Erzähl mir ein Märchen
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Erzähl mir ein Märchen

Vom Ursprung und Wesen des Volksmärchens

  1. 228 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Erzähl mir ein Märchen

Vom Ursprung und Wesen des Volksmärchens

Über dieses Buch

"Im Märchen wird Großes und Bedeutendes so schlicht erzählt, dass uns die Dimensionen, die es eröffnet, gar nicht auffallen."Das Buch erläutert, woher die Märchen kommen und was sie uns heute noch zu sagen haben.

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Information

DEUTUNGEN

SPINDEL, WEBERSCHIFFCHEN UND NADEL Grimm 188

Das Märchen beginnt traurig. Einem Mädchen sterben Vater und Mutter. Eine Patin, die in einem Häuschen am Ende des Dorfes wohnt, nimmt es auf. Einsamkeit und Armut begleiten die frühen Jahre dieses Mädchens. Die Patin ernährt sich von Spinnen, Weben und Nähen. Das Haus ist ihr Werkstatt und Lebensraum. Fleiß und Geschicklichkeit zeichneten diesen Haushalt aus. Als das Mädchen fünfzehn Jahre alt ist, stirbt auch die Patin, die ihm das Haus und drei Arbeitsgeräte hinterlässt, Spindel, Weberschiffchen und Nadel. Sein Fleiß aber ermöglicht es, dass es seinen Lebensunterhalt bestreiten und sogar anderen noch etwas mitteilen (schenken) kann. Ja, Armut ist ein großer Glanz von innen, hat Rilke einmal treffend gesagt. Dieser Haushalt bestätigt das. In dem Dorf, von dem das Märchen erzählt, lebt aber noch ein Mädchen. Dieses Mädchen ist reich und sitzt in vollem Putz vor ihrer Haustüre. Es arbeitet nicht, aber es hört und sieht alles, was sich im Dorfe tagsüber abspielt.

Der Königssohn

Einmal kommt ein Königssohn, hoch zu Ross, in dieses Dorf. Wer ist dieser Königssohn und was will er? Er sucht eine Braut und sie soll die Ärmste und die Reichste zugleich sein. Polaritäten sind Aspekte, die wie Yin und Yang, Tag und Nacht, aktiv und passiv, kalt und warm eine Einheit bilden. Sie sind Ausgangspositionen der Lebensprozesse. In den Dörfern, durch die er bisher kam, zeigte man ihm die Reichste und die Ärmste, aber keine, die beide Qualitäten zugleich aufwies.
In diesem Dorf sitzt das reiche Mädchen in vollem Putz vor ihrer Haustüre. Als er sich seinem Haus nähert, erhebt es sich, geht ihm entgegen und verneigt sich höflich. Er sieht es an, spricht kein Wort und begibt sich zum Haus des armen Mädchens. Das kommt ihm nicht entgegen. Es sitzt am Spinnrad und spinnt. Es nimmt wahr, dass er es anblickt, und spinnt weiter, ohne ihn zu begrüßen. …als es bemerkte, dass der Königssohn hereinschaute, ward es über und über rot, schlug die Augen nieder und spann weiter; …. Sein Erröten lässt darauf schließen, dass sich Gefühle in ihm regen. Sind es Verlegenheit, Bescheidenheit oder etwas, wovon es manchmal träumt? Als er wegreitet, öffnet es das Fenster, um sich abzukühlen, und blickt ihm nach, solange sie die weißen Federn auf seinem Hut erkennen konnte. Sein Blick ruft bei beiden Mädchen Reaktionen hervor; das eine nähert sich und verneigt sich, die andere scheint ihn nicht zu bemerken, als er es durch das Fenster anblickt: Er...sah durch das Fenster, durch das die helle Sonne schien, das Mädchen am Spinnrad sitzen und emsig spinnen …. Das Licht der Sonne umgibt ihn mit einem strahlenden Glanz. Er schweigt, bleibt zurückhaltend und reitet weiter. Er wartet offensichtlich darauf, dass sein Blick wie die ersten Strahlen der Frühjahrssonne den Keim zum Sprießen anregen. Der Königssohn ist ein Bild für die Kraft der Liebe unseres höheren Ich.

Die Reiche

Wer ist die Reiche, wo können wir sie in uns finden? Sie sitzt vor dem Haus und überblickt alles um sich herum. Sie wird reich beschenkt von der Fülle und Lieblichkeit der sie umgebenden Natur, dem Gesang der Vögel, dem Glanz der Sterne, dem Duft der Rosen, dem Geschmack der Früchte des Gartens. Das Haus ist das Bild für unsere physische Natur, unsere Körperlichkeit. Die Reiche ist der Teil in uns, der alle Sinne umfasst. Mit diesen Sinnen wenden wir uns nach außen, der Welt zu. Auch wir sitzen „vor dem Haus“. Reich ist, wer diese Sinne so schult und verfeinert, dass sie die Welt, ihre Schönheiten und Qualitäten erfassen können. Farbensinn, Musikalität, Rhythmus und Bewegung führen uns in die Welt der Künste. Da kann es schon passieren, dass man dem Königssohn entgegengeht.

Die Arme

Wer ist die Arme, wo können wir sie in uns finden? Sie ist verwaist und wohnt in einem bescheidenen Häuschen. Von Hesiod ausgehend ist damit klar, dass wir die Geschichte in einer Zeit, lange nach jener, die wir das Paradies nennen, ansetzen können. Wir befinden uns im erzenen Zeitalter (s. Kapitel: Hesiod und sein Lehrgedicht). Die Verbindungen zum alten Wissen der Ahnen bestehen nicht mehr, die Menschenseele ist arm geworden und - von den „guten Geistern“ (Vater, Mutter, Patin) verlassen - zur Selbstständigkeit aufgefordert. Wie wir sehen, kann diese Selbstständigkeit zu Reichtum führen. Aber was ist das für ein Reichtum? Er ist nicht auf den ersten Blick hin sichtbar.
…. wenn sie ein Stück Tuch oder einen Teppich gewebt oder ein Hemd genäht hatte, so fand sich gleich ein Käufer…. sodass sie keine Not empfand und anderen noch etwas mitteilen konnte.
Ein langer mühsamer Weg über Fleiß, Konzentration, Opferbereitschaft, wie es im Märchen heißt und zu guter Letzt Geistesgegenwart ist nötig, um diesen Reichtum sichtbar zu machen. Sehen wir uns das genauer an!
Spinnen ist eine Tätigkeit, bei der es darum geht, aus einem Ballen Wolle in einer Drehbewegung einen festen Faden herzustellen, also eine Verdichtung der Wolle zu erreichen. Diese Arbeit verlangt Geschicklichkeit und Konzentration, denn als das Mädchen vom hereinblickenden Königssohn abgelenkt wird, heißt es im Märchen …ob der Faden diesmal ganz gleich ward, weiß ich nicht… Im Sprachgebrauch verbinden wir das Spinnen mit dem Denken, wir sagen „Gedankenfäden spinnen“, „du spinnst“ oder „ich habe den Faden verloren“. Das Bild des spinnenden Mädchens im Märchen weist auf die Ausbildung seines Denkens hin. Dieses Denken kann zur Weisheit führen und darüber hinaus zu dem, was der Königssohn im Märchen symbolisiert, zum Höheren Ich und zur Erinnerung an die paradiesische Welt, wie uns das Märchen im weiteren Verlauf zeigt. Voraussetzung dafür aber ist, dass das Mädchen vom Blick des Königssohnes berührt wird, dass es ihm nachblickt und ihm das „rechte Wort“, ein Spruch (von drei Sprüchen) der alten Patin, in den Sinn kommt: Spindel, Spindel, geh du aus, bring den Freier in mein Haus. Es lässt die Spindel los, ein goldener Faden stellt die Verbindung zum Königssohn her. Sein Denken steigert sich zu einem meditativen, inspirierten.
Das Mädchen nimmt das Weberschiffchen und hat gleich den zweiten Spruch der Patin bereit, der dieses Werkzeug veranlasst, einen Teppich vor der Türe zu weben: Schiffchen, Schiffchen, webe fein, führ den Freier mir herein. Den Wellen gleich, die sich auf einer Wasseroberfläche bilden, bewegt es sich auf und ab, es ist eben ein „Schiffchen“. Das Wasser ist im Märchen mit dem Fühlen, dem Auf- und Abwogen der Gefühle, in denen wir auch versinken können, verbunden. Um alles Lebendige gedeihen zu lassen, muss sich das Denken mit dem Fühlen verbinden. Der Teppich, der da entsteht, zeigt blühende Rosen und Lilien, …und in der Mitte auf goldenem Grund stiegen grüne Ranken herauf, darin sprangen Hasen und Kaninchen: Hirsche und Rehe streckten die Köpfe dazwischen: oben in den Zweigen saßen bunte Vögel; es fehlte nichts, als dass sie gesungen hätten… Dieser Teppich lässt uns dankbar und staunend auf die Schöpfung blicken. Dieses Erleben stellt das heutige Menschenbild, welches das Herz mit einer Kreislaufpumpe, das Gehirn mit einem Computer vergleicht, in Frage. Aus dem Erkennen der Dynamik der Kräfte, die allem Lebendigen innewohnen, erwachsen Ehrfurcht und Respekt vor der Natur. Wir sprechen ja auch davon, unseren Lebensteppich zu weben. Leben und Weben ergeben einen Reim.
Nicht nur das Weberschiffchen wird aktiv, sondern auch die stählerne Nadel, spitz und fein, die in der Stube umhersaust wie der Blitz und den armseligen Raum in ein königliches Gemach verwandelt, indem sie ihn mit kostbaren Vorhängen ausstattet und die Möbel mit Samt überzieht. Hier verbindet sich der eiserne Wille, im Bild der Nadel, mit dem Denken und Fühlen. Der goldene Faden führt hinaus aus der engen Stube, der Teppich wird vor der Haustüre gewebt, die Nadel verwandelt die kleine Stube in einen großen prächtigen Raum. Diese Bilderfolge zeigt uns Schritte zur Vollkommenheit, zu einem wachen, erweiterten Bewusstsein, dass das niedere und höhere Ich zusammenführt. Es weist uns den Weg zum Königssohn und dem Königssohn den Weg zu unserem niederen Ich. Frömmigkeit, Dankbarkeit und Hingabe sind besondere Qualitäten des armen Mädchens. Es entwickelt darüber hinaus im Denken (Spinnen) die Liebe zur Wahrheit, die Liebe zum Schöpferischen (Weben) das die Welt durchwebt, die Liebe zu allem Lebendigen, die ihr Handeln und Wirken bestimmt (Nähen). Denken, Fühlen und Wollen, verbunden mit den Kräften des Herzens, der Hingabe an die Welt, führen zum Ziel. Die Welt des Geistes kann sich nun mit dem Menschen vereinen…. Es war nicht anders, als wenn unsichtbare Geister arbeiteten....
Nachdem der Königssohn das Dorf verlassen hat, holt ihn die Spindel ein, an welcher der goldene Faden hängt. Er erkennt, dass ihm die Spindel den Weg weisen will und folgt dem Faden. Als er beim Haus ankommt, macht die Nadel in der Stube den letzten Stich. Er schreitet über den flachen, zweidimensionalen Teppich in den dreidimensionalen Raum. Die Ankunft des Königssohns ermöglicht, dass das Mädchen in Harmonie mit Materie, Lebenskräften und geistigen Energien leben kann. Der Weg dahin geht im Märchen schnell, für den Menschen ist es ein langer.
Abgesehen vom Fleiß braucht das arme Mädchen Geistesgegenwart. Diese Wachheit für den Augenblick ist bezeichnend für die Helden und Heldinnen im Märchen, die den Weg zur Vollendung mit einer königlichen Hochzeit beschließen. Es fällt ihnen das rechte Wort im rechten Augenblick ein und hält das Geschehen in Gang.
Der Königssohn erkennt das arme Mädchen als dasjenige, das arm und reich zugleich ist. Es hat sein Denken geschult, es mit Herzkräften und eisernem Willen gestärkt, sodass Reichtum in ihm gewachsen ist. Nur dieses Mädchen konnte ihm den Weg weisen und seine Braut werden.
Wir tragen natürlich beide Mädchen in uns, weil wir einerseits mit den Sinnen, andererseits mit dem Denken verbunden sind, die zwei Seiten unserer Existenz darstellen. Voraussetzung für klares Denken sind auch eine gute Beobachtungsgabe und genaues Hinsehen und Hinhören. Der Königssohn, Bild des höheren Ich, findet durch den Denkfaden den richtigen Weg ins Leben. Der Fleiß des Mädchens, seine Fürsorge erwirken die Verwandlung seiner Lebensumstände wie von selbst. Es ist erfüllt von Ehrfurcht gegenüber den Ordnungen des Lebens. Es läuft der davonspringenden Spule nicht nach, es lässt Schiffchen und Nadel gewähren und wartet geduldig, was die Zukunft bringen möge.
Als der Königssohn über den Teppich in das Haus tritt, sieht er das Mädchen in seinem ärmlichen Kleid, … aber es glühte darin wie eine Rose im Busch. Der Innenraum weitet sich und umfasst die ganze Welt. Das Innere wird zum Äußeren, es stülpt sich um, manifestiert sich in der Welt als ein Neues. Es entpuppt sich gleich der Raupe, die sich in eine enge Kammer einspinnt, um zum Schmetterling zu werden. In dem Mädchen verwirklicht sich, was die Patin in ihm angelegt hat. Der Königssohn und das Mädchen heiraten, das bedeutet Vollendung. Spindel, Weberschiffchen und Nadel aber werden in der Schatzkammer aufbewahrt und in allen Ehren gehalten. Frömmigkeit, Dankbarkeit und Hingabe haben den inneren Reichtum des armen Mädchens sichtbar gemacht, einen Reichtum, den wir alle in uns tragen.

ASCHENPUTTEL Grimm 21

Wie kein anderes Märchen schildert uns dieses in einer verschlüsselten Sprache den Weg des verantwortungsvollen, zukünftigen Menschen, einen Weg, der Höhen und Tiefen vereint, Weisheit und Wissen verbindet, das Gute vom Schlechten trennt. Voraussetzung dafür sind ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Erkenntnis und die Bereitschaft, Wille, Gefühl, Verstand und Denken zu schulen. Wie wird uns das durch das Märchen vermittelt?
Aschenputtel ist die Tochter eines Kaufmanns. Dieser muss, um seinen Reichtum zu erhalten, im Gegensatz zu einem König arbeiten und umsichtig mit seinem Hab und Gut umgehen. Aschenputtels Mutter stirbt und hinterlässt ihm als Vermächtnis, gut und fromm zu bleiben. Der Schmerz Aschenputtels ist groß und in seiner Not pflegt es die Erinnerung an seine Mutter, indem es drei Mal täglich ihr Grab besucht und betet. Der Vater nimmt sich eine neue Frau, die zwei Töchter mit in die Ehe bringt. Nun beginnt eine schwere Zeit für das Mädchen. ..Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe... Sie lassen es alle Arbeit tun und am Herd in der Asche schlafen.

Die Höhen und die Tiefen

Märchen spielen im Königreich der Seele. Sie personifizieren innere Qualitäten und Kräfte. Der Vater ist aber kein weiser König in diesem Reich, er ist ein tüchtiger, mit Intelligenz begabter Bürger, der Teil in uns, den wir mit dem Intellekt in Verbindung setzen können. Seine erste Frau, die die Aufgabe gehabt hat, seine spirituelle Seite zum Klingen zu bringen, stirbt. Wir befinden uns an jenem Punkt der Menschheitsgeschichte, wo diese weiblichen Kräfte sich zurückziehen oder zurückgedrängt werden und die Verstandeskultur den Menschen ergreift.
In zweiter Ehe hat er nun eine Partnerin an seiner Seite, die dem Stoff, dem Materiellen mehr verbunden ist als der ihm unbewusst gewordenen geistigen Welt. Geblieben ist aber die Tochter dieser ersten Verbindung. Sie übernimmt das Erbe ihrer Mutter. Ihre Aufgabe ist es, einen Weg zu suchen, diese allzu einseitig irdisch gewordene Verbindung ins Gleichgewicht zu bringen. Diese Suche wird von der neuen Frau des Kaufmanns erschwert und fast unmöglich gemacht. Als Stiefmutter Aschenputtels, das die Kraft der Seele darstellt, ist sie als Gegenspielerin der Materie verbunden, aus der sich der Leib entwickelt. Dieser aber kann mit Hilfe des Verstandes nur das erfassen, was mit Sinnen wahrnehmbar ist.
Aschenputtel steht in Beziehung zu beiden Müttern, jener im Himmel und der auf der Erde. Sie untersteht den Gesetzen beider Welten, der irdischen und der geistigen. Die Stiefmutter und deren schöne Töchter hingegen unterstehen nur den Gesetzen der Erde. Bezeichnend dafür ist, dass sich die Stiefschwestern vom Vater Perlen und Edelsteine, Samt und Seide wünschen, das Härteste und das Weichste, was die Welt an Materie zu bieten hat. Beiden fehlt im Gegensatz zu Aschenputtel der Zugang zur geistigen Welt, ebenso der Stiefmutter. Sie rät der einen Tochter, sich die Ferse, der anderen, sich die Zehe abzuschneiden, um in den goldenen Schuh zu passen und Königin zu werden.
Charakterisiert man aus den knappen Angaben des Märchens die Schwestern genauer, so könnte das so aussehen: Die eine ist geizig, verlogen, gefühlskalt, feige und strebt unersättlich nach Macht und Besitz, sie tritt mit den Fersen fest auf. Die andere ist verschwenderisch, hochmütig, eitel und neigt zur Sucht, sie erhebt sich gerne auf ihre Zehenspitzen. Bei der einen ist die Ferse, bei der anderen die Zehe zu groß, der goldene Schuh kann beiden nicht passen.
Diese Schwestern und ihre Mutter personifizieren ein einseitiges, egoistisches Streben nach irdischem Glück und irdischer Macht. Das Ziel, den Tanz mit dem Königssohn, erreichen wir aber nur, wenn wir den Weg der Mitte finden. So paradox das klingt, aber die Stiefmutter und deren Töchter machen, ohne es zu wollen, genau...

Inhaltsverzeichnis

  1. Widmung
  2. Motto
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Vorwort
  5. Mein Leben mit Märchen
  6. Erzähl mir ein Märchen
  7. Das Volksmärchen
  8. Der Mythos
  9. Märchenbilder und der Weg zur Deutung
  10. Anhang
  11. Deutungen
  12. Literaturliste
  13. Impressum