor allem Großmächten – Geopolitik ist in diesem Sinne oft rassistisch, nationalistisch, imperialistisch, bellizistisch und propagandistisch (Werber 2014, 11) – und andererseits die politikwissenschaftliche Analyse dieser politischen Aktionen im Raum (ähnlich wie die politische Geographie als Teildisziplin der Humangeographie die Beziehungen zwischen Macht und Raum untersucht).
Bleibt noch zu fragen, auf welcher räumlichen Maßstabsebene sich das politische Geschehen abspielt, damit es als ‚geopolitisch‘ angesehen werden kann: Man sollte hier primär von einer überregionalen, also außen- bis weltpolitischen Bedeutung ausgehen, auch wenn eine ‚innere‘ Geopolitik die entsprechenden Strategien innenpolitisch fortsetzt oder absichert (siehe Tab. 1; vgl. Lacoste 1990, Oßenbrügge & Scholvin 2013).
1.3 Grenzen
Erfassungsmerkmal jeder räumlichen Bevölkerungsbewegung ist, dass sie über Grenzen hinweg (Gemeinde- oder Staatsgrenzen) erfolgen muss; man könnte auch noch größere Raumeinheiten, etwa politische Territorialverbände, Kulturräume oder Ähnliches betrachten. In einem eher theoretischen Sinne befasst sich dieser Beitrag auch mit rein sozial konstruierten Grenzen, etwa ethisch-moralischen oder (völker-)rechtlichen Handlungsgrenzen, die als Beschränkungen für das politische Handeln fungieren können (vgl. von Arnauld 2014). In zeitlicher Hinsicht wird angedeutet, wie die Überwindung all dieser Grenzen im Zeitalter des Neoliberalismus, der Postdemokratie (Crouch 2003), des Postfaktischen (Keyes 2004) voranschreitet.
2 Geopolitische Konzeptionen
2.1 Wann beginnt die Geopolitik?
Die Geopolitik wird oft als deutsche Erfindung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen (vgl. Lacoste 1990). In dieser Zeit kam es zur Verbindung der politischen mit der akademischen Ebene, die für viele Autoren heute implizit einen Wesensgehalt der Geopolitik ausmacht. Diese Geopolitik hat nach Argumentationslinien gegen den Versailler Vertrag gesucht (ebd.), und sie hat sich in der ‚völkischen Bewegung‘ als Forderung nach ‚Lebensraum im Osten‘ niedergeschlagen. Sie wurde in diesem Sinne als eine anwendungsorientierte akademische Richtung gegen die bis dahin herrschende Politische Geographie aufgebaut. Ihr wichtigster Vertreter war Karl Haushofer, der mit seiner Selbsttötung 1946 dann diese deutsche Richtung der Geopolitik gleichsam liquidierte.
Daneben hat sich eine französische und vor allem eine angloamerikanische Linie der Geopolitik herausgebildet, welche sich als strategische Politikberatung darstellt. Deren Klassiker Alfred T. Mahan entwarf auf Basis historischer Analysen den USA Geostrategien für eine Seemacht. Von Halford Mackinder stammt die Idee, dass eine eurasische Großmacht die Welt beherrschen könnte, wenn sie sich bis an die Küsten dieser größten ‚Weltinsel‘ ausdehnte:
„Who rules East Europe commands the Heartland. Who rules the Heartland commands the World-Island. Who rules the World-Island commands the World“ (Mackinder 1919, 194).
Als Great Game (Kipling 1901, 384, nach dem Geheimdienstoffizier Arthur Conolly) wurde der historische Konflikt zwischen Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien bezeichnet; er dauerte bis zum britischen Rückzug aus Indien 1947. Mackinder empfahl den Verhandlern von Versailles einen cordon sanitaire zwischen Deutschland und Russland (Ammon 2009).
Nicholas Spykman entwickelte diese Ideen während des Zweiten Weltkriegs fort, indem nicht das eurasische Heartland, sondern seine Randgebiete die kritische Zone bildeten: „Who controls the Rimland rules Eurasia, who rules Eurasia controls the destiny of the world“ (Spykman 1944, 6). Spykmans Strategieempfehlung ist bis in die heutige Zeit wirkungsmächtig (Hoffmann 2012, 37). Auf dem eurasischen Schachbrett haben die USA demnach aktiv mitzuspielen und ihren Einfluss so einzusetzen, „dass ein stabiles kontinentales Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten als Schiedsrichter entsteht“ (Brzeziński 1997, 16).
Wenn man Geopolitik von der akademischen Komponente befreit, reichen ihre Wurzeln allerdings bis zu antiken Großmachtbestrebungen und zu entsprechender klassisch-antiker Literatur bei Herodot oder Polybios zurück (vgl. Grabowsky 1933, 21, Maull 1936, 1; weitere Nachweise bei Werber 2014, 28). So gesehen sind die antiken Großreiche, die neuzeitlichen Kolonialreiche, Russland/Sowjetunion und die USA das Ergebnis einer expansorischen Geopolitik ihrer Herrscher beziehungsweise Staatsgebilde.
2.2 Wie und in welchen Formen wird Geopolitik betrieben?
In Tabelle 1 werden Formen oder Felder der Geopolitik dargestellt, die sich demnach auf Grenzen, Territorien und Staatsverbände, Ideologien und Geoökonomien beziehen. Es fehlt allerdings die Komponente der Steuerung von ‚Bevölkerungsdynamiken‘, sowohl im innen- wie außenpolitischen Handeln. Dabei haben sich aus deutscher Sicht Geopolitik und Bevölkerung am augenfälligsten in der ‚Blut und Boden‘-Politik des Dritten Reiches verbunden, mit der Eroberung fremden Lebensraumes aus ‚Raumnot‘, Genozid und Neukolonisierung (vgl. Grundmann 2004, 321). Das Scheitern dieser Politik wie deren Menschen- und Völkerrechtswidrigkeit haben dann offenbar dazu beigetragen, beide Komponenten – Geopolitik und Bevö...